Kennen Sie schon die Spezies des Nicht(mehr)regierungspolitikers (NRP)? Sigmar Gabriel ist aktuell das Sturmgeschütz dieser Hinterlassenschaften politischen Scheiterns – aber die Kampfzone weitet sich aus. Und Gabriel hat Freunde. Beim Tagesspiegel beispielsweise darf er weiter aus der Bedeutungslosigkeit heraus Gastbeiträge schreiben und es wird im Gegenzug auch mal über ihn geschrieben, wenn er beispielsweise ein Buch bewerben muss, sofern er nicht gerade bei Markus Lanz einen Sessel ertrotzt hat mit der nächsten steilen These oder einer weiteren Anekdote aus dem politischen Sumpf der aktiven Jahre.
Der Anzeiger zitiert im Anschluss an die obligatorische Beileidsbekundung Gabriel-Sätze wie diesen hier: „Ich bin Sozialdemokrat und es ist manchmal ein bisschen verrückt, wenn ich Angela Merkel lobe.“ Auf diese totale Crazyness folgt die brachiale Banalität auf dem Fuße, so, wie sie wohl keine politische Analyse der merkelschen Politik je hätte erreichen können, wenn Gabriel über die Hochzeit der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 aus einem nächtlichen Zwiegespräch mit Merkel plaudert: „Wir sind nachts um 4 Uhr raus, sie nimmt mich beiseite und sagt zu mir: „Herr Gabriel, eins versprechen Sie mir: Wir bauen keine Zäune“.
Und Gabriel erinnert sich weiter: „Sie hat sich immer geärgert, wenn ich gesagt habe, die CDU sei eine konservative Partei.“ Aber hat sie sich wirklich geärgert? Was Gabriel heute sagt, kann Angela Merkel jedenfalls noch viel herzlicher egal sein.
Das alles sagt viel und nichts. Es ist ein vom politischen Tagesgeschäft abgekoppeltes NRP-Gerede, so wie viel geredet wurde, anlässlich einer Lesung in Berlin, für die Gabriel dann noch den NRP Wolfgang Kubicki als Laudator gewinnen konnte, der nun aber auch nicht mehr beitragen konnte, als nur die Dichte des NRP-Aufkommens aufwandsfrei – möglicherweise aufwandsentschädigt – zu verdoppeln.
Wie sehr Gabriel bis heute darunter leidet, wissen wir nicht. Wir können aber nachlesen, wie er sich aufbäumt, wenn er wieder im Tagesspiegel eine politischen Agenda formuliert, nachdem Parteigenosse Ralf Stegner an selber Stelle polterte: „Mit Seehofer (…) haben wir uns die Pest an Bord geholt.“
Gabriel haut nun anlässlich des EU-Gipfels in Salzburg in die Tastatur am heimischen Schreibtisch in Goslar. Der Überhebliche der nicht mehr mit überheblich sein darf, wirft nun den weiterhin Überheblichen vor: „Die deutsche Überheblichkeit muss aufhören.“
Aber wer oder was war überheblich? Gabriel, als er Merkel im Morgengrauen über Berlin versprechen sollte, keine Zäune bauen zu lassen, die andere längst begonnen hatten hochzuziehen, von Dänemark bis in die spanischen Enklaven in Marokko? Der erste Satz der Gabrie’schen Schreibarbeit schon wie ein großes hohles Backenpusten: „Deutschland ist zu groß, um sich raushalten zu können.“
Weiter schreibt der einfache Bundestagsabgeordnete: „Wir Deutsche sind oft damit zufrieden, uns im Reich des Wünschbaren aufzuhalten.“ Ja, das sind so typische Gabriel-Sätze, die sich immer noch von hintenrum der Solidarität der Menschen versichern wollen, wo es ehrlicher wäre, sich endlich einzugestehen, dass die Wunschvorstellungen auch der Politik Gabriels nicht mit dem Machbaren in Einklang zu bringen waren, dass Politik scheiterte, das Land spaltete und Europa so entsetzlich entzweite.
Von seinen Reisen als Außenminister will Gabriel, so schreibt er weiter im Tagesspiegel, folgende Erkenntnis mitgebracht haben:
„Unsere Nachbarn nehmen ein Deutschland wahr, das so sehr an seine gute Mission glaubt, dass es dabei die anderen um sich herum nicht mehr versteht, ja sogar missachtet und auf sie herabschaut.“
Ja doch, wem den Westharz, wem Goslar und Braunschweig vertraut ist, wer die Wirkungsstätten Gabriels der Anfangsjahre so gut kennt wie der Autor hier, der weiß, wie tief der Fall zurück in die trockene Realität dieser Region gewesen sein muss, der zu entfliehen Gabriel die Hälfte seines Lebens aufgewendet hat, die ihn sogar so weit geführt hat, mit diesem so banalen wie erdverwachsenen Goslar noch zu kokettieren, als er den türkischen Außenminister Platz nehmen ließ, um gemeinsam Bodenständigkeit zu demonstrieren – im tatsächlich irrtümlichen Glauben, hier nie mehr sein zu müssen, sondern nur sein zu mögen – von Zeit zu Zeit.
Nein, dieses Goslar, dieses Braunschweig, das sind Orte nur noch als Erinnerungsstützen für weiterhin Ortsansässige. Wer hier von außerhalb kommt oder studiert, der kommt nicht an, der nimmt nur mit, bleibt lebenslang mit attraktiveren, mit lebendigeren und zukunftsfähigeren Orten verbunden.
