Wer an eine Spaltung der Gesellschaft glaubt, der muss noch lange nicht ihre Überwindung als ultimative Lösung wünschen. Diversität ist Alltag. Demgegenüber stehen linke Ideologien der vergangenen beiden Jahrhunderte, deren Kernaufgabe es ist, die Überwindung einer imaginären oder tatsächlichen Klassengesellschaft zu erreichen.
Auch im beginnenden 21. Jahrhundert verortete man die Spaltung der Gesellschaft weiterhin dort, wo die viel zitierte Schere auseinander geht, wo eine Kluft zwischen Reich und Arm immer weiter wächst.
Das Hausblatt der Landeskirchen und der EKD beispielsweise formulierte es 2009 unter dem Eindruck der Finanzkrise so: Die zunehmende Armut ist das sichtbarste Zeichen, dass sich die deutsche Gesellschaft spaltet. Aber es würde den Blick verengen, sich allein auf die Unterprivilegierten zu konzentrieren. Denn zur neuen Ungleichheit gehört auch, dass die Mittelschicht absteigt. Die Spaltung der Gesellschaft wird sich also verschärfen. Das ist schwierig für eine Demokratie, die doch davon ausgeht, dass alle Menschen gleich sind.
Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung diagnostiziert eine „verfestigte Ungleichheit bei den Vermögen“. Reichtum basiert, so der Bericht, zu zwei Dritteln nicht auf Leistung, sondern auf Erbschaften oder Schenkungen. Nun steht allerdings 2017 längst nicht mehr nur der materielle Gleichheitsansatz im Fokus derer, die eine Spaltung der Gesellschaft beobachten. Martin Schulz, Kanzlerkandidat der SPD, scheiterte mit seinem politischen Programm für mehr Gerechtigkeit. Tatsächlich nämlich wird diese klassische, diese den Kapitalismus wie ein treuer Hund folgende Spaltung der deutschen Gesellschaft längst überlagert von einer solchen, die sich an gegensätzlichen Haltungen zur Massenzuwanderung ab 2015 festmachen lässt.
Autor Roland Springer schrieb gerade erst für TE, dass es die Einwanderung sei, die faktisch die Lage der Prekären verschlechtert. «Der „neuen Bourgoisie“ gegenüber stehen (…) die Verlierer der Globalisierung, die „Classes populaires“.»
Aber es gibt eine direkte Verbindung. So stellte eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) 2017 fest, das durch die Migranten der Anteil Niedrigqualifizierter an der Bevölkerung in den nächsten Jahren steigen wird. Und der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, befand schon Anfang 2016: „Der Sozialstaat wird durch die freie Zuwanderung zwangsläufig lädiert.“
Das ist der Wegweiser hin zu einer Spaltung der Gesellschaft, die sich weniger am materiellen, den an der ideologischen Ausrichtung festmachen lässt. Dort die Zuwanderungsbefürworter, hier ihre Kritiker. Im Zukunftsinstitut von Matthias Horx, für viele eine Art Guru der Zukunftsforschung, erkannte man zunächst Folgendes: „Die Deutschen leben in unterschiedlichen Welten und Wahrheiten (…) in unterschiedlichen Wertewelten.“
Nun kann, darf und soll man vielleicht auch unterschiedlicher Auffassung sein. Man muss keinen Zwangskonsens erreichen. Keine Zwangsvereinigung der Positionen. Aber es geht nie ohne Dialog. So wäre schon viel gewonnen, wenn jeder Gelegenheit bekäme, seine Positionen umfänglichen und ohne mediale Ausgrenzung auszubreiten. Ja, es muss zulässig sein, nicht der Auffassung von Martin Schulz zu sein, der im Wahlkampf erklärte, Migration sei „selbstverständlicher Begleiter unserer Geschichte“ und Integration sei Möglichkeit der Teilhabe „ohne Rücksicht auf Herkunft, soziale Position oder Religion.“ Hier lag die Betonung auf „Herkunft“.
Die einen berufen sich auf den Gleichheitsgrundsatz, die anderen pochen mindestens auf ihren prädestinierten Staatsbürgerstatus oder die Volkszugehörigkeit, die allerdings heute eine mythische Größe ist. Denn was zählt, was Bedeutung hat, ist nicht die Volks- sondern die Staatszugehörigkeit.
Deutsch oder nicht deutsch, die Masterfrage unserer Zeit ist nicht mehr die nach sozialer Gerechtigkeit, sondern die, die sich stellt, wenn man auf der einen Seite den Ethno-Nationalismus verortet und auf der anderen Seite den Willen, die Nation als Raum für ein Volk zu überwinden. So einfach wie schwer auszusprechen. Historisch betrachtet und im Dreisprung also vom Vielvölkerstaat zum Hambacher Fest und von dort über die Negierung aller nationalen Werte durch Nationalsozialismus und Auschwitz hin zur multikulturellen Gesellschaft in einem Vereinten Europa.
Das sind die Positionslichter. Und schon an diesem letzten Absatz mag man erkennen, wie schwer es ist, hier eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern oder aufzuhalten. Es wäre allerdings schon viel erreicht, wenn jeder die Position seines Gegenübers begreifen will, selbstverständlich nur, solange diese noch mit der deutschen Verfassung vereinbar ist.
Ein Konsens ist nicht nötig. Die unterschiedlichen Positionen werden dem Parlament übergeben und der Mehrheitsentscheidung überantwortet. Allerdings wäre es für Linke wie Rechte hilfreich, wenn apokalyptische Endzeithysterie und Fünf-nach-zwölf-Schreckgespenster außen vor bleiben würden. Nein, es geht nicht ohne Dialog.
Wirklich Dialog? In diesem Zusammenhang auf ekelhafte Weise schockierend – und ich benutze das Adjektiv hier mit Bedacht – was sich Autorin Sybille Berg in ihrer aktuellen Spiegel-Online-Kolumne glaubt, herausnehmen zu können, wenn sie ihre häufiger gelesenen Kolumnisten-Kollegen an Dialoggferne, an Scharfmacherei noch übertrumpfen will. Wenn sie offen zur Gewalt aufruft, als ständen wir kurz vor einem Bürgerkrieg. Verzeihen Sie die klaren Worte, aber Berg liefert hier ein Saustück ab, wie es selbst beim Spiegel lange kein zweites zu lesen gab. Und ein faktenfernes noch dazu. Den ausgerechnet an der Frankfurter Buchmesse, wo Linke brüllten, trillerten und wüteten, will Berg eben das böse Rechte ausgemacht haben, was nun mit linker Gewalt zu vernichten gilt, wenn sie von ihrem ranzigen Samtsofa (nein, sie war nie in Frankfurt) herunter in unanständiger wie abstoßender Hysterie giftet:
„Vielleicht ist der Schwarze Block, die jungen Menschen der Antifa, die Faschisten mit dem einzigen Argument begegnen, das Rechte verstehen, die einzige Bewegung neben einem digital organisierten Widerstand, die eine Wirkung hat. Es wird nichts mehr von alleine gut. Die Regierung wird uns nicht retten. Allein eine Neudefinition des Begriffs linker Aktivismus kann den Schwachsinn des Hasses und der Menschenverachtung stoppen. (…) Die Zeit des Redens ist vorbei. Es geht um die Rettung der Menschlichkeit.“
Offensichtlich geht es um so etwas wie eine Sehnsucht nach der letzten Schlacht. Um diese altweiberliche Nerzmantel gefütterte Erregung in der ersten Reihe am Boxring.