Den 30. Juni 2019 muss man sich wohl im Kalender anstreichen, denn das ist der Tag, als die Tagesschau fast vier Jahre nach Beginn der Massenzuwanderung nach Merkel und noch dazu mitten in der heißen Phase der Debatte um die so genannte „Seenotrettung“ und wenige Tage bevor der Spiegel eine Carola Rackete zum Covergirl machte. Es ist der Tag, an dem die öffentlich-rechtliche Tagesschau Abbitte leistete und sich von einer Art No-Border-No-Nation-Sender einmal zurück entwickelte zu etwas, das ganze Sätze lang an eine Art Nachrichtenportal erinnert.
Jedenfalls ist bei Tagesschau Erstaunliches nachzulesen, wenn in Rom ein Reporter Jörg Seisselberg vom Bayrischen Rundfunk mit Federico Fossi vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, ins Gespräch kommt und diesen unwidersprochen berichten lässt, dass mit Rückgang der privaten deutschen und europäischen Schiffe vor der libyschen Küste auch weniger Schlauchboote zu Wasser gelassen würden. Im Wortlaut heißt es dazu bei Tagesschau:
„Zu den veränderten Schlepper-Strategien trage indirekt auch die erzwungenermaßen nur noch geringe Präsenz der Nicht-Regierungsorganisationen auf dem Mittelmeer bei, sagt das Flüchtlingshilfswerk. Schlauchboote würden seltener eingesetzt. „Schlauchboote können nur wenige Stunden unterwegs sein, vor allem wenn sie überfüllt sind, wie wir es häufig beobachtet haben. Die waren nur mühsam in der Lage, aus den libyschen Gewässern herauszukommen, wo dann die Nicht-Regierungsorganisationen bereit waren, den Migranten und Flüchtlingen zur Hilfe zu kommen“, sagt Fossi.“
Federico Fossi macht ebenfalls darauf aufmerksam, das es neben dem alten Modell der faktischen Zusammenarbeit zwischen Schleppern und sogenannten Nichtregierungsorganisationen (NGO) schon weitere Modelle der geschleppten illegalen Einreise gibt:
„In Wirklichkeit gehen die Anlandungen weiter. Sie sind nicht sichtbar. Aber es gibt sie in großer Zahl, vor allem auf Lampedusa, aber auch auf der östlichen Route, von Griechenland und der Türkei aus, dann vor allem nach Kalabrien und Apulien.“
Nun darf man auch nicht zu viel erwarten von Fossi, immerhin ist er für den UNHCR tätig, der sich bis heute schwer damit tut, eins und eins zusammenzuzählen, wenn beispielsweise nach wie vor lieber die höhere prozentuale Todesrate auf dem Mittelmeer erwähnt wird, anstatt zu berichten, dass seit Verhinderung bzw. Eindämmung der Tätigkeiten der NGOs deutlich weniger Menschen ertrinken, wie auch deutlich weniger Migranten nach Europa geschleppt werden können, einfach, weil viele Schiffe der NGOs nicht mehr aufs Meer hinaus fahren.
Tagesschau berichtet anschließend noch von einem neuen Schleppermodell, das nun offiziell nach UNHCR-Lesart ganz ohne die deutschen und europäischen NGOs auszukommen scheint, wenn es da heißt:
„Das Schließen der Häfen führt dazu, dass die Schlepper jetzt verstärkt Methoden nutzen, die es den Passagieren erlauben sollen, direkt ins Zielland zu kommen, ohne abgefangen zu werden.“
Laut UNHCR reagieren die Schlepper damit unter anderem auf die rigorose Linie der italienischen Regierung. Und was ist das nun anderes, als ein eindeutiges Eingeständnis des UNHCR, dass es eine bis dahin immer so vehement bestrittene Zusammenarbeit zwischen Schleppern und NGOs gegeben haben muss? Übrigens völlig gleich, ob nun konspirativ verabredet oder einfach aus sich heraus funktional.
Laut Fossi für Tagesschau wäre eine neue Methode der Schlepper der so genannte „Mutterschiff-Trick“. Erstmals angewandt wurde er schon vor Jahren von Ägypten aus, nun wurde die Idee nach Libyen importiert – möglicherweise ja sogar von den selben Schlepperbanden.
Tagesschau erklärt, wie es funktioniert:
„Der Trick besteht darin, zunächst die Flüchtlinge (meist sind es mehr als hundert) unter Deck eines etwas größeren Schiffes zu verstecken und mit diesem Schiff, auf dem von außen keine Flüchtlinge zu sehen sind, von Libyen unentdeckt in die Nähe der italienischen Hoheitsgewässer zu fahren.
Dort werden die Menschen dann meist in mehrere kleine Holz- oder Kunststoffboote gesetzt, die das Mutterschiff mitgeführt hat. In diesen erreichen sie dann die italienische Küste – oder werden zumindest in italienischen Gewässern von der Küstenwache abgefangen, die sie dann in einen italienischen Hafen bringen muss.“
TE hatte über den Mutterschiff-Trick am 22. Juni berichtet.
Klar, dafür braucht es keine Sea-Watch und keine Alan Kurdi mehr. Damit sind die Nichtregierungsorganisationen arbeitslos. Womit auch vorab beantwortet ist, weshalb Jean Asselborn und Gerd Müller in diesen Tagen mit ihren Forderungen nach neuen Missionen der EU im Mittelmeer auf den Plan treten. Arbeit wartet hier nämlich auf Frontex, auf die EU-Diplomaten und auf eine Reihe militärischer Berater in Libyen. Denn diese Mutterschiffe müssten bereits nahe der libyschen Küste aufgebracht werden. Denn haben sie erst einmal die Gewässer vor Lampedusa oder anderswo an europäischen Gestaden erreicht, dann wäre eine Rückführung zum Startort der Schiffsreise quasi unmöglich, zumal in dem Moment ein Asylantrag nach europäischem Recht möglich wäre.
Selbstredend macht eine Schwalbe noch keinen Sommer, dennoch darf man die Redaktion der Tagesschau ermuntern, dran zu bleiben, wenn es wieder darum geht, Nachrichten anstelle von Haltungen zu berichten. Warum ging das noch einmal bisher so schlecht? Was war die Befürchtung, aus dem öffentlich-rechtlichen No-Border-No-Nation-Gesang auszuscheren? Schauen wir jetzt einfach mal gespannt, wie sich die Karriere von Jörg Seisselberg entwickelt, der hier aus dem ARD-Studio Rom auf eine (neue?) Weise wahrheitsgemäß berichtet hat.