Tichys Einblick
Gegenrede

Unnötige Gefährder-Debatte: Supergau für den Wert „Familie“

Die Frage des Familiennachzugs für Gefährder ist doch eine Scheindebatte wie die um das Verbot der höchst seltenen Ganzkörperverschleierung. Ein Ablenkungsmanöver wie jenes, um den Familiennachzug für subsidiär Geschützte: tausend pro Monat, während über andere Wege zehntausende weiter ungehindert einreisen können.

© Adam Berry/Getty Images

Ich bin anderer Meinung als Roland Tichy. Konkret geht es um die Debatte um Gefährder und Familiennachzug. Um Recht, die Einhaltung von Recht und den Bruch des Rechtes. Roland Tichy kritisiert, dass nun auch Gefährder die Familie nachziehen lassen dürfen: „ Es sind, so oder so, liebe junge Leute, die da kommen, schutzwürdig, sie brauchen unsere Hilfe und ganz viel Liebe. (Behaupten nicht die Kommenden, sondern die Willkommenden). Viele von ihnen haben in Syrien gelernt zu töten, zu vergewaltigen, zu vernichten; viele wollen/können sich in Deutschland nicht ändern.“

Und ausgerechnet hier muss ich der Justizministerin das Wort reden, denn Initial zur Debatte war ein Kabinettsbeschluss. Der allerdings sieht keineswegs vor, was Tichy befürchtet: Katarina Barley soll sich lediglich dafür eingesetzt haben, „dass auch „geläuterte“ Gefährder unter den Flüchtlingen mit subsidiärem Schutz das Recht auf Familiennachzug bekommen sollen – zumindest in Ausnahmefällen.“ Die entsprechende Vorlage hat das Kabinett bereits beschlossen. Klar, auch hier kann man einen Versuchsballon für noch viel mehr Zuwanderer befürchten, aber es bliebe zunächst bei der Behauptung.

Dazu gleich mehr. Interessant zunächst aber, dass Roland Tichy ein wichtiges Argument gegen diesen neuerlichen Vorstoß zum Familiennachzug nicht würdigt: Gefährder wurden nämlich im Koalitionsvertrag ausdrücklich vom Familiennachzug ausgenommen. Warum diese Übereinkunft nun nicht mehr gilt, dazu war bisher weder von SPD noch Union etwas zu hören.

Aber worüber wird hier eigentlich debattiert? Die Frage des Familiennachzugs für Gefährder ist doch eine Scheindebatte wie die um das Verbot der höchst seltenen Ganzkörperverschleierung. Ein Ablenkungsmanöver wie jenes, um den Familiennachzug für subsidiär Geschützte: tausend pro Monat, während über andere Wege zehntausende weiter ungehindert einreisen können.

Gibt es auch ein Recht für Gefährdete?
Fünf Irrtümer im Asylrecht
Frage also: Wie viele Gefährder sind es konkret, die Abkehr und Reue geltend machen um dann ggf. irgendwann ihre Familie nachkommen lassen könnten? Stützend auf die Zahlen im Text von Roland Tichy wären das ein Viertel von (bis zu) 1.560 Personen. Also 390 Gefährder. Wohl gemerkt, nicht reuige, sondern erst einmal nur Gefährder. Die Klientel, die es also betrifft, ist mutmaßlich noch um ein Vielfaches geringer, als es die geringe Zahl jener Frauen ist, die sich aktuell in Deutschland komplett verschleiern. Handelt es sich um nur einen Gefährder oder sind es zehn, die letztlich in die engere Wahl kämen? Und wie viele der bis zu 1.560 Gefährder leben längst mit Familien hier? Oder sind alle alleine gekommen?

Bei einem bis zehn Gefährdern, die es also betreffen könnte, lassen wir uns ohne jede Not auf eine Debatte ein, die ganz wie nebenbei einen elementaren Wesenkern eines konservativen Selbstverständnisses berührt: Es geht um die Familie! Familienorientiertes Denken aber wäre keines mehr, wenn es einen Unterschied machen würde zwischen Nationalitäten oder gar Religionszugehörigkeiten.

Schärfer formuliert: Wenn beispielsweise das linke Zukunftsforum Familie (ZFF) fordert: „Wir sprechen uns für ein Recht auf Familie für alle Geflüchtete aus, ohne Wenn und Aber!“, dann müsste hier – dem Prinzip nach – auch aus dem konservativen, also familienfreundlichen Blickwinkel der Einheimischen zugestimmt werden. Jedenfalls in Konsequenz, wenn der Staat nicht in der Lage oder nicht Willens ist, Zuwanderung effektiv zu begrenzen, also Abschiebungen nicht Aufenthaltsberechtigter durchzuführen. Überraschender Nebeneffekt übrigens: Die Idee der klassischen Familie hält auf einmal wieder Einzug bei Menschen, die sich zwar vehement für Flüchtlinge bzw. Zuwanderer und ihre Rechte einsetzen, aber bisher eher verächtlich auf diese traditionellen deutschen Familienbande geschaut haben.

Deutlich kniffliger dürfte es werden, wenn diese uneingeschränkten Nachzugsforderungen Step für Step noch erweitert werden: Dahingehend, wenn beispielsweise moderne Patchwork- und gleichgeschlechtliche Familien als Idee hinzukommen – jedenfalls als Anreiz, wie man vielleicht weitere Verwandte nachziehen lassen könnte. Mit dem dafür nötigen Sarkasmus darf man annehmen, dass das auf den zuständigen Ämtern für einige Heiterkeit im Bereich der Belegpflicht sorgen dürfte.

