„Verhetzung“, „kriminelle Vereinigung“, „Sachbeschädigung“ und „Nötigung“ – die Staatsanwaltschaft Graz der Republik Österreich hat „nach sehr umfangreichen und intensiven Ermittlung“ ein Paket von Strafsachen gegen die Identitäre Bewegung (IB) Österreich und ihre Vertreter und Sympathisanten erhoben. Je nach aufgeführten Delikt wird gegen bis zu 17 Angeklagte – unter Ihnen auch Martin Sellner, Chef der IB – vorgegangen. Die taz, der Tagesspiegel, die ZEIT und andere berichteten ausführlich dazu.
Die Grazer Staatsanwaltschaft selbst schickt auf Anfrage eine vierseitige Mitteilung zu dem Fall. Martin Sellner selbst äußerte sich über das Portal des neurechten (Selbstbezeichnung) Verlegers und Freundes Götz Kubitschek. Dort schreibt Sellner: „Was den insgesamt 17 Angeklagten vorgeworfen wird, ist das Zusammenwirken in mehreren „Meinungsdelikten“, deren Tatwaffen Spruchbanner und Straßenkreide waren. Das ist die gesetzliche Grundlage für eine eigene „Sonderkommission“ die eine tausendseitige Akte anlegte und am 27. April zahlreiche Wohnungen stürmte, Aktivisten per Handy ortete und festnahm, sowie Konten einfror und elektronische Geräte und Gelder beschlagnahmte.“
Der Grazer Staatsanwalt Mag. Hansjörg Bacher erläutert die Anklagepunkte gegen Vertreter der IB und Sympathisanten. Seinem Schreiben sind eine Reihe von Informationen unter der Überschrift „Hintergrund“ vorangestellt. Dort heißt es:
„Die Vertreter der IBÖ sehen die kulturelle europäische Identität durch Multikulturalismus, Liberalismus und Islamisierung bedroht. Die IBÖ und ihre Aktivisten streben die strikte Trennung der in Europa lebenden Völker an und lehnen die kulturelle „Vermischung“ der Ethnien ab.“
Der Staatsanwalt teilt weiter mit, dass zwei der Angeklagten ein Unternehmen gegründet hätten, dass dem Zwecke dienen soll, „Propagandamaterial“ zu verkaufen. Dieses Unternehmen würde Erlöse erwirtschaften, dass den beiden Identitären nicht nur ein regelmäßiges Einkommen einbringt, „sondern sie finanzieren damit auch (zum Teil) die Aktionen der IBÖ, um dadurch den Umsatz ihres Unternehmens weiter anzukurbeln.“
Interessant ist das insofern, als es den Zweck verfolgt, die Aktionen der Identitären zu entpolitisieren, indem es als unternehmerisches Geschäftsmodell verstanden werden soll. Und wenn Einnahmen für die Planung der „Aktionen“ verwendet werden, dann versteht die Staatsanwaltschaft Graz dies als eine Art Re-Investition zum Zwecke der noch größeren Bereicherung.
Für die Anklage ist das erheblich, denn es begründet bzw. verdichtet den Vorwurf „kriminelle Vereinigung“ mit dem Tatbestand der Bereicherung. Auch über die Vorgehensweise der Angeklagten berichtet die Staatsanwaltschaft Graz ausführlich: Sie würden „die auch in der österreichischen Bevölkerung stetig zunehmende Angst vor radikal-islamistischen Terroranschlägen“ nutzen, „um den Islam generell mit islamistischem Terror gleichzusetzen und jede in Österreich lebende, der muslimischen Bevölkerungsgruppe zuzuordnende Person als potentiell terroristisch darzustellen.“
Der Vorwurf der Bereicherung (Zweck) ist für die Anklage sogar so erheblich, dass sie der Auflistung der zur Anklage gebrachten „Aktionen“ vorangestellt wurde in der Überschrift: „Die vorliegende Anklage hat folgende, zu den oben angeführten Zwecken durchgeführte Aktionen zum Gegenstand.“
Vier Aktionen der IB werden explizit aufgeführt:
April 2016 – die Anbringung eines Transparentes auf dem Dach der Partei „Die Grünen Steiermark“ mit der Aufschrift „Islamisierung tötet“, das mit Theaterblut übergossen wurde und begleitet von Lautersprecherdurchsagen, die Grünen und die SPÖ seien „schuld am Terror“ und hätten diesen nach Europa importiert.
