Tichys Einblick
Schuld sind immer die anderen

Der Spiegel reklamiert Opferrolle in Causa Claas Relotius

So einfach macht es sich DER SPIEGEL: Er geriert sich zum Opfer eines Fälschers, der mit "krimineller Energie" vorgegangen sei. Das hätte der Spiegel anderen nicht durchgehen lassen.

Getty Images

Die deutsche Medienlandschaft befindet sich nicht erst seit gestern am Rande des Nervenzusammenbruchs. Aber zu den ökonomischen Katastrophen kommen jetzt auch solche hinzu, welche die Kritik an der Qualität der Erzeugnisse noch einmal befeuern könnten. Leben wir in hysterischen Zeiten? Wird es beim Spiegel eine Zeit vor und eine nach der Spiegel-Affäre rund um die gefälschten bzw. manipulierten Texte des Spiegel-Redakteurs Claas Relotius geben?

Der Fall Claas Relotius ./. SPIEGEL
Das Elend des Haltungsjournalismus
Gerade zitierte Julia Stein, Journalistin des NDR und Vorsitzende des Netzwerk Recherche, via Twitter aus einem aktuellen Spiegel-Newsletter:

„Wir sehen in Claas #Relotius nicht einen Feind, sondern einen von uns, der mental in Not geraten ist und dann zu den falschen, grundfalschen Mitteln griff. Er hat auch unser Mitgefühl. … Er hat betrogen, wir haben uns betrügen lassen.“

Für Julia Stein ein „sehr ehrlicher ‪@DerSPIEGEL‬ Newsletter“.
Aber ehrlich inwiefern – und bei was? Im Sinne einer Reue- oder gar Sühneleistung? Nein, es hat nichts Ehrliches, schon gar nichts Ehrenhaftes, wenn der Spiegel seinen Lesern unwahre und erlogene Geschichten in Serie (fast 60 Artikel von Relotius) aufgetischt hat, wenn die Zeitung also Standards der Dokumentation eingereichter Texte auf eine Weise vernachlässigt hat, die diesen katastrophalen Vertrauensverlust überhaupt erst möglich gemacht haben.

Fragen wir uns doch mal, was die Leser gesagt hätten, wenn der Spiegel beispielsweise in der Betrugsaffäre Volkswagen „Dieselgate“ berichtet hätte: „Wir sehen in Volkswagen nicht einen Feind, sondern ein Unternehmen von uns, das mental in Not geraten ist und dann zu den falschen, grundfalschen Mitteln griff. Volkswagen hat auch unser Mitgefühl. … Volkswagen hat betrogen, wir haben uns betrügen lassen.“

So eine Meldung erscheint zu Recht unmöglich: Aber noch unmöglicher ist es doch, in eigener Sache eine solche Solidaritätsadresse via Newsletter zu versenden, wie es nun der Spiegel laut Julia Stein getan hat. Noch mehr übrigens, wenn die Journalistin vom NDR dieser an Schamlosigkeit grenzenden hausinternen Spiegel-Verharmlosung auch noch Schützenhilfe erteilt.

Allenfalls am Rande interessant ist, wie es überhaupt dazu kam, dass der Spiegel eigeninitiativ die Causa Relotius öffentlich machte. Waren bereits Kollegen anderer Medien aufmerksam geworden und hatten alarmierende und unbequeme Fragen gestellt? Wollte man diesen drohenden Mega-Scoop entschärfen? Oder misstraute die Spiegel-Geschäftsleitung am Ende sogar der Stabilität der Loyalität der bereits in den Fall involvierten Mitarbeiter?

Eine weitere spannende Frage dürfte sein, was die Vorgesetzten wussten, inwiefern und zu welchem möglicherweise viel früheren Zeitpunkt es bereits Vertuschungsversuche von Mitwissern gegeben hat und wer im Hause ab wann bereits an einer Abwehrstrategie gearbeitet hat. Dazu soll der Spiegel wahrheitgetreu Rede und Antwort stehen, anstatt sich jetzt noch mit einem schneeweißen Büßerhemd zu schmücken.