Roland Tichy beschreibt Irrtümer im Asylrecht. Ein Irrtum sei der Familiennachzug für Gefährder. Den allerdings gibt das Asylrecht überhaupt nicht her. Gefährder bräuchten keine Familie. Aber was soll so ein Satz bedeuten? Nichts. Natürlich ist Familie der Wesenskern des menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Wenn wir hingegen schreiben, Deutschland braucht keine Gefährder, dann wird doch erst ein Schuh daraus.

Noch ein Irrtum im Asylrecht ist für Roland Tichy der Faktor Geld: „Kosten dürfen keine Rolle spielen.“, zitiert er. Das „Recht“ stehe über allem. Und Tichy beschwert sich darüber, dass wir Familiennachzug auch noch per Flugzeug und auf Kosten des Steuerzahlers organisieren würden. Aber das stimmt nicht. Denn nach den sozialhilferechtlichen Bestimmungen hat der Asylberechtigte für die Flugkosten seiner Angehörigen aufzukommen. Diese Summe muss erst einmal angespart oder sonst wie organisiert werden. Eine NGO schreibt dazu: „selbst Flüchtlingshilfe-Organisationen geben meistens, wenn überhaupt, nur einen geringen Zuschuss zu den Gesamtkosten.“

Nein, die „genehmigten“ Familienangehörigen müssen, wenn sie beispielsweise noch in Syrien sind, zunächst einmal pro Person und vor Ort 400 Dollar für Papiere bezahlen. Dann müssen sie, weil es keine deutsche Botschaft mehr in Syrien gibt, nach Jordanien, Türkei oder in den Irak reisen, um dort bei der deutschen Botschaft überhaupt erst den Antrag stellen zu können. Anschließend kommen die Aufenthaltskosten am fremden Ort dazu, bis die Reisegenehmigung erteilt wird. Zuletzt müssen obendrauf noch die Flüge bezahlt werden. Hier kann sich doch jeder in etwa ausrechnen, welche Summen da zusammen kommen, für die der anerkannte Asylbewerber von seiner Familie dann in die Pflicht genommen wird. Wie kommt der nun an das Geld? Die „Mülheimer Initiativgruppe für Rat und Unterstützung von Asylsuchenden“ beispielsweise weiß, wie oben schon erwähnt, dass Flüchtlingshilfe-Organisationen hier – trotz üppiger staatlicher Förderung – überraschend knauserig sind.

Auch deshalb ziehe ich dieses Mal ein anderes Fazit als Roland Tichy. Es kann nur so gehen: Bei allen Tendenzen zur Individualisierung in einer globalisierten wie digitalen Gesellschaft, erlebt die Familie als sinnstiftende Lebensform erstaunliche Zuwachsraten. „Für 80 bis 90 % der jungen Menschen ist Familie wichtig bis sehr wichtig. Ebenso viele wollen selbst eine Familie gründen, d.h. sie wollen auf Dauer mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenleben.“ Eine kraftvolle Gegenbewegung. Und ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass die Familie nach wie vor im Zentrum unseres Wertekanons steht. Übrigens ein Wert, der die größte Nähe und Kompatibilität aufweist mit den Werten jener, die hier aus welchen Gründen auch immer stranden. Diesen Wert zu einem exklusiv deutschen zu machen, wäre der Supergau unseres Wertesystems. Warum auch, es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, hier wegen einem oder zehn mutmaßlich reuigen oder mutmaßlich Reue heuchelnden Gefährdern an die Schatulle zu gehen. Wir erinnern uns: Anerkannte Asylbewerber dürfen ihre Familien nach Asylrecht sowieso nachziehen lassen.

Das Gebot der Stunde ist deshalb ein eindeutiges. Die wichtigste Stoßrichtung aller parlamentarischen Bemühungen kann in der Sache nur eine sein: viel konsequenter Abschiebungen durchsetzen, wo sie möglich sind. Unschöne Bilder dabei in Kauf nehmen. Sie entstehen ja in der mutmaßlichen Abwehr der Maßnahme und nicht aus der Maßnahme selbst heraus. Klageverfahren gegen abgelehnte Asylanträge deutlich erschweren oder verkürzen. Neue stringentere Rechtslagen schaffen. Und wenn das Parlament an diesen Aufgaben scheitert, dann müssen eben außerparlamentarischen Kräfte den 709 Abgeordneten mit allen zur Verfügung stehenden legalen Mitteln auf die Sprünge helfen. Es kann nur so funktionieren. Und die Leitmedien müssen hier deutlich eingehegt werden, wenn sie den Versuch unternehmen, außerparlamentarisches Engagement zu torpedieren.

Aber die maßgeblichen Zeitungen lernen – viel zu langsam noch – mittlerweile auch dazu. Lernen, wieder ihre Aufgabe als Vierte Gewalt im Staat wahrzunehmen. Ein Journalist der so genannten Leitmedien antwortete neulich per Email auf die gleiche Frage:

„Ich verstehe jede Maßnahme, die verhindern soll, dass Leute hierher kommen:
Abkommen mit der Türkei, Auffanglager in Libyen, Stärkung von Frontex,
Zahlungen an Italien und Griechenland. Aber – wenn sie einmal da sind, dann können wir sie nicht mit Schlagstöcken rausprügeln. Erstens halten wir das nicht aus. Zweitens haben wir dafür – glücklicherweise – nicht genug Schlagstöcke. Alles andere ist einfach gelogen. Kann man machen – ist halt nicht ehrlich.
Andererseits: wer sagt, dass Politik ehrlich ist?“

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

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