Juni 2016 – mehrere der Angeklagten hätten an der Universität Klagenfurt eine Vorlesung über „Asyl und Migration“ gestürmt, dort am Podium Transparente mit den Aufschriften „Stoppt Zuwanderung“ und „Integration ist eine Lüge“ entrollt, Flugblätter mit der Aufschrift „Integration ist eine Lüge!“ verteilt und eine Steinigung nachgestellt.
Von beiden Aktionen seien Propagandafilme angefertigt und über das Internet verbreitet worden. Dabei seien auch „höchst islamfeindliche Parolen“ verbreitet worden wie „Islamisierung und Einwanderung töten Europa. Wieviele Terroranschläge braucht es noch, bis ihr aufwacht? Wehrt euch und werdet aktiv. Komm in die Bewegung.“
September 2016 – mindestens einer der Angeklagten hätten in Maria Lankowitz „mit gelbem Kreidespray unter Verwendung von Schablonen wiederholt die Parolen: „INTEGRATION = LÜGE # REMIGRATION“, „IDENTITÄRE BEWEGUNG“ UND „REMIGRATION“ und das für die IBÖ stehende Lambda-Zeichen auf Straßen und Gehsteige“ gesprüht. Zusätzlich seien „sechs Heiligenfiguren im Eingangsbereich der dortigen Wallfahrtskirche Pappschilder mit der Parole: „INTEGRATION = LÜGE # REMIGRATION““ umgehängt und die Figuren seien entweder mit schwarzen Müllsäcken im Sinne einer Burka-Verschleierung verhüllt oder sie seien mit „Vollbartperücken und Waffenattrappen“ versehen worden.
März 2017 – in Wien hätten zwei der Angeklagten einen Schlüsselkasten aufgebrochen um sich so Zugang auf das Dach des Stiegenhauses zu verschaffen. Auf dem Dach wurde ein Plakat von 5 mal 6 Metern angebracht, das die Silhouette von Prinz Eugen von Savoyen zeigte und die Aufschrift trug: „ERDOGAN – HOL DEINE TÜRKEN HAM!“. Ebenfalls wurden als Flugtickets gestaltete Zettel vom Dach geworfen u.a. mit der Aufschrift: „GUTEN HEIMFLUG! WIEN > ISTANBUL“. Auch von dieser Aktion sei „wiederum ein Propagandafilm angefertigt und über das Internet verbreitet“ worden.
Für die Staatsanwaltschaft hatten diese Aktionen folgende Ziele: „Hass gegen die Religionsgesellschaft des Islam, gegen Muslime, Ausländer und Flüchtlinge und insbesondere auch türkische Staatsangehörige aufzustacheln, und diese Gruppen durch Beschimpfungen in der öffentlichen Meinung verächtlich zu machen und herabzusetzen.“ Damit wird der Straftatbestand der Verhetzung begründet.
Die Staatsanwaltschaft Graz geht weiter davon aus, dass es sich beim „Verein zur Erhaltung und Förderung der kulturellen Identität“ (kurz IBÖ) um eine kriminelle Vereinigung handelt, die darauf ausgerichtet ist, dass von ihren Mitgliedern Verhetzungen und Sachbeschädigungen im oben dargestellten strafbaren Sinn begangen werden. Diese „kriminelle Vereinigung“ wäre zudem expansiv in dem Sinne, dass sie die Schaffung einer gesamt-europäischen „Identitären Bewegung“ vorantreiben würde. Belegt werde das auch durch „die laufende Zusammenarbeit mit Vertretern der in Deutschland, Frankreich, Schweiz und Italien tätigen Identitären Bewegungen.“
Die Staatsanwaltschaft Graz sieht einen Strafrahmen für „das sämtlichen Angeklagten angelastete Vergehen der kriminellen Vereinigung (von) bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe.“ Neben den Vorwürfen der Verhetzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung seien zwei weitere Vorwürfe Teil des Ermittlungsverfahrens: „Vorwürfe nach dem Verbandsverantwortlichkeitsgesetz und dem Finanzstrafgesetz.“
Soweit die Faktenlage nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Graz. Kommentierend könnte man hier zunächst drei Auffälligkeiten festhalten:
Zum einen die Verknüpfung von Verhetzung, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Bereicherung. Und zum anderen die zumindest während der Aktionen zu vernachlässigenden tatsächlichen Sachbeschädigungen (Schlüsselkasten). Interessant hier auch, dass über den Vorwurf der Bereicherung (Verkauf von Propagandamaterial) die politische Komponente bewusst herausgenommen werden soll. Solche Vorgehensweisen mögen ein stückweit erinnern an den bundesdeutschen historischen Kontext, an die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen im sogenannten „deutschen Herbst“ gegen Angehörige und Anwälte im Umfeld linker und linksradikaler Gruppen sowie der RAF. Die Rezeption über die damaligen Ereignisse verbreitet heute teilweise die These, es hätte eine bewusste Kriminalisierung dieses Umfeldes gegeben.
