Tichys Einblick
Buntes Treiben

Querdenker-Demo in Berlin: Ein großes Happening mit kleinen Verstörungen

Die Teilnehmer an diesem Spätsommertag erleben die Berliner Version eines verrückten großen Festes für religiöse Angebote aller vorstellbaren und nicht mehr vorstellbaren Art. Aber keine Forderung der Demonstration hat eine überlagernde politische Präsenz gewonnen.

© Gregor Leip

Fangen wir mit der Teilnehmerzahl an: Wer ein bisschen Erfahrung mit Menschenmengen hat beispielsweise aus dem Großveranstaltungsbereich, der kann hier schätzend hochrechnen, so er den Bereich der Querdenker-Demonstration und die Seitenstraßen einmal abgegangen ist. Nehmen wir einmal die Berliner Waldbühne und das Menschenaufkommen im Vorfeld eines Konzertes dort. Die Waldbühne fasst etwas mehr als 20.000 Personen. Aber wenn dort veranstaltet wird, dann muss Berlin nicht kapitulieren, die Menge ist durchaus überschaubar. So darf man schätzen, dass bei der Querdenker-Demonstration wohl drei, vielleicht vier Mal so viele Besucher erschienen sind, als die Waldbühne fasst.

Die Konzerte dort dauern allerdings nicht vom Morgen bis in die Nachtstunden, also muss man bei den Querdenkern noch nachrückende wechselnde Besucher dazu rechnen. Auf Grundlage dieser Schätzung mögen es noch keine Hunderttausend gewesen sein, aber vielleicht annährend. Jedenfalls keine Million oder mehr, wie auch aus den Reihen der Veranstalter im Vorfeld gehofft wurde, nein, nicht einmal eine halbe Million ist zusammengekommen. Aber auch knapp Hunderttausend sind in Zeiten von Corona eine Menge und beweisen zunächst einmal erfolgreich wie profan eines: eine große Sehnsucht, sich endlich wieder einmal unter Menschen zu begeben, Mensch zu sein, sichtbarer Teil einer Gruppe zu sein. Der Mensch ist eben nicht gern allein.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Die Anreise am Samstagmorgen von Niedersachen aus nach Berlin ging über die Autobahn so reibungslos wie selten. Keinerlei Staus, keine Demoteilnehmer auf der Nebenfahrbahn, etwa an Deutschlandfahnen oder sonstwie erkennbar. Selbst noch kurz vor und in Berlin keinerlei Anzeichen, dass sich diese Stadt mehr als sonst schon gewohnheitmäßig im Ausnahmezustand befände. Ich fahre mit meinem Bruder, der mir freundlicherweise assistiert und einem türkischstämmigen deutschen Freund und Nachbarn, der von uns dreien alltags wahrscheinlich noch auf offensivste Art zeigt, dass er dieses Deutschland und seine Menschen liebt. Aber dazu gleich.

Von Berlin-Moabit aus, wo wir bequem unser Fahrzeug geparkt haben, geht es in fünfzehn Minuten Richtung Siegessäule an der Spree entlang. Und bis kurz vor dem Abbieger Richtung Siegessäule gegen 10:30 Uhr keinerlei Anzeichen irgendeiner Aufregung, auch hier keine Menschenmengen, die sich drängen. Ja, auf dem Fluss patrouillieren zwei Boote der Polizei, alle mit feschen amerikanischen Sonnenbrillen, aber sonst so ruhig, so brav und lächelnd, als ginge es zum gemeinschaftlichen Angeln.

Wir biegen also auf den großen Stern mit Siegessäule ein, auch hier sind die Massen noch überschaubar. Zur Rechten vor dem Bismarck-Nationaldenkmal, der hier schon seit über einhundert Jahren aus dem Sommergrün der belaubten Bäume und Büsche auf die Siegessäule schaut, wehen die schwarz-weißen-roten Fahnen von vielleicht knapp einhundert Reichstreuen oder Reichsbürgern. Mehr als nur Folklore sicherlich. Die meinen ernst, was sie da anbieten. Und sie dominieren zunächst den ersten Eindruck. Aber nur, wenn man zufällig von dieser Seite den Platz betritt.

