Jetzt, wo die Kanzlerin das deutsche Familienporzellan restlos zerschlagen hat, werden auch jene Stimmen lauter, die sich bis dahin lieber mit abgespreiztem Finger an der dünnen Teetasse zurückgehalten haben. Dieser Tanz auf dem Vulkan erinnert an die letzten Tagen der DDR: Jeder möchte schnell noch zu den Regierungskritikern gehören. Jetzt gilt es bereits, sich für die Zeit danach zu positionieren, seine Akte von Merkelapplaus zu säubern – klar, das Internet vergisst zwar nichts, aber wenigstens ein Wechsel noch vor dem Wechsel sollte erkennbar sein.
Schon seit Jahr und Tag und nicht erst seit gestern kritisiert der Mediziner Matthias Schrappe die Corona-Maßnahmenpolitik der Bundesregierung. Der für sein Qualitätsmanagement bekannte Professor bekleidete schon diverse Funktionen im Gesundheitswesen – von der Mitgliedschaft im Sachverständigenrat bis hin zur Funktion des Generalbevollmächigten im Aufsichtsrat des Klinikums der Universität Frankfurt am Main.
Schrappes Internetauftritt bringt zwar mutmaßlich Legionen von Webdesignern zum Weinen, weil sie so staubtrocken und technisch mehr als simpel konstruiert ist, aber seine dort veröffentlichten „Thesenpapiere zur Coronapandemie“ werden auf der medizinischen wie politischen Entscheiderebene mindestens zur Kenntnis genommen.
Aus gut informierten Kreisen heißt es gar, sein erstes Thesenpapier von Anfang März 2020 soll die Kanzlerin persönlich veranlasst haben, sich telefonisch bei Schrappe zu melden, und dabei soll sie ihm vorwurfsvoll gesagt haben, dieses Papier käme doch wohl „zur Unzeit“.
Aber offensichtlich hat diese Mahnung der Kanzlerin den guten Mann nur noch befeuert; von da an kamen die Thesenpapiere nämlich in schöner Regelmäßigkeit. Ja, es gibt sie tatsächlich noch in Deutschland, solche Charakterköpfe, die nicht erst auf der Untergangsparty den Oppositionellen geben. Zu allem Überfluß gründete Schrappe Anfang Februar auch noch eine Initiativ-Gruppe „CoVID-Strategie“, die sich mit kritischen Fragen zur Corona-Epidemie befasst und „wissenschaftlich bzw. fachlich abgesicherte Postionen veröffentlicht“.
Die ausgewählten medizinischen Gefälligkeitsberater der Kanzlerin und Angela Merkel selbst sehen sich jetzt renommierten Medizinern und Kritikern gegenüber, vereint in einer Art wissenschaftsbasierter außerparlamentarischer Opposition rund um Schrappe. Und diese Opposition richtet ihr Augenmerk mit Scheinwerfer in der Hand auf die gesellschaftliche Schäden der Corona-Maßnahmenpolitik der Bundesregierung.
Noch gefährlicher: Schrappe kann auch Polemik. Im Interview mit dem Focus beispielsweise erklärte Schrappe:
„Die politische Führung verbreitet keine Botschaft, die eine Aufbruchsstimmung erzeugen kann. Nur Angst. Und das seit einem Jahr. Die ganze Gesellschaft ist in einem passiven Schockzustand.“
Vieles was Merkel anleiert, sei zu spät passiert. Dabei fehle der Regierung auch noch der Mut und überhaupt der Wille anzupacken. Der kleinste befürchtete Corona-Fall irgendwo in einer Kita würde schon ausreichen, dass sich keiner mal nach vorne wagt und von Öffnung spricht. Die Politik, so Schrappe, „tappt in die Befürchtungsfalle.“
Auch der Wille zum kreativen Experiment sei ausgestorben: „Der Erfindungsreichtum der Gesellschaft wird überhaupt nicht genutzt.“ Wo Merkel ein ganzes Land unter das Schwert der Mutationsbedrohung stellt, sagt Schrappe: „Die Bedrohlichkeit der Mutationen ist ja nichts weiter als Propaganda.“ Auch die dazu veröffentlichten Studien würden nichts hergeben. Noch verheerender: Der Professor stellt gegenüber Focus fest: „Es sieht eher danach aus, dass dort, wo starke Mutationen sind, die Zahlen runter gehen.“
Überhaupt fragt sich Schrappe, was soll der ganze Unfug mit den Mutationen: „Viren verändern sich sowieso immer.“ Auch die britische Mutation wäre bisher kein großes Problem. Die Politik würde aber nur eines befeuern: Die „Angststarre“.
Schrappe gilt als ausgewiesener Fachmann, aber er rechnet nicht mehr damit, dass die Kanzlerin davon wird profitieren wollen, wie er im Interview mit der Zeitung vermutet: „Frau Merkel hat sich in einem Tunnel vergraben.“ Und weiter erklärt Schrappe: „In der Risikoforschung nennt man das Kuba-Syndrom, wenn sich eine Führungsgruppe nur mit Menschen umgibt, die alle der gleichen Meinung sind. Dann gibt es nur die dauerhafte Fortsetzung von Fehlern.“
Das Syndrom heißt so, weil Präsident John F. Kennedy nur von Beratern umgeben war, die ihm zur Unterstützung der Anti-Castro-Invasion in der Schweinebucht auf Kuba rieten. Niemand machte ihn auf deren Risiken aufmerksam. Und so scheiterte das Unternehmen 1961 blutig – und die USA waren blamiert.