Weit über eine halbe Million Migranten aus Zentralafrika sollen sich bereits in Libyen aufgestaut haben, eine verschwindend geringe Anzahl von ihnen ist in als Folterlager bezeichneten Orten untergebracht. Wenige Tausende sollen es dort sein. Dennoch muss man sich keiner Illusion hingeben, dass die sich im Rahmen der Möglichkeiten frei in Libyen bewegenden Migranten, in irgendeiner Weise etwa nach europäischen bzw. deutschen Standards versorgt sind.
Dennoch: Was haben diese überwiegend jungen Männer mit Deutschland zu tun? Zu was verpflichtet es uns? Nein, die Welt war noch nie ein Ort gerechter Verteilung. Wir können uns allenfalls darum bemühen. Welche Schuld daran Europa trifft, zurückgreifend bis in die Kolonialzeit, ist Kern vieler Debatten und als eines von vielen Schuldeingeständnissen einiger wohlstandssatter Deutscher Anlass für Nichtregierungsorganisationen, für die Kirchen und Organisationen wie die Seebrücke, der sich schon annährend einhundert Städte und Kommunen angeschlossen haben, die sich theoretisch als „Freie Städte“ zur Aufnahme von vor den Küsten Nordafrikas in Seenot geratenen Menschen bereit erklärt haben.
Allerdings ist zunächst schon die Verteilung von Migranten auf die EU ungeklärt und was Deutschland betrifft weiterhin Bundessache. Italienischen Medien wie La Repuplica zufolge bewegt sich jetzt einiges auf EU-Ebene, wenn berichtet wird, Deutschland und Frankreich hätten bereits der Aufnahme von jeweils einem Viertel der in Italien ankommenden illegalen Migranten zugestimmt. Der Zeitplan für Entscheidungen ist bereits eng gefasst: Schon heute soll ein Treffen auf Malta geplant sein für Gespräche auf höchster Ebene und am 23. dieses Monats treffen sich hochoffiziell die EU-Innenminister ebenfalls auf Malta und Anfang Oktober folgt der EU-Ministerrat in Luxemburg. Die Verwirklichung der Flucht- und Migrationspakte der UN ist demnach in vollem Gange.
Für die Bundesrepublik gilt und galt bisher: Zunächst werden Asylbewerber in die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung gebracht und anschließend früher oder später auf die Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verteilt (das BAMF ist Behörde des Bundesinnenministeriums). Aber nicht willkürlich und von irgendwelchen BAMF-Beamten über den Kartentisch gebeugt, sondern innerhalb der Bundesrepublik nach einer komplizierten Verteilungsquote (Königsteiner Schlüssel bzw. Quotensystem EASY), die jährlich von der Bund-Länder-Kommission neu verhandelt und beschlossen wird, welches Bundesland wie viele Asylbewerber aufzunehmen hat – vor allem entlang des Koalitionsvertrages im Rahmen einer festgelegten Obergrenze für Gesamtdeutschland.
Mit anderen Worten: Es war bisher völlig unerheblich, ob sich Kommunen oder Städte darüber hinaus zu so genannten „sicheren Häfen“ erklärten, also die regional individuellen parteipolitisch günstigen Zusammensetzungen für solche Mehrheiten nutzen – ein rein symbolischer Akt.
Aber das soll nun anders werden. Und es ist kein geringerer als der deutsche Innenminister selbst, der hier entgegen bisheriger Verlautbarungen offensichtlich bundeshoheitliche Kompetenzen aufweichen will. Die Kanzlerin hatte sich gleich nach ihrem Sommerurlaub dafür eingesetzt, „Rettungsaktivitäten” auf dem Mittelmeer zu intensivieren, die deutsche evangelische Kirche will jetzt ein eigenes Schiff vor die Küste Libyens bringen, die Zusammenarbeit zwischen Schleppern und privaten bzw. demnächst möglicherweise wieder EU-Schiffen ist auf den Weg gebracht. Vorher muss allerdings noch geklärt werden, wo diese Migranten dann untergebracht werden sollen. Auch das scheint nun geklärt, wenn beispielsweise die Welt schreibt:
»Um der „Aufnahmebereitschaft der Kommunen“ zu entsprechen, habe das Ministerium Kontakt mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgenommen. Dieses solle den Ländern mitteilen, welche Städte zusätzlich Migranten aufnehmen wollen. Offensichtlich stapeln sich im Innenministerium bereits die Forderungen der Städte. Es sollen bereits Schreiben von mehr als 70 Städten und Kommunen eingegangen sein.«
Zweifellos eine Zäsur. Aber wie hoch der Druck ist, beweist die berichtende Zeitung, wenn in dem Zusammenhang noch von einem „zögerlichen“ Innenminister gesprochen wird. Seehofer hoffe noch auf eine EU-Lösung. Dass er selbst hier allerdings eine gewichtige Stimme hat, wenn die Innenminister zusammentreffen, darf nicht vergessen werden. Nein, ihm sind keineswegs beide Hände gebunden, wenn die EU Beschlüsse ausarbeitet oder fasst.