Schauen wir nur einmal ein paar Monate zurück: Bereits Ende Februar 2018 bat Spiegel.de seine Leser „Was denken Sie? Lügenpresse, Entfremdung, Elfenbeinturm: Die Zweifel an der journalistischen Arbeit sind immer noch hoch. Wir möchten Ihre Meinung erfahren. Schreiben Sie uns und stimmen Sie ab.“

Reporterpreis mit vernebeltem Blick
Die Spiegel-Affäre: Ist der Reporter Claas Relotius nur Bauernopfer?
Damals stellte der Spiegel zu Recht bei den Menschen „Zweifel an der Redlichkeit von Journalisten“ fest. Diese Zweifel seien noch immer erschreckend hoch, hatte man herausgefunden. Diese Entfremdung müsse Journalisten Sorge bereiten. Und der Spiegel fragte vermeintlich besorgt: „Was haben Medien falsch gemacht? Und: Wie lässt sich das Vertrauen wieder herstellen?“

Aber schon wenige Tage später legte das Blatt beruhigt nach: „Vertrauen in die Medien steigt wieder. Mehr Bürger in Deutschland vertrauen der Berichterstattung der Medien.“

War es im Juli 2017 der Skandal um die Manipulation der Spiegel-Bestsellerliste, jetzt also die nächste um ein vielfaches gewichtigere Akte Claas Relotius.

Dieser „mental in Not“ geratene Relotius soll nun gemäß Newsletter des Hauses selbst Opfer sein, der Spiegel noch viel mehr. Aber von wem oder was Opfer? Vom Zeitgeist? Oder gar von bösen „rechten“ Medien, die immer erfolgreicher werden und den so genannten Leitmedien langsam aber sicher den Hahn abdrehen?

Nein, der Spiegel steht nicht erst seit Relotius vor einer seiner überlebenswichtigsten Aufgaben: Die Abrechnung der Berichterstattung zur Massenzuwanderung seit 2015 ist anderswo längst in vollem Gange, wenn Mitbewerber bei Axel Springer von Welt bis Bild gerade ziemlich erfolgreich die Reißleine gezogen haben, weil sich die Berichterstattung wieder erkennbar unterscheiden soll von dieser von einer Refugee-Welcome-Begeisterung getragenen.

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Nun könnte der Spiegel diesen Gau auch als willkommene Gelegenheit zur längst anstehenden Selbstreinigung nutzen. Hier darf dann aber im Wortsinne kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Alle Prozesse sollten vom Kopf auf die Füße gestellt werden – und genauso unmißverständlich, schnörkellos und ohne große Prosa kommuniziert werden. Notfalls muss man sich dafür Hilfe von außen holen, wenn man es aus sich heraus nicht mehr hinbekommt, weil die Verkrustungen zu beständig geworden sind. Hilfe von außen in Form einer strengen Mediation, die keine Befindlichkeiten akzeptiert.

Und weil wir vorhin kurz Volkswagen angesprochen haben, die wenigsten wissen es: Dort sind schon seit Jahren US-amerikanische Aufpasser installiert, die dem US-Justizministerium unterstehen. Aufpasser Larry Thompson und ein größeres nur ihm unterstehendes Team haben dort Zugang zu allen Unterlagen bis tief hinein in die sensibelsten Bereiche. Selbst ausgelagerte Forschungsabteilungen des Konzerns sind neuerdings in den Fokus der Aufpasser geraten.

Dem Spiegel drohen solche Konsequenzen aus der Relotius-Affäre freilich nicht. Es droht aber ein massiver Verlust der Leserschaft. Parallel zum sinkenden Vertrauen in die Volksparteien sinkt auch das Vertrauen in die Volkszeitungen. Und es gibt ausreichend Gründe dafür. Die Causa Relotius steht aktuell an erster Stelle.

Der Spiegel hat es nun selbst in der Hand. Will er Opfer sein und Relotius ebenfalls zum Opfer erklären, will er möglichst schnell unter den Teppich kehren, was passiert ist? Oder will er jetzt da ans Aufräumen gehen, wo es richtig weh tut: In den Schaltzentralen, in diesen politischen Brutkammern, dort, wo einer wie Relotius zum großen Fälscher und Manipulierer heranreifen konnte.


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