Deutschland, Leitkultur, Fußball, gesungene oder verweigerte Hymne, Wimpel- und Fahnenmeer – die Debatte um die Frage, wer wir Deutschen waren, sind oder sein wollen, ebbt nicht ab. Im Gegenteil, sie bekommt in theoretischen Diskussionen nicht selten einen Drall, der mit der tatsächlichen Wirklichkeit kaum mehr etwas zu tun zu haben scheint.
Daran jedenfalls musste ich nach einem Fußballabend mit Familie vor dem Fernseher denken. Der ist Mittelpunkt des Wohnzimmers, ein ziemlich großes Gerät, die gibt es ja mittlerweile recht preiswert im Discounter mit Diagonalen übrigens, die ihn automatisch in den Mittelpunkt des Raumes stellen, unabhängig davon, wie oft man ihn anstellt. Dabei erinnere ich mich dunkel an das Gerät meiner Großeltern, das nur dann als Fernsehgerät in Erscheinung trat, wenn Opa die beiden Klavierlack-Falttüren mit dem goldenen Schlüssel öffnete und zur Seite schob. Meistens geschah das sonntags ab 18 Uhr zur Shiloh-Ranch – oder war es Bonanza? – nachher kam noch etwas Politisches, dann Tagesschau und Tatort. Oma schmierte dazu Schnittchen und steckte lustige Faltschirme mitten in die Gurken auf der Leberwurst. Faltschirm, Faltfernsehen, gefaltete Servierten – gab es damals eine Leidenschaft für Faltungen?
Egal, jedenfalls saß ich mit den Kindern auf dem IKEA-Sofa vor besagtem Fernseher, der vom Plastik-Hirschgeweih darüber bis fast hinüber zur Autogrammkarte von Sarah Wagenknecht mit einer Schnur mit kleinen Deutschland-Wimpeln aus Plastiktütenmaterial geschmückt war. Nicht aus uneingeschränktem Nationalstolz, sondern wohl mehr deshalb, weil diese Wimpelschnur noch von 2014 zerknittert im Schrank hinter den Dauerbrenner-Geburtstagskerzen lag.
Er kaufte also das Knabberzeugs für den Fernsehabend, schichtete die Chips ordentlich auf einen Teller, und brachte zwei Schalen mit an den Wohnzimmertisch, eine für die weiß-rosa Schokopfefferminz-Dragees und eine weitere, für die bunten Schokoerdnüsse. Letztere waren eine schon verbilligte Sonderedition: WM-Nüsse in den Deutschland-Farben schwarz-rot-gelb. Die sahen lecker aus, also griff ich als Erster hinein und erwischte drei Nüsse. Und was soll ich ihnen sagen, ich hatte zwar blind zugegriffen, weil das Spiel gerade angepfiffen wurde, aber ich hatte dennoch exakt die Deutschland-Farben erwischt. Persönlich fand ich dass einen ziemlich sensationellen Zufall, die Kinder eher nicht. Aber so oft sie es versuchten, sie waren nicht in der Lage diesen Zufall zu wiederholen. Doch, einmal gelang es,
aber der Junge hatte, davon war ich überzeugt, heimlich geblinzelt.
Kurzum, eine Diskussion entbrannte. Es ging natürlich um die Wahrscheinlichkeit, mit einem Griff nach drei Nüssen (ungefähr die Portion, die sich wohl die meisten mit einmal in den Mund stecken), eine rot-schwarz-gelb-Sortierung zu erwischen. Für mich war die Sache natürlich sofort klar: die Chance muss bei 1:27 liegen, wenn man drei Nüsse hoch drei, Farben rechnet. Der Jüngste war sofort anderer Meinung: Die Chance läge viel höher als nur bei etwa vier Prozent (1:27). Er wusste es sogar zu erklären, aber ich wollte mein 1:27 auch erklären und so prallten zwei Erklärungen aufeinander, keiner konnte dem anderen zuhören, jeder dachte, er hätte recht, also müsste der andere doch nur aufpassen, um zu verstehen und damit sei die Sache doch erledigt und man könnte wieder Fernsehen schauen.
„Zwanzig gelbe Nüsse, zwanzig rote, zwanzig schwarze.“, erklärte ich meinem Freund Herman aus Berlin am Telefon – den erinnerte ich nämlich als guten Kopfrechner. „1:27 klingt gut.“, meinte er. Und erzählte dann noch etwas vom Rechenweg, der etwas kompliziert wäre, da man zunächst 1:60, 1:59 und 1:58 nehmen müsse, es wäre schon kniffelig. Aber wenn man die drei Nüsse mit einmal greifen würde, wäre das zu vernachlässigen. Ein weiterer Freund wurde angerufen, dessen Tochter gerade Abi-Feier hatte, Leistungskurs Mathematik (!), er soll zurückrufen, wenn die Tochter es geklärt hätte.
Sohn blieb derweil stur, war fest davon überzeugt, dass jeder zehnte Griff sitzen müsste. Und weil nun so schnell keiner zurückrief und auch die Abiturientin länger brauchte, begann ich die Kombinationsmöglichkeiten auf einem Zettel aufzuschreiben. Meine Tochter beugte sich dabei von der Seite über das Papier und musste immer breiter grinsen, während der Jüngste längst schon wieder Fußball schaute, zu überzeugt war er von seinem Ergebnis. Die Tochter grinste sich also einen, lachte irgendwann laut und fragte: „Sag mal, erkläre mir doch mal den Unterschied zwischen Gelb-Gelb-Schwarz und Gelb-Schwarz-Gelb. Oder den, zwischen Rot-Rot-Schwarz und Schwarz-Rot-Rot.“
Ich muss Ihnen leider sagen, ich brauchte auch hier noch eine Weile, um zu verstehen, was sie überhaupt meinte. Aber dann war es mir etwas klarer: Ich hatte theoretische Kombinationen errechnet während die Kinder viel praktischer unterwegs waren. Natürlich ist die Reihenfolge der einzelnen Kombinationen völlig gleich. Und so reduzieren sie sich auf zehn. Oder doch nur auf neun?
Auch diese Frage konnten wir noch klären und Fußball schauen. Uns war es sogar völlig egal, ob wir da nun gemeinsam einen typisch deutschen Moment erlebt hatten, wahrscheinlich erleben Italiener oder Türken zu Hause ähnliche Momente, nur eben anders. Sicher sind auch in einer Handvoll Pistazien oder Sonnenblumenkernen ein paar interessante Rechenaufgaben versteckt, die den Telefonjoker benötigen, wenn kein Penny in der Nähe ist.
Aber völlig sicher bin ich trotzdem noch nicht, irgendwie kam mir die Kniffelei um bunte Nüsse schon ziemlich deutsch vor. Deshalb gerne eine Abschlussfrage an Sie als Leser: Wer hat nun wirklich richtig gerechnet? Weiß das jemand? Liegt die Chance, mit einem Griff die deutschen Farben zu erwischen, bei 1:10, wenn jeweils zwanzig Nüsse einer Farbe im Schälchen liegen? Ich bin gespannt auf Ihr Ergebnis.