Was ist das denn nun plötzlich? „Flüchtlinge“ heißen „Zuwanderer“, Zuwanderer-Kriminalität ist kein Tabuthema mehr, Demokratie ist nicht mehr nur die Macht- und Pöstchenverteilung unter Freunden, zwischen Merkel und Kumpel Schulz, und linke und grüne Ausgrenzungspolitik wird immer mehr als schädlich für den gesamtgesellschaftlichen Diskurs in Deutschland verstanden, für unsere angestammten demokratischen Werte und Rechte. Ein frischer Wind in den Redaktionsstuben? Oder treibt nur die pure Angst angesichts sinkender Verkaufszahlen an diese misstrauisch beäugten Redlichkeitsurnen?
Es gibt ja nur drei Lesarten: Entweder haben sich die etablierten Medien besonnen und kehren zurück zu einem Minimalkonsens, was ihr verschütt gegangenes Berufsethos betrifft. Zweitens, man ist so sehr mit dem politischen Berlin verstrickt, dass man den Kurs der kritischen Annährung an den Wählerwillen bis zur Bundestagswahl gewillt ist mitzugehen. Oder drittens, man ängstigt sich auf einmal vor dem Dämon, den man rief, um diese lästigen neuen Mitbewerber auf dem Online-Markt zu diskreditieren, der „Fake News“-Kampagne, deren Opfer man selbst fürchtet, werden zu können, wie die aktuelle Kehrtwende der ZEIT eindrucksvoll belegen könnte.
Möglicherweise ist eine Melange aus allen drei Überlegungen eine der Sache am Nächsten kommende Lesart. Werden die Ereignisse in Köln rund um den Parteitag der AfD ein weiteres Abrücken von der Einseitigkeit bringen, die ausgerechnet der Chefredakteur der ZEIT, Giovanni di Lorenzo schon vor längerem in selbstkritischer Reflexion so beschrieb: „Wir (die etablierten Medien) waren geradezu beseelt von der historischen Aufgabe“. Die Medien hätten sich damals kritiklos Erklärungen der Bundesregierung zu eigen gemacht.
Julian Reichelt, Chefredakteur der BILD, erklärte neulich in der TV-Dokumentation „Nervöse Republik“ in etwa, die Leitmedien hätten sich viel zu lange auf dem hohen Ross des Monopolisten ausgeruht. Man wäre wohl zu überzuckert gewesen von den Auflagenhöhen. Die allerdings fallen weiter rapide und verlangen den Medienschaffenden einen schmerzhaften Prozess ab hin zu einer Form von Journalismus, von der man einmal sagen konnte, sie basiere auf alten Idealen wie Unabhängigkeit, Objektivität, Unbestechlichkeit und der Idee, politische Missstände aufzudecken, der Regierung auf die Finger zu schauen, anstatt für sie Propaganda zu machen.
Nein, die eine unumstößliche Wahrheit gibt es nicht, aber es gibt so etwas, wie ein Streben nach Wahrheit: Den Pfad der maximalen Annäherung. Spiegel Online schrieb über diese Dokumentation „Nervöse Republik“, die auch in den Büros von SPON gedreht wurde: Der Film zeige „einen verletzbaren Journalismus, irritiert durch ein Weltgeschehen, das er noch vor wenigen Jahren in seinen eigenen Rhythmen erklären und intellektuell beherrschen konnte.“ Mal die immanente Larmoyanz außen vorlassend, muss das ein ungeheuerer schmerzhafter Akt der Selbsterkenntnis gewesen sein, den man der Autorin Barbara Hans anrechnen darf.
Und damit sind wir dann auch wieder bei Jakob Augstein angekommen. Seine Schmerzen in diesem von Barbara Hans beschriebenen Rebirth-Prozess müssen besonders groß sein. Für seine junge Kolumnen-Kollegin Margarete Stokowski brach eine Welt zusammen, als sie sich dieses Ausfallschritts Augsteins gewahr wurde. Sie schrieb unter einem Foto: „Natürlich bin ich angepisst. (von Augstein)“. Augstein wolle gegen die Migration seine (deutsche) Identität verteidigen. Augstein würde hier ein „rechtes“ Wahlprogramm für „die Linke“ entwerfen. Da, wo also Augstein kurz vor dem Point-of-no-Return offensichtlich ordentlich erschrocken über seine Zunft auf die Bremse trat, löste er bei der Kollegin einen veritablen Wutanfall aus.
Den finalen Kahlschlag allerdings erledigten dann Heiko Maas und seine Polit-Entourage in Gestalt eines zutiefