Deniz Yücel ist frei und zurück in Deutschland. Ein paar Wochen Erholung, vielleicht ein paar Monate Schonfrist, dann wird es Zeit, neu auszuloten, was Satire darf und vor allem: Was an Yücel Texten tatsächlich satirisch gemeint ist und was nicht. Noch freut sich sein Arbeitgeber, die Welt, aber in Zukunft wird man es aller Voraussicht nach verdammt schwer haben mit dem jetzt prominentesten Angestellten. Welcher Chef vom Dienst oder sogar welcher Chefredakteur wird es wagen, den Rotstift anzusetzen, wenn ein Yücel-Text zu sehr über das Ziel hinaus schießt oder gar die Leitlinien des Blattes selbst verletzt?
Yücel lektorieren wird unmöglich geworden sein, will man sich keine „Zensur!“ vorwerfen lassen müssen. Eigentlich ein Traum für jeden Redakteur. Wer die Hackordnungen und Grabenkämpfe kennt, weiß, Redaktionen können ein asozialer wie unehrlicher Ort der Verschlagenheit, der Hinterlist, des Lobbyismus sein. Sich davon befreit zu haben: muss herrlich sein. Yücel hat sein Willkommensgeschenk also schon bekommen, Blumen und Pralinen sind überflüssig.
Nun ist Yücel als in Deutschland geborener Sohn türkischer Arbeitsmigranten Teil der türkischen bzw. türkischstämmigen Community in Deutschland. Da stellt sich die Frage: Wie schauen eigentlich die in der Community auf Deniz Yücel? Auf den politischen Journalisten, der anders als beispielsweise der erfolgreiche Deutschtürke (Türkdeutsche) und Filmemacher Fatih Akin offener, regelmäßiger und härter mit diesem Deutschland ins Gericht geht? Was sagen die Türken in Deutschland über Yücel? Kurz nach seiner Festnahme Anfang 2017 wollte auch Yücels Arbeitgeber Welt wissen, ob dort Solidarität abzuholen ist und berichtete Ernüchterndes: „Von Desinteresse bis zur Beschimpfung: Die ürkisch-deutsche Community zeigt im Netz kaum Solidarität mit Inhaftierten in der Türkei. Viele verunglimpfen kritische Journalisten sogar. (…) Auf den Seiten der Gemeinschaften und Vereine, an den Stammtischen sind die Zeichen der Verbundenheit mit Deniz Yücel – gelinde gesagt – überschaubar. “
Aber was hatte die Zeitung Welt erwartet? Türken, die hier zu Hause sind, wählten mehrheitlich Erdogan. Tatsächlich haben in Deutschland „63,1 Prozent der Türken, die an der Abstimmung teilgenommen haben, mit Ja gestimmt – also für ein autoritäres Präsidialsystem, das Recep Tayyip Erdogan noch mehr Macht gibt. In der Türkei waren es 51,4 Prozent.“ Und nicht zu vergessen: Von den hier lebenden Türken haben über die Hälfte keine deutsche Staatsbürgerschaft. Tatsächlich sind also mehr in der Community in der Türkei wahlberechtigt als hier. 15-17 Prozent sind übrigens Kurden.
Das sagt selbstverständlich auch viel über die deutsch-türkischen Verhältnisse aus. Welche Natter säugt man da an seinem Busen?, könnte man böse fragen, bedenkt man, das Erdogan selbst es war, der „seine Türken“ in Deutschland bereits als Drohkulisse gegen deutsche Außenpolitik in Spiel gebracht hatte und zudem den in Deutschland wahlberechtigte Türken diktieren wollte, wen sie bei der deutschen Bundestagswahl nicht zu wählen hätten: „Die Deutsch-Türken sollten am 24. September für Parteien stimmen, die die aktuelle anti-türkische Politik nicht mittragen.“
Aktuell dürfte Solidarität mit der Türkei, mit Erdogan und den Erdogan-freundlichen Deutschtürken noch schwieriger geworden sein, als zuvor sowieso schon: Der Spiegel berichtet heute exklusiv von möglichen Giftgasangriffen auf die syrische Kurdenenklave Afrin: „Die Türkei kämpft in Nordsyrien mit arabischen Verbündeten gegen die kurdische Miliz YPG. Nun soll die türkischen Armee die Kurdenenklave Afrin mit Giftgas angegriffen haben.“ Bereits in der vergangenen Woche hatte der Uno-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura, von mutmaßlichen Giftgasangriffen in Afrin berichtet. Nun weiß man aus leidvoller Erfahrung, dass die Anschuldigung, Giftgas benutzt zu haben, zu den stärksten propagandistischen Waffe moderner krigerischer Auseinandersetzungen gehört, hier ist also Vorsicht angebracht, hier besteht Aufklärungsbedarf.
Keiner Aufklärung bedarf es, um den türkischen Einmarsch auf syrisches Staatsgebiet zu verurteilen. Lediglich genauer zu beobachten ist, inwieweit es hier neben den militärischen Angriffen auch zu ethnischen Säuberungen kommt. Letztlich bekämpfen sich hier zwei Nato-Partner auf syrischem Hoheitsgebiet. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen die kurdische YPG-Miliz im Kampf gegen den islamischen Staat. Und die Türkei betrachtet „die YPG als terroristische Gruppierung und will deren Erstarken an der Grenze verhindern, damit sie nicht der kurdischen Autonomiebewegung in der Türkei Auftrieb gibt.“
Und was sagt der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim bei seinem Deutschlandbesuch, als er die Freilassung von Deniz Yücel quasi in Aussicht stellte? Seiner Ansicht nach seien die deutsch-türkischen Beziehungen auf dem Weg der Normalisierung. Das darf man im Zusammenhang mit der Intervention in Syrien getrost grotesk nennen. Noch mehr, bedenkt man, was Yücel vom 32. Strafgericht in Istanbul u.a. vorgeworfen wird: „Propaganda für eine Terrororganisation“, heißt es da.
Yücel hätte Operationen der Sicherheitskräfte gegen die PKK als „ethnische Säuberung“ bezeichnet. Die PKK gilt nun allerdings auch in Deutschland legal schon länger als terroristische Vereinigung. Und die ZEIT will einen Zusammenhang zwischen YPG-Miliz und PKK herausgefunden haben: Die YPG sei der bewaffnete Arm der nordsyrischen Kurdenpartei PYD, die einen eigenen Kurdenstaat in Nordsyrien aufbauen will. Die PYD sei wiederum eng verflochten mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei. Das wirft dann ein etwas anderes Licht auf die Anwürfe Erdogans gegen den Westen, gegen die USA und also letztlich gegen Yücel.
Einfach ist diese Situation für keinen der Beteiligten. Deniz Yücel ist frei und zurück in Deutschland. Gut so. Yücel galt vor seiner Verhaftung mindestens als ätzender Deutschlandkritiker, ebenso, wie er in der Türkei als Erdogankritiker gilt. Die türkische Community in Deutschland findet offensichtlich Yücel mehrheitlich fragwürdig. Der Mann sitzt also auch in Freiheit ziemlich eingequetscht zwischen mehr als nur zwei Stühlen. Und auch die Welt könnte bald mit ihm hadern, wenn irgendwer dort die Schonfrist für Yücel irgendwann für beendet erklärt. Wollen wir hoffen, dass die Bundesregierung nun ausgerechnet wegen Yücel keine Schonfrist für Erdogan einhält.
Einer allerdings darf sich ungeteilt freuen: Sigmar Gabriel hat von Erdogan mit Yücels Freilassung ein schönes Bewerbungsgeschenke für den Posten des deutschen Außenministers bekommen. Erdogan wird sich dabei wohl gerne erinnert haben, was Gabriel Anfang 2017 über die deutsch-türkischen Beziehungen geäußert hatte. Jener Gabriel übrigens, der fast zehn Jahre lang mit einer türkischen Staatsbürgerin verheiratet war:
„Dass die Türkei mit dem Referendum ihre Demokratie beerdigt, sagt bei aller leider allzu berechtigten Kritik nicht mal die Venedig-Kommission des Europarats. Präsidialsysteme, in denen das Staatsoberhaupt Minister feuern oder per Dekret Gesetze durchboxen kann, gibt es auch anderswo, zum Beispiel in Frankreich. (…) Gerade jetzt brauchen wir eher eine Umarmung der Türkinnen und Türken in Deutschland. Wir müssen ihnen sagen: Wir sind euch dankbar dafür, dass ihr unser Land mit aufgebaut habt.“
Welches Interesse die Türkei also an einem Außenminister Gabriel hat, sollte hinreichend beantwortet sein.
Heute hat das den gleichen Klang wie die Worte von Altkanzler Gerhard Schröder über Wladimir Putin, als er diesen zum lupenreinen Demokraten erklärte.