Da wird eine türkische Sunnitin aus Berlin Wedding von der Welt gefragt, was sie Weihnachten so macht, was Weihnachten ist, was sie glaubt, was die Deutschen an Weihnachten so machen. Ayten ist seit 22 Jahren in Deutschland. Sie ist heute Schulköchin, erfährt man. Erster Gedanke: Ob sie auch Gerichte mit Schweinefleisch zubereitet, um ihre Stelle zu behalten?
Und was sie da Ende 2016 erzählte, macht nachdenklich. Sie weiß nicht, was Deutsche an Weihnachten machen, Weihnachten seien ja alle bei sich und ihren Familien. „Würde mich jemand einladen, ich würde hingehen. Aber das hat noch niemand getan, und das kann man auch nicht erwarten.“ Eine nette Frau. Bescheiden, fast ein bisschen zu vorsichtig klingt sie. So, als sei es immer noch ungewohnt, über das Land zu sprechen, in dem sie die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens verbracht hat. Nun kann man sich vorstellen, wie schwer es sein muss, Weihnachten zu ignorieren. Als ihre Söhne klein waren, erzählt sie, wollten die einen Tannenbaum, aber sie musste ihnen erklären, „Weihnachten gehört nicht zu uns.“
Nun kommt, wer in Deutschland lebt, nicht darum herum. Vom Bäcker bis zur Tankstelle: Das öffentliche Leben hat in Lametta geflaggt. Ayten trägt Kopftuch. Ihre Töchter zwingt sie nicht. Aber sie wurde von ihrem Vater dazu gezwungen. Ihren Ehemann sah sie vor der Ehe nur ein einziges Mal, er nahm sie mit nach Deutschland. Hier wollte und konnte sie das Kopftuch ablegen. Dann starb ihr Mann. „Und auf einmal hatte ich Sehnsucht nach dem Kopftuch.“ Ihre Kinder sollen Muslime heiraten. Täten sie das nicht, wäre sie traurig, wenn ihre Partner keine Moslems werden wollen.
Mit Empathie betrachtet kann man sich wohl einfühlen in die Gedankenwelt dieser Mutter. Aber was sie erzählt, klingt heute schon wieder fern ab der aktuellen Probleme. Klingt nach den Sorgen der alten Bundesrepublik und der Gastarbeiteranwerbung. Man muss sich das immer wieder vergegenwärtigen: Kaum jemand aus der Generation der heute 50-Jährigen oder älter ist mit Migranten in der Schule aufgewachsen. Für die Kinder dieser Michaels, Elkes, Martins und Susannes ist es ganz normal, das ein wahrnehmbarer Anteil Kinder von Migranten mit ihnen die Kita, den Kindergarten, die Schule und immer öfter gemeinsam die Universität besucht. Freundschaften sind dort wahrscheinlicher, wo Religion im alltäglichen Leben keine große Rolle spielt.
Weihnachten ist der Ausnahmefall. Weltlich auf eine Weise ritualisiert, vermarktet und durch Feiertage angezeigt, dass sich auch der kaum entziehen mag, dem die religiös-christliche Bedeutung abgeht. Weihnachtsstimmung beginnt in Deutschland langsam ansteigend schon Mitte Oktober. Auffällige erste Anzeichen sind die Schokoladenweihnachtsmänner in den Supermärkten. Ein kollektives Einstimmen. Ein ansteigendes Raunen bis hin zur Fahrstuhlmusik.
Wer nicht glaubt, aber ehrlich in sich hineinhorcht, der kommt nicht umhin, sich einzugestehen, dass dieses Weihnachten wirkmächtig ist. Der Dauerberieslung kann sich kaum jemand entziehen. Und auch wenn die Kirchen, wenn die Pastoren von der Kanzel Mäßigung predigen oder gar zornig die Weihnachtsvöllerei verdammen, ist dieser gewaltige Weihnachtsaufmarsch immer noch die wichtigste Werbetrommel für das Christentum. Die Weihnachtsgeschichte ist der Bestseller. Die Protagonisten perfekt gewählt: Ein Baby in Windeln, sympathische Tiere um die Krippe herum gruppiert, drei Könige aus dem Morgenland mit Geschenken als Blaupause des Beschenkens und Eltern, mit großen Probleme, die dann aber doch eine bescheidene Unterkunft in einem Stall gefunden haben.