Diese Assoziation ist auch deshalb so eindringlich, weil es ein linkes Pendant gibt zur Anbringung eines Transparentes der IB auf dem Dach der Partei „Die Grünen Steiermark“ mit der Aufschrift „Islamisierung tötet“, das mit Theaterblut übergossen wurde: Die Besetzung des SPD-Hauses im Hamburger Stadtteil St. Georg, als pro-kurdische linke Aktivisten mit Hilfe einer Leiter auf einen im ersten Stockwerk befindlichen Balkon kletterten und zwei Transparente entrollten mit der Aufschrift „Blut an euren Händen“. Zudem riefen sie über ein Megafon mehrere Parolen. Zwar muss hier der Vorwurf der „(Volks-)verhetzung“ selbstverständlich entfallen, aber jener der Gründung einer kriminellen Vereinigung kann aufgrund der ähnlichen Umstände der Aktion ebenfalls in vergleichbarem Maße zumindest überprüft werden.
Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages kommentiert am Beispiel der Antifa und der Frage nach der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ nach §129 StGB: „Auch die Frage, warum solche Mitglieder der ANTIFA oder anderer linksextremer Gruppen, die kollektiv begangene Straftaten wie Sachbeschädigungen, Körperverletzungen, Brandstiftungen etc., insbesondere im Rahmen der Proteste gegen den G-20-Gipfel in Hamburg 2017 begangen haben, bisher nicht häufiger wegen § 129 StGB verurteilt worden, entzieht sich einer generalisierenden Betrachtung.“
Der als Hauptangeklagter zu betrachtende Martin Sellner kommentiert auf dem Portal von Götz Kubitschek, er befände sich „seit der Hausdurchsuchung in einer fiebrigen Stimmung freudiger Erwartung.“ Die Anklage sei „der letztmögliche Versuch die IB juristisch zu zerschlagen, nachdem die gesellschaftliche Isolierung durch Medienhetze nicht geglückt ist.“ Er erinnert sich allerdings auch, was sich die Mitglieder untereinander per Smartphone usw. verschickten. Wenn Sellner dann prophylaktisch schreibt: „sollten sie unsere Geräte knacken – jede Textnachricht (wird) nun auf die Goldwaage gelegt“, dann mag das Wort „Goldwaage“ möglicherweise auch andeuten, dass dort einiges zu finden sein wird, dass das Potenzial haben könnte, unangenehm zu werden, sollte es öffentlich werden. Für Sellner ist die „juristische Repression ambivalent“: „Wenn immer ein System sie anwendet, muss sie wirksam und final sein. Wird der Gegner durch sie nicht erledigt, macht sie ihn bekannter und stärker. Im schlimmsten Fall schafft man sogar „Märtyrer“.