Sagen wir es so: Kaiserwetter ohne Kaiser. Na und? Auf den T-Shirts, die extra angefertigt wurden, tragen die Nostalgiker ein Herz in ihren Farben mit dem Satz: „Aus Liebe zu Deutschland“. Ich bin nicht ganz sicher, aber als die Bild vor Jahrzehnten „Ein Herz für Kinder“-Aufkleber beilegte, kam die NPD mit „Aus Liebe zu Deutschland“-Stickern heraus, die beinahe genauso aussahen, nur dass die Nationalen damals Schwarz-rot-gold im Inneren des Herzens bevorzugten.

In der Demo drinnen beobachtet
Unter den Demonstranten: Friedefreude, Kaiserflagge
Einer trägt Thors Hammer um den Hals und kommt aus den östlichen Bundesländern, wo die ganze rechte Folklore hier in Berlin eigentlich bayrisch anmutet. Und als sich die kleine Gruppe des Kaisers Fahnen schwenkend in Bewegung setzt von der Siegessäule Richtung Brandenburger Tor, was dauern kann, sorgt das am Rande nicht nur für irritierte Blicke, viele der Demonstranten aus der Mitte der Gesellschaft müssen grinsen ob dieses Bierernstes mitten hinein in die ansonsten so gelassene, gefasste Gemeinde.

Als der Zug einmal steht, skandiert ein Vorbeter des Vereins sogar noch: „Wir müssen unseren König von Preußen rufen, der auch Kaiser ist, wir müssen nach Baden-Württemberg, weil er wartet auf uns!“ Ja, das ist schon ziemlich eigen, was da aus den Bierzelten und Hinterzimmern schwiemeliger Eckkneipen ans helle Sommerlicht gespült wurde. Nein, das sind auch keine Nazis, aber es besteht wohl durchaus eine reale Sehnsucht, wieder geführt zu werden. Was machen solche Leute privat? Sind das alles Archäologen? Gefährlich? Im Gespräch jedenfalls ganz freundlich. Also Wölfe im Schafspelz? Vergessen wir das für den Moment. Von denen soll man sich also distanzieren? Von wem noch? Das wäre nicht nur inflationär, sondern albern.

Aber weg nun da und hin zum weiteren bunten Treiben, die Straße des 17. Juni ist lang und viele Menschen locker unterwegs am Flanieren in Erwartung eines Demonstrationsmarsches, der später dann doch möglicherweise rechtswidrig abgesagt werden wird. Che-Guevara-Fahnen wehen hier sogar. Und eine bis hoch hinauf ins Gesicht tätowierte schlanke Schönheit aus Polen, mit knappen „Polska-Shirt“ und blaugefärbten Extentions, fotografiert begeistert den kleinen Aufmarsch der Kaiserlichen und stellt diesen also ihr individuelles Love-Parade-Feeling der 1990er gegenüber. Die bunten Fahnen der Schwulenbewegung sind hier ebenso natürlicher Teil des Fahnenmeeres, wie die amerikanische Flagge hier gerne neben der bundesdeutschen geschwenkt wird. Rote Fahnen weniger. Ja, ein paar schwarz-rot-goldene mit Hammer und Sichel drauf, aber darunter steht dann „DDR 2.0“.

Ein Spaß, ein Ausflug fröhlicher Menschen, kaum Polizei bis hierher. Später, bei der Auflösung des angemeldeten Demonstrationsmarsches wird es etwas ruppig zugehen, aber das war es dann auch.

Blick zurück - nach vorn
Blackbox KW 35 – Der Tag der Freiheit?
Längst wieder daheim am Abend erreichen uns noch Bilder der stehenden Veranstaltung via Internet-Livestream von der Bühne. Viele bekannte Gesichter, die tagsüber schon dort unterwegs waren. Am Abend überwiegt das Hippietum, die Kaiserlichen schon wieder zurück am Eichenwaldtresen. Und wo am Tage nur wenig Migranten unterwegs waren, von denen man auf dem Weg zur Veranstaltung in diesem Berlin 2.0 noch so viele gesehen hat, sind am Abend doch einige unter den Zuschauern im Live-Youtube.

Ein befreundeter Journalist, der zu Hause blieb und dafür Youtube schaut, schickt mir begeisterte Hymnen auf das, was er da sieht und per WhatsApp. Da ist tatsächlich die Rede von „wunderbaren Kindern des Friedens, die die Botschaft von Love & Peace in die Welt hinaustragen.“ Weiter: „So wundervoll, eine historische Nacht.“ Um Himmelswillen! War der Mann sonst noch nie in Berlin, frage ich lachend zurück. Wäre er doch, dann wäre bald jeder Abend hier historisch. Berlin feiert praktisch seit den 1980er Jahren durch und wirkt heute vielerorts wie vierzig Jahre auf Droge, immer noch drauf, nur eben viel älter geworden. Nein, diese multikulturelle rot-rot-grün verregierte Hauptstadt kann doch niemals der Ausgangspunkt etwa einer Erhebung gegen die ewige Bundeskanzlerin sein. Was hier passiert, folgt einem bunten Muster, fast vollkommen egal, wer hier ins Horn bläst zur Attacke.

Was die Teilnehmer allerdings an diesem wundervollen Spätsommertag erleben, darf als die schlanke Berliner Version eines Kumba Mela bezeichnet werden, dieses größten Festes der Welt für religiöse Angebote aller vorstellbaren und nicht mehr vorstellbaren Art und Weise, dargeboten in tausenden Zelten am staubigen indischen Wegesrand. Dieses kleine Kumba Mela ist das Verdienst des Querdenker-Veranstalters. Und es ist streckenweise ganz wundervoll. Wundervoll verrückt.

Durch die Corona-Einschränkungen arbeitslos gewordene Clowns für Kinder verteilen Flyer: „Wenn der Clown arbeitslos ist, wie soll es Kindern dann gut gehen?“ Ein Wagen verkauft überteuert kleine Wasserflaschen für die Durstigen an der Strecke, nicht anders als sonst auf solchen Eventmeilen. Mein türkischstämmiger Begleiter sagt lachend: In der Türkei wären hier viel mehr Händler unterwegs. Einer hat Kekse gebacken und verkauft diese aus einem Körbchen heraus. Aber Selbstgebackenes von einem Fremden lieber nicht. Könnte sein, dass man am Ende ebenso verzückt schaut, wie so viele hier.

TE-Reportage aus Berlin
Druck auf die Demonstranten
Eine Truppe verstört dann eher, bietet in lila Gewändern wohl selbst gemachtes und abgefülltes Wundermittel gegen Corona an. Wenn Corona aber so ungefährlich sein soll, wozu dann dieses lila-verstrahlte Vitamin D3? Ich glaube es war Nina Hagen, die in den 1980ern irgendwas auf Eigelb-Basis aus den USA anbot, das garantiert gegen AIDS helfen sollte. Dann starben so viele. Mittlerweile hat die Schulmedizin diese potentiell tödliche Krankheit für ein längeres Leben in der westlichen Welt eingehegt, dort, wo man sich diese teuren Mengen an Medizin auch leisten kann. Impfung dagegen gibt es bis heute nicht.

Ach man kann es gar nicht alles aufzählen, was hier von der in China verfolgten Falun-Gong-Bewegung bis hin zu jeder Menge Einzelkämpfer mit Pappen und Botschaften am Wegesrand unterwegs ist. Da steht „Erste Welle, zweite Welle, Dauerwelle“, eine andere hat ihren Edding geschwungen hin zu „Söder die Pfeife, das Original“, um unter diesem Schild kleine aber sehr schrille Blechpfeifen an den Mann zu bringen.

Ja, es ist phasenweise wundervoll, was der Veranstalter hier geschafft hat, aber es ist eben auch eines leider nicht: gelungen von Veranstaltungsseite, wenigstens bei ein paar der durchaus formulierten Forderungen an die Regierung auch dafür zu sorgen, dass diese Forderungen eine alles überlagernde Präsenz haben an diesem schönen Tag. Diese Veranstaltung ist überaus unterhaltsam, manchmal auch schön anzusehen, aber es kann tatsächlich alles und nichts sein und eine große Freude der Menschen, endlich wieder einmal in der geliebten Masse unterwegs zu sein.

Corona-Sorgen hat hier so gut wie keiner. Wer hier zu seinem Schutz dennoch Maske trägt, wird schief angeschaut, der macht sich verdächtig, von der anderen Seite zu kommen.

Und wo wir schon bei den Merkwürdigkeiten sind: Es sind hier verdammt viele Freikirchler und sonstige Christreligiöse unterwegs. An praktisch jeder Ecke irgendein Jesus-Flyer und selbst von den Bühnen herunter Kanzelgeschwätz. Beinahe so, als wäre die so perfekt organisierte Querdenker-Truppe selbst irgendwie ein freikirchliches Produkt, aber darüber ist nichts bekannt.

Wie steigert man "alternativlos"?
Corona-Demokratie: Die Vollendung der Spaltung
Kommen wir aber noch zu den wirklich negativen, zu den wirklich unangenehmen Begleiterscheinungen am Rande dieses Festes. So moderierte eine Kollegin vor Kameras mitten auf der Straße des 17. Juni die Veranstaltung und ist dabei wohl als Vertreterin der „Mainstream-Presse“ erkennbar. War sie von der Bild? Die Beschimpfungen um sie herum wurden jedenfalls von Minute zu Minute wüster und wilder, die Menge drängte sich immer weiter zusammen, Wasserflaschen flogen, „Lügenpresse“ wurde aus verzerrten Gesichtern geschrien, eine bedrohliche Situation mindestens für Kameramann und Moderatorin, die hier in gutem Glauben ohne Begleitschutz aufgelaufen waren. Ich frage also einen der am lautesten Plärrenden, von welchem Sender die Dame denn wäre, er schreit nur weiter und sagt, er wisse es nicht. Als ich ihn frage, warum er denn dann so schreie, da er es doch nicht einmal selbst wisse, entdeckt er meinen am Hals baumelnden Presseausweis und ruft in die Runde: „Hier ist noch einer!“ Wir verlassen besser den Bereich, es wird noch eine Weile „Lügenpresse“ hinter uns hergeschrien, da sind wir dann aber schon bei den tanzenden Hare-Krishna-Jüngern angekommen. Schöne Menschen, biegsame Körper in Gewändern, weicher kehliger Gesang.

Wir sind am späten Nachmittag auf dem Rückweg, fünfhundert Meter von der Siegessäule entfernt ist Berlin schon wieder Berlin, da sehen wir am Rande des Spreeufers eine alte Dame, die einen Baum festhält. Mein Bruder fragt, ob man helfen könne, ich denke zunächst, es sei nur eine spleenige Naturreligiöse. „Es geht gleich wieder“ antwortet sie uns, aber irgendwie gebrochen. Wir sind unsicher, bleiben dann aber und hören zu und erfahren, dass die alte Dame auf der Veranstaltung war, weil sie Sorge hätte, dass die Demokratie kaputt geht unter den Corona-Maßnahmen der Regierung.

Und dann zittert die Stimme noch mehr, als sie uns erzählt, auf der Demo wären Rechte gewesen, die hätten israelische Fahnen mit dem Davidstern getragen. „Aber das geht doch nicht!“, sagt die vielleicht 75-Jährige nun voller Empörung. Wir sind da am Baum bei ihr etwas ratlos und schenken ihr dann eine der niedlichen aber sehr lauten Blechtröten, von denen wir welche gekauft hatten, weil uns die Verkäuferin gefallen hatte – sie solle doch bitte beim nächsten Mal viel Lärm machen, wenn sie sich so ärgert.

Die alte Dame freut sich darüber und lächelt schon wieder. Wir verabschieden uns, sie ruft uns als Dankeschön ein warmes „Shalom“ hinterher. Das hebräische „Shalom“ bedeutet Befreiung vom Unglück aber auch Gesundheit, langes Leben, Frieden und Ruhe. Und das passt dann doch wieder so schön zu dieser Veranstaltung. Jedenfalls zum überwiegenden Teil.

Anzeige
Die mobile Version verlassen