Tichys Einblick

Streit um Wagen Nr. 16 – Wer rief zum „Sturm“ auf die Reichstagstreppe?

Die Frage, wer am Wochenende dazu aufrief, zum Reichstag zu gehen, ist heikel. Besonders, wenn daraus von Politik und Medien eine Stürmung des Reichstags konstruiert wird, um die Kritik an der Bundesregierung und dem Berliner Innensenator mit einem Bann zu belegen.

imago images / Future Image

Die Stoßrichtung ist eindeutig: Für Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) ist die „Besetzung der Treppe des Reichstags durch Gegner der staatlichen Corona-Politik“, wie beispielsweise die Märkische Allgemeine zitiert, „beschämend“. „Das darf nie wieder passieren“, sagte er der RBB-Abendschau. Und damit lädt er dann gleich einmal die Debatte um ein weiteres historisch-politisches Begriffsschwergewicht auf: Nie wieder!

Sind es für Geisel also klar Teilnehmer der Querdenker, weist Initiator Michael Ballweg das im Interview mit TE klar zurück und auch gegenüber der Welt sagt Ballweg zu den Besetzern der Reichstagstreppe: „Die haben mit der Bewegung nichts zu tun.“ Er sieht die Verantwortung beim Innensenator. Der hätte nämlich, so sagt er gegenüber TE, überhaupt erst dafür gesorgt, dass weitere Demos, nämlich von Reichsflaggenträgern genehmigt wurden, teilweise sogar flächenmäßig in direkter Überschneidung oder unmittelbaren Nähe mit der Querdenker-Demo, beispielsweise am Bismarckdenkmal an der Siegessäule.

Ein Teilnehmer der Reichstagstreppenbesetzung, ein Zahnarzt aus Aachen, sagt allerdings gegenüber TE etwas anderes: Es wäre ein Wagen der Querdenker gewesen, von dem aus dazu aufgefordert worden wäre, sowohl zur Russischen Botschaft als auch zum Reichstag zu gehen. Im TE-Interview mit Michael Ballweg konnte die Frage der Zugehörigkeit dieses Wagens nicht abschließend geklärt werden. Die Frage blieb also offen, was auch bei einigen Kommentaren für Missstimmung sorgte. Für einige wenige war die Frage an sich offensichtlich sogar schon ein Sakrileg.

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TE sprach jetzt noch einmal mit Michael Ballweg, dem wir ein Foto des betreffenden Wagens zuschicken sollten und konnten. Ballweg sagte, der Wagen sei kein Teil der Querdenker und stellt einen Kontakt her zu einem Andreas M. aus Krumbach, mit dem TE dann drei Telefonate führte. Die Frage, ob von diesem Wagen aus aufgefordert wurde, zum Reichstag zu gehen, ist brisant. Nicht nur für Innensenator Geisel. Zu klären wäre, was zunächst überrascht: Der Wagen soll laut Michael Ballweg nicht zur Demonstration gehören. Ihm sei darüber nichts bekannt.

Tatsächlich aber sagt Andreas M., es wäre sogar mehrfach von seinem Wagen herunter dazu aufgerufen worden, jetzt zum Reichstag zu gehen. Tatsächlich war dieser Wagen angemeldeter Teil des Querdenker-Umzugs. Aber: Die Initiative von Andreas M. ist kein verifizierter Teil der Querdenker. Man hätte sich schon Wochen vor der Demonstration offiziell dort angemeldet.

„Wir bereuen schon alle, dass wir das durchgesagt haben“, sagt Andreas M. ziemlich zerknirscht. Er bedauert auch, dass der von den Querdenkern für die einzelnen Wagen organisierte Funkverkehr nicht zustande gekommen sei, da hätte es eigens eine Einweisung der Querdenker gegeben. Ursprünglich wäre man Teil des Demozuges gewesen mit der Wagennummer 16. Dann hätte man aber entschieden, lieber direkt am Brandenburger Tor stehen zu bleiben und nicht mit den anderen Wagen Teil des Zuges zu sein und die Nummer 16 quasi wieder freigegeben. Der Zug selbst kam allerdings später nicht zustande, der wurde ja bekanntermaßen polizeilich untersagt. Zwischenzeitlich sollte man von den Querdenkern noch eine neue Nummer für den nun nummerlosen Wagen bekommen, aber mangels Funkverkehr sei das dann unterblieben.

Die brisanten Durchsagen erfolgten laut Andreas M., nachdem immer wieder von unten hoch zum Wagen interveniert wurde, die Leute doch endlich zum Reichstag zu schicken. Also rief man dazu auf, zum Reichstag zu gehen. Für Andreas M. hatte sich rückblickend dieses Ansinnen angefühlt, wie eine geplante Aktion. Aber seiner Meinung nach, das erwähnt er extra, nicht von V-Leuten, sondern eher von „wirklich Überzeugten“.