Dieses System Merkel der Aushebelung bundesdeutscher Souveränität, indem die nächst höhere Instanz von der EU bis hinauf zur UN diskret zur Entscheidung angerufen wird, die dann national nicht mehr in Frage gestellt werden kann, ist also jetzt auch zum Prinzip Seehofers geworden: die Aufgabe deutscher Interessen, die Umdeutung deutscher Interessen entlang der Erklärungen von fast einhundert Kommunen und Städten, die sich zu sicheren Häfen erklärt haben, ohne ihre Bürger zu fragen.
Die deutsche Bevölkerung wird bis dahin hingehalten, wenn der Innenminister zwar deutsches und EU-Recht erklärt: „Eine Kommune könne nach europäischem Recht nicht über die unmittelbare Aufnahme von Asylsuchenden aus einem anderen Mitgliedstaat entscheiden“. Das könne allein der Bund. Für die anschließende Unterbringung seien schließlich die Länder zuständig, also wiederum nicht die Kommunen.“ Wenn Seehofer aber bereits intensiv daran arbeitet, dieser Auseinandersetzung mit den „sicheren Häfen“ aus dem Weg zu gehen, wenn die Seebrücke-Organisation, die diese Häfen initiiert hat, sich bereits seit Monaten auf den Innenminister eingeschossen hat, der dem Druck offensichtlich nicht standhalten will, der sich also einmal mehr für sein Amt gänzlich ungeeignet erweist.
Mit anderen Worten: Es sind jetzt diese Städte und Kommunen, die dem Bund und dem Innenminister diktieren, wie die Unterbringung illegal nach Deutschland kommender Migranten zu regeln ist, der Bund soll demnach lediglich die Finanzierung dieser Unternehmungen weiter massiv unterstützen. Und es sind ja nicht irgendwelche Städte und Kommunen, die da vom Bundesinnenminister und der Budnesregierung die „schnellstmögliche Zusage“ erwarten, „dass wir aufnahmebereiten Kommunen und Gemeinden die aus Seenot im Mittelmeer geretteten Geflüchteten auch aufnehmen können.“
Es sind Städte wie Berlin, Detmold, Flensburg, Freiburg, Heidelberg, Hildesheim, Kiel, Krefeld, Marburg, Potsdam, Rostock und Greifswald. Es sind Städte mit überwiegend rot-grünen und rot-rot-grünen Mehrheiten und mit grünen oder roten Bürgermeistern. Aber längst nicht mehr nur ausschließlich, auch Regionalpolitiker der Union kommen der rot-rot-grünen Opposition entgegen und setzen sich für sichere Häfen ein, bisher war das ja auch nur ein symbolischer Akt, da kann man gerne mitgehen.
Aber ebenso wenig, wie die Flucht- und Migrationspakte der UN alles andere als eine nicht verpflichtende Willenserklärungen waren, sind auch die sicheren Häfen bald ganz reale Aufnahmeorte für Tausende, wenn nicht sogar für Hunderttausende, bedenkt man die Zahl der alleine in Libyen auf die „Seenotschiffe“ Wartenden.
Hier darf man eigentlich nur noch gespannt sein, wann dieser für die Organisatoren der Überfahrten so anstrengende Passus der „Seenotrettung“ gestrichen werden kann, wann man endlich direkt die libyschen Häfen anfahren kann, um diese lästigen wie gefährlichen Off-Shore-Einschiffungen endlich einstellen zu können, die einem geregelten Ausbau des Fährbetriebes bisweilen immer noch im Wege stehen. Dann übrigens kann endlich auch der Pull-Faktor als Pull-Absicht zugegeben werden, wenn sich Afrika in Bewegung setzt in Richtung der sicheren Häfen und der deutschen Rundumalimentierung.