Es mag gut sein, dass schon diese „Welcome refugees“ Euphorie Ende 2015, als viele Deutsche auf den Bahnhöfen standen und den überraschten Zuwanderern und Flüchtlingen applaudierten, sie beschenkten mit Teddys für die Kinder und warmen Decken, dass auch das aus einer diffusen zwar, aber einer kollektiven Weihnachtsstimmung heraus passierte. Aufgefordert werden musste damals niemand. Und ehrlicherweise sind diese Bilder ebenso viral geworden, wie die Selfies der Kanzlerin. Der Weihnachtskanzlerin. Ayten erzählte, wenn sie bei den Nachbarn eingeladen worden wäre zum Fest, wäre sie auch gekommen.
2015 druckte die ZEIT eine Reportage aus einer Sammelunterkunft. Verbunden mit der fast schon naiven Frage: „Wie wird das Weihnachtsfest in den Flüchtlingsunterkünften gefeiert?“ Ein Foto zeigt zwei Flüchtlingsfrauen aus Somalia mit Kopftüchern bei einer Adventsfeier des Kinderschutzbundes in Schwerin. Wie viele Fallstricke sich alleine schon in dieser Bildbeschreibung verstecken: Die taz berichtete 2016 von Rechtsextremen, die Anfang Oktober – die Schokoladenweihnachtsmänner standen schon in den Supermarktregalen – Flüchtlinge durch Schwerin gejagt hätten: „In Schwerin haben über 30 Rechtsextreme vor zwei Wochen rund zehn Geflüchtete geplant gejagt und niedergeschlagen.“
Eben dieser Artikel wird von einer Werbung begleitet, wo die NGO Sea-Watch das perfekte Weihnachtsgeschenk anbietet: „Perfekt zum Verschenken: Die Sea-Watch Weihnachtsspende“. Untertitel: „Zeige, dass Dir das Sterben an Europas Grenzen nicht egal ist. Hilf uns zu helfen.“ Bebildert wird diese Aktion tatsächlich mit einem der Rettungsboote der NGO in einer Weihnachtsschneekugel! „Mit einer Weihnachtsspende zeigst Du Herz und Menschlichkeit. Du setzt ein positives Statement und regst Deine Lieben an, die Sea-Watch Crew auch in Zukunft zu unterstützen. Vielen Dank!“ Hier fragt man sich angesichts der umstrittenen Aktionen und mit Blick auf den Pull-Effekt, ob der Organisation überhaupt bewusst ist, wie dissonant das alles klingt.
Aber noch einmal kurz zurück ins Jahr 2015 zum Bericht der Zeit und der Frage nach Weihnachten im Flüchtlingsheim. Auf die Frage an einen Mitarbeiter des Heimleitungsteams, ob es denn zu Weihnachten wenigstens Weihnachtliches zu essen gäbe für die Notuntergebrachten, antwortet der: „Ich glaube an einem Tag gibt es Hirschrouladen. Ein großes Festessen werden wir für unsere Gäste jedoch nicht veranstalten. (…) Die meisten unserer Gäste haben keine besondere Beziehung zu Weihnachten. Wir sagen übrigens Gäste und nicht mehr Flüchtlinge, weil diese Menschen nicht mehr auf der Flucht sind.“
Auf die Frage, ob es denn wenigstens für die christlichen Minderheiten in der Unterkunft eine Gottesdienst geben wird, antwortet der ziemlich sybillinisch: „Wir werden hier keinen organisieren. Das lehnen wir ab. Wir wollen jegliche Form von missionarischer oder religiöser Arbeit nicht unterbinden, aber auch nicht fördern.(…) Natürlich könnte es zu einem Konflikt kommen, wenn wir das Ausleben einer Kultur oder einer Religion bevorzugt unterstützen würden.“
Fast zaghaft fragte die Zeit damals nach: „Gehört zu einer gelungenen Integration ein wenig deutsches Weihnachtsgefühl nicht dazu?“ „Nein, für mich ist das kein Ziel der Integration.“, antwortete der Mitarbeiter. Niemand solle gezwungen werden, mitzufeiern. „Diesen Menschen jetzt zu sagen: ‚Ihr müsst unsere Kultur annehmen‘, das fände ich anmaßend und falsch.“
Ein Satz, den man sich immer wieder gegenseitig vorlesen müsste, wenn es um Integration und um Leitkulturdebatten geht. Ja, die christliche Weihnachtsbotschaft ist heutzutage Ritualsfremden schwer zu vermitteln. Aber aus ihr heraus jubelten christlich geprägte Einheimische Zuwanderern an Bahnhöfen zu, aus ihr heraus gab es an Weihnachten Hirschbraten in der Unterkunft. Eine Einladung für Pessimisten. Für jene, die sich jetzt die Frage stellen könnten, wann das ganze Weihnachtslametta auch außerhalb solcher Unterkünfte zurückgefahren werden muss, um Konflikte zu vermeiden, „wenn wir das Ausleben einer Kultur oder einer Religion bevorzugt unterstützen würden.“