„Ich habe den Leuten von uns möglichst schnell versucht klarzumachen, dass wird das nicht mehr durchsagen, dass sie zum Reichstag gehen sollen. Aber das wurde halt zwei Mal durchgesagt auf jeden Fall, vielleicht sogar ein drittes Mal.“ Von einer Durchsage weiß er noch, weil er sie selber gemacht hat, nachdem er, wie er sagt, von unten hoch von Menschen unter Druck gesetzt wurde: „Die Leute sagen, am Reichstag sei es sehr interessant, aber wir bleiben hier und spielen unsere Musik.“ Entweder hier oder schon durch die Ansagen zuvor, fühlte sich also der von TE interviewte Aachener Zahnarzt animiert und zog mit seinen beiden Begleitern zum Reichstag, wo er dann irgendwann eine der polizeilichen Absperrungen überwand und sich möglicherweise sein Selfie abholten wollte, aber von einer schlagkräftigen Polizeitruppe daran gehindert wurde.

Aber was bedeutet das nun, wenn so ein von den Querdenkern in den Zug aufgenommener Wagen dazu aufruft, zum Reichstag zu gehen? Jedenfalls nicht automatisch, das Gebäude zu stürmen, das geben die Ansagen von Wagen 16 herunter, so wie es Andreas M. gegenüber TE erzählt, einfach nicht her. Die höhere Brisanz entsteht hier sowieso erst in der Rückschau, also nach der Besetzung der Reichstagstreppen.

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Wagen 16, der später keine Nummer mehr hatte, wurde von der Krumbacher Initiative selbst finanziert, erzählt Andreas M. Ursprünglich hätten sich 58 Wagen angemeldet für den Aufzug auf „dieser Route durch die Stadt.“ Zugelassen wurden letztendlich nur 18 Fahrzeuge von denen die Krumbacher ursprünglich besagte Nummer 16 bekamen. Kontakt zur Polizei gab es den ganzen Tag über keinen, auch keine Aufforderung, etwa die Teilnehmer zum Tragen eines Mundschutzes oder der Einhaltung der Abstandsregel aufzurufen. Erst so gegen  21:30 Uhr, seien Polizisten zu Wagen 16 gekommen und hätten – ohne dabei Diskussionen zu dulden – gesagt, so Andreas M., dass sie die Musikanlage ausmachen und abbauen sollen.

Andreas M. und der Kumbacher Wagen 16 hatten auch noch eine eigene Anmeldung für ihren Wagen, darauf hatte auch Michael Ballweg im Interview verwiesen und eine Zugehörigkeit von Wagen 16 an der Querdenker-Demo auch damit von sich gewiesen. Allerdings war die Einzelanmeldung auch Teil der Alternativ-Strategie, wie Andreas M. erzählt, für den Fall, dass die Querdenker-Demo abgesagt werden müsse.

Michael Ballweg ist im Gespräch mit TE durchweg gesprächsbereit. Er gibt bereitwillig Telefonnummern zur Kontaktaufnahme weiter, TE kommt so in Kontakt zu Andreas M. ebenso, wie TE ein Telefonat angeboten wird zum Verantwortlichen bei Querdenker für die Organisation des Wagenzugs samt Nummernvergabe.

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Die Frage, wer den Aufruf startete, zum Reichstag zu gehen ist durchaus heikel. Sie ist dann besonders heikel, wenn daraus von Politik und Medien ein Aufruf zur Stürmung des Reichstags konstruiert, um die Kritik an der Politik der Bundesregierung und dem Berliner Innensenator mit einem bis ins Ungeheuerliche aufgepumpten Bann zu belegen.

Ein Aufruf, zum Reichtag zu gehen, könnte nüchtern betrachtet aber auch allenfalls eine Lappalie sein, wenn Demonstranten vor dem Reichstag Gesicht und auch umstrittene historische Flaggen zeigten lediglich für ein schnelles Selfie für die sozialen Medien.

Michael Ballweg verweist auch bei Wagen 16 auf die Einbindung von Initiativen in den ursprünglich geplanten Zug der Wagen durch Berlin und die Veranstaltung vor Ort. Ballweg selbst hatte den Aufzug gar nicht organisiert, sagt er gegenüber TE, dass seien die Querdenker-341 als Leipzig gewesen, die auch dafür zuständig waren, die Auswahl der Wagen zusammenzustellen.

Die Dynamik um die Frage, wer eigentlich dazu aufgerufen hat, die Treppen des Reichstags zu besetzen, ist jedenfalls erstaunlich. Denn zunächst einmal ist die Aufforderung zum Reichstag  zu gehen ganz harmlos, das darf ja jeder. Sie kann hier allenfalls eine ordnungspolitische Frage sein, so dort keine Demonstration genehmigt war, die genehmigte Demo also zu etwas aufruft, das ihr nicht genehmigt wurde. Wenn also Politik und Medien den Querdenkern oder dem Umfeld unterstellen, den Reichstag gestürmt zu haben, dann kann das auch für Innensenator Andreas Geisel schwer nach hinten losgehen: Immerhin hat er laut Ballweg Demonstrationen zugelassen, die viel unmittelbarer mit der Klientel am Reichstagstreppchen zusammenzubringen sind. Und wer diese Demonstrationen genehmigt, der ist auch, so Ballweg im Interview mit TE, für die Sicherheit verantwortlich.

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