Vielleicht irgendwann wird Goslar eine Straße oder einen kleinen abwegigen Pfad ein bisschen pflichtschuldig auch nach Sigmar Gabriel benennen. Aber so etwas passiert hier nicht zu Lebenszeiten. Zu tief sind die Wunden, die der Klüngel geschlagen hat vom Kreisverband bis hoch hinauf auf dem Wege der vollkommenen Vergoslarung der deutschen Sozialdemokratie. Es gibt da diesen poetischen Titel der ZEIT: „Alles begann in Goslar.“ Und es wird auch in Goslar enden, kann man getrost anfügen, wenn man notgedrungen so etwas wie Empathie mit diesen Menschen hier zwischen Harz und Heide teilt.
Im Tagesspiegel ist Sigmar Gabriel derweil beim deutschen Alleingang in der übereilten Energiewende angekommen und der Aussage: „Doch gab es keinen Versuch, sich mit den europäischen Nachbarn über die Energiepolitik zu verständigen.“ So aufgeschrieben, als würde ihn das alles nichs angehen, als wäre er nicht dabei gewesen, als wäre der Auftrag zur politischen Gestaltung nie mit Amt und Würden verbunden gewesen, sondern das Amt selbst alleine eine Art Lohn oder Bonus dafür, sich überhaupt von Goslar aus so weit und so erfolgreich hochstrampelt zu haben.
Und im dritten Teil seiner – ja, was ist das eigentlich, eine Bewerbung? Aber wofür? Eine politische Agenda oder doch nur immer weiter Abrechnung? – im dritten Teil seines Textes im Tagesspiegel jedenfalls ist Gabriel angekommen, wo es ihn zwischen den Zeilen schon die ganze Zeit hingezogen hat, wo er aber erst so spät aufschlagen durfte, um nicht unter Verdacht zu geraten, immer nur das eine Thema spielen zu wollen: die Massenzuwanderung.
Gabriel schriebt: „Das dritte und wohl einschneidendste Beispiel ist die Flüchtlingspolitik.“ Beispiel wofür? Müssen wir im Text zurückscrollen. Ah ja, am Anfang stand es: Es geht um Beispiele, die verdeutlichen sollen, dass Deutschland „die anderen um sich herum nicht mehr versteht, ja sogar missachtet und auf sie herabschaut.“
Und dann macht Gabriel etwas, dass auf eine Weise perfide ist, die nichts mit Goslar und dem Menschenschlag hier zu tun haben kann, sondern einfach von einer Charakterlosigkeit diktiert wird, die weltweit nur eine Wiege kennt: die Macht. Für Gabriel hat erst die große humanitäre Geste der angeblich überwältigenden Mehrheit der Deutschen der Politik, also auch ihm selbst, einen Auftrag erteilt, von dem sich die meisten anderen europäischen Mitgliedsstaaten hätten erpresst gefühlt: „Ich muss eingestehen, dass ich das damals auch nicht gesehen habe.“
Unfähig, so etwas wie Schuld am Versagen auf sich zu nehmen, schreibt Gabriel: „So sehr, wie wir uns und unsere Moral feierten, so heftig schüttelten unsere Nachbarn den Kopf.“ Dabei meint er tatsächlich uns Deutsche. Und nicht – „uns“, Regierung. Gabriel gesteht: „Für mich schien der Nachweis erbracht, dass nicht nur die Alliierten damals Nazi-Deutschland besiegten, sondern wir es auch selbst geschafft hatten.“ Goslar endlich nazifrei. Der Sohn des Nazis entnazifiziert seine Heimatstadt. Alles nicht zu glauben aber doch leider wahr. Und klar, da ist ja noch dieser kurze Youtube-Clip, wo ein paar schräge rechte Vögel den Politiker an seinen Vater erinnern und dafür den Mittelfinger abernten können.
Aber zurück zu dieser maßlosen Gabriel’schen Selbstüberschätzung, aufgeschrieben für den Tagesspiegel im Jahre eins nach dem totalen Machtverlust. Größenwahn in der Politik ist insbesondere wohl dadurch gekennzeichnet, dass der Politiker irgendwann wirklich davon überzeugt ist, er sei Medium des Volkes, das Volk würde wirklich und real durch ihn sprechen, wenn Gabriel weiter schreibt:
„Zum einen erschien uns Deutschen unser eigenes Handeln quasi interessenlos. Wir glaubten, wir handelten nicht, weil wir deutsche Interessen verfolgten, sondern in der Überzeugung, etwas für die Menschheit an sich zu tun. Für das Gute, Humane, das Richtige.“
Wenn man hingeht und an der nächsten abgeblätterten Ecke vielleicht noch ein Döner vom dünn belegten Spieß gekratzt bekommt, wenn der Türke nicht längst in die nächste Großstadt desertiert ist, nur weg von diesem Goslar und seinen desillusionierten Menschen, unter denen sich immer noch einer findet, der allen Ernstes für alle anderen behauptet, sie würden sich auch in Goslar weit über die Brüstung lehnen, „für das Gute, Humane, das Richtige.“
Die AfD hat in dem kleinen Ort im Westharz mittlerweile schon über 15.000 Anhänger, gegenüber im Ostharz sind es im Wahlkreis 68 zwar schon 23.859 Stimmen, aber der Abstand wird kleiner. Und dafür gibt es gewichtige Gründe und ernstzunehmende Verantwortlichkeiten auch bei einem so unschuldig via Tagesspiegel ums Eck kommenden NRP.