Die Staatsanwälte helfen geradezu mit, Märtyrer zu produzieren. Österreichische Journalisten wie Florian Klenk (vom Wiener-Szene-Magazin Falter) und Michael Jungwirth (Kleine Zeitung) kritisieren diese Art von Vorgehen, mit der ein „Mafia-Pragraph“ für politische Zwecke Instrumentalisiert wird. Und Sellner wiederum setzt sich damit geschickt in Szene und verbreitet einen Aufruf zur Solidarität:
Militanter Extremismus und Terrorismus müssen und sollen staatlich bekämpft und konkrete Vergehen streng geahndet werden. Doch die Verbindung von Meinungsdelikten mit einem Mafiaparagraphen führt zu einer gefährlichen Lage. Für politischen Protestgruppen entsteht eine Situation der Unsicherheit und ein uferloses Risiko, das jede außerparlamentarische Opposition, egal aus welcher politischer Richtung zum Verschwinden bringen könnte. Teilnahme an Demonstrationen könnte strafbar werden. Personen könnten für eine bloße Mitgliedschaft für Taten bestraft werden, die sie nicht begangen haben. Kreativer Protest und die langfristige Organisation ohne der echter Aktivismus unmöglich ist, würden kriminalisiert. Erstmals wird er Paragraph 278 diesmal explizit wegen Aussagen und Ansichten und nicht Delikten gegen Leib und Leben angewandt.
Man muss nicht mit den Ideen der IB übereinstimmen um die Gefahr dieser Entwicklung für die Demokratie zu erkennen. Denn zum demokratischen Rechtsstaat gehört parteifreier politischer Protest ebenso, wie die parlamentarische Opposition. Die Unterzeichner protestieren daher gegen diese zweckwidrige Anwendung des 278 und fordern eine Reform des Paragraphen, welche ihn auf seinen eigentlichen Zweck reduziert: die Verfolgung, gewerbsmäßiger krimineller Organisationen wie Mafias und nicht der Zerschlagung politischer Protestgruppen wie der IB.
Um Bild der Identiären Ikonographie zu bleiben: Sellner gibt den ersten „Märtyrer” der Bewegung.
Nun kann man den Straftatbestand der Sachbeschädigung möglicherweise tatsächlich vernachlässigen. Ebenso Gewalttaten. Was allerdings bleibt, ist die Frage der Verhetzung und in wie weit diese von der Staatsanwaltschaft zur Anklage gebrachte Verhetzung als Straftaten auch noch im Rahmen einer kriminellen Vereinigung untergebracht werden kann.
Was man abseits der strafrechtlichen Komponente allerdings nicht kann, ist, diese Aktionen als grundsätzlich harmlos zu bezeichnen oder sie gar zu begrüßen. Verschärfend durch die teilweise rechtsradikale Vergangenheit der Protagonisten, insbesondere Sellners („Ich war damals überzeugt und idealistisch – aber von einer falschen Sache.“), kann man mindestens ein Unverständnis nicht unterdrücken, wenn nicht eine explizite Ablehnung formulieren, wenn wieder abwertende Schilder umgehängt werden (wenn auch „nur“ Heiligenfiguren) und so mit üblen Assoziationen zur NS-Zeit willfährig gespielt wird . Oder noch viel schlimmer: Wenn man mit der Fahrkarten-Verteilung nach Istanbul auf eine Weise a-historisch Aktionismus betreibt, der wirklich widerlich zu nennen ist, erinnert man sich an die Aktionen der Nationalsozialisten, die zunächst mit „Freifahrkarten nach Jerusalem“ Juden zur Ausreise nötigten wollten, bevor sie sie millionenfach ins Gas schickten.
Soweit zur Kritik an den Aktionen und an der Grazer Staatsanwaltschaft. In jedem Falle bedarf dieser Prozess, so er denn kommt, einer genauen Beobachtung. Die Wahrung der rechtsstaatlichen Mittel und ein fairer Prozess mag auch darüber Aufschluss geben, wie demnächst mit linken und linksextremen Gruppierungen oder mit wem auch immer auf welche Weise verfahren wird, wer sich in Fundamentalopposition dem Staat gegenüber aufstellt. Hier wird diese imaginäre rote Linie möglicherweise besonders deutlich aufgezeigt werden.
Doch das Thema IB hat in Österreich eine weitere Dimension, die der deutschen Öffentlichkeit nicht so vertraut ist:
Die FPÖ des Heinz-Christian Strache ist in der Koalition mit der ÖVP des Sebastian Kurz dabei, sich von ihren äußersten Rändern unter den Burschenschaften und auch sonst zu lösen und in die Mitte zu rücken. Oder anders: Die politisch tatsächlich rechte Szene sortiert sich neu.