Ich spreche mit einer über 80-Jährigen, die in der Nachbarschaft aus ihrem Fenster schaut: „Sollen wir Ihnen etwas von Penny mitbringen?“ Nachbarin lacht herzlich, nein, sie ginge morgen selbst mit ihrer Tochter. Ob sie denn keine Angst hätte, sich anzustecken. „Ach Unsinn!“, lacht sie weiter, sie hätte schon viel schlimmere Zeiten erlebt.
Vor Penny Jugendliche mit Corona-Bierflaschen aus dem Sechserpack. Einer spricht Passanten immer wieder von der Seite an: „Ich hab Corona, haha.“ Die jugendlichen Biertrinker lachen herzlich.
An der Kasse die freundliche Kassiererin, die da sitzt wie sonst auch immer. „Hast Du keine Angst?“ Sie schaut erst überrascht und antwortet: „Was soll ich denn machen?“ Und weiter mit einem Lächeln: „Zuhause ist doch auch langweilig.“
Ohne Schutz an der Supermarkt-Kasse. Nicht nur die Kassiererin ist hoch gefährdet. Gründlicher kann man Viren wohl kaum verbreiten, als an so einer Kasse.
Kann man so ein Verhalten eigentlich irgendwo melden? Und würde dann ein Rollkommando kommen mit einer Ermahnung und einer Lage Gummi-Handschuhe und Mundschutz? Die fehlen aber, wie eine Frau vom Gesundheitsamt in Maischbergers Talkshow gesagt hatte, sogar schon beim Gesundheitsamt.
Derweil lobt die Kanzlerin die Arbeit auch der Verkäuferinnen im Land, die Länder denken über eine Ausgangssperre nach. An den Flughäfen werden Nichteuropäer zwar abgewiesen, können aber einen Asylantrag stellen und werden dann doch eingelassen. Deutsche Prioritäten eben.
Wie sieht es derweil bei den Deutschen zu Hause aus? Fragen über Fragen ohne befriedigende Antworten.
Was ist eigentlich ein trockener Husten? Ist er trocken, wenn er nicht von Auswurf begleitet ist? So etwas hätte man früher mit sich selbst ausgemacht, weil das in der Zeit vor Corona keine Frage auf Leben oder Tod gewesen wäre, wie es der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet formuliert hat.
Wann schmecke oder rieche ich nicht mehr? Ist es schon verdächtig, weniger zu riechen oder zu schmecken als sonst? Oder bricht beides plötzlich einfach weg? Ist die Nackenverspannung, die sich so merkwürdig in den Arm hinunter zieht, schon der finale Hinweis, dass es einen jetzt tatsächlich erwischt hat? Ist das Hypochondrie oder Obacht?
Immer wieder hört man von Freunden und Bekannten, die hätten es wahrscheinlich schon gehabt. Fast jeder hat eine Erkältungsgeschichte aus der näheren Vergangenheit. Und weil man es ja eh schon hatte, ist man weniger vorsichtig. Sensiblere Gemüter ängstigen sich heimlich, um niemanden zu beunruhigen oder um nicht albern zu wirken, wenn selbst die Hochrisikogruppe der 80-Jährigen lachend am Fenster sitzt.
„Angst essen Seele auf“, nannte vor einigen Jahrzehnten der deutsche Regisseur Rainer-Werner Fassbinder einen seiner bekanntesten Filme. Das ist noch abstrakt ausgedrückt, wenn sich demjenigen schon ganz real der Magen umdreht, der mehr als einmal alle zehn Minuten trocken husten muss oder nach einem nicht allzu weiten Spaziergang so dermaßen außer Puste ist, dass es eigentlich nur diese potentiell tödliche Krankheit sein kann.
Aber was dann tun? Nein, es gibt noch keine Medizin dagegen. Es gibt nur Quarantäne. Verendet man am Ende in einem Notzelt ohne Kontakt zu den Angehörigen? Mit einer letzten Gelegenheit, sich über ein Smartphone einer gnädigen Krankenschwester ein paar Sekunden lang unter letzten Tränen von den Lieben daheim zu verabschieden, wie es diese gruseligen Nachrichten aus Italien erzählen? Italien ist ganz weit weg in diesem Moment und doch schon vor der Haustür.
Der Alltag geht weiter. Und ein Verhalten macht sich breit, das im normalen Leben Zeichen großer sozialer Kompetenz sein kann und das Niveau einer Gesellschaft reflektiert, die sich idealerweise am Befinden ihres schwächsten Mitgliedes misst. Das Verhalten nämlich, dass man die Bestürzung des Anderen herunterspielt, ihm Mut macht oder Trost selbst dann noch spendet, wenn man selbst schon untröstlich ist.
Der Mensch funktioniert wohl so, dass er selbst dem mit allen Zeichen des nahenden Unheils Ausgestatteten noch gut zuredet. So werden schon viele hoffnungslos Krebskranken zu hören bekommen haben, das würde doch alles schon wieder werden. Ja, das ist eine Lüge, aber auch finaler Akt des Mitgefühls, wenn das gute Zureden Ausdruck eines unerfüllbaren Wunsches nach Genesung ist und von beiden Beteiligten in dieser Situation auch so verstanden wird.
Verhaltensweisen und Chiffren aus einer Hochkultur
Mütter sitzen gemeinsam mit ihren Töchtern über den Schularbeiten, die per Email aus den Schulen kommen, schauen dabei vielleicht verstohlen zu ihren Mädchen hinüber und stellen sich ein paar bange Fragen, die immer einen Gedanken im Fokus haben: Alles soll bitte so bleiben wie es ist – Kontinuität wird zur Sehnsucht, so funktioniert der Mensch in Krisenzeiten.
Nun ist Gewissheit sicher hilfreich. Aber wie verschafft man sich Gewissheit? Und wie schafft man es dabei nicht hysterisch zu wirken?
Vor wenigen Stunden ein neues Video von Sattelberger in der Reihe „Meine Corona-Quarantäne“ auf Youtube mit dem Titel: „Meine Temperatur steigt.“ Der Manager erzählt von starken Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, erhöhter Temperatur und Schnupfen. Sattelberger sagt, die Realität wäre keine lineare Verbesserung, sondern ein Wellental, „ein Auf und Ab“. Aber es sei noch nicht so beängstigend, dass er das Krankenhaus anrufen würde. Er hofft einfach auf gute Besserung. Die wünschen wir ihm und allen anderen schon Betroffenen natürlich auch.
Einmal lachte Sattelsberger dann übrigens noch, als er erzählte, dass ihn das Gesundheitsamt jetzt fünf Tage nach seinem Test angerufen hätte, um ihn „zu registrieren“.
Sein schmunzelnder Kommentar: „Hauptsache die Akten stimmen.“ Die Ermittler, so das Gesundheitsamt zu ihm, würden sich am Folgetag auch noch bei ihm melden, „um die Infektionskette zu ermitteln“. Zwischenzeitlich hat Sattelberger aber selbst schon alle Kontakte angerufen und informiert. Sein neuestes Video endet mit den Worten: „Wir stehen das durch, gemeinsam. Einen guten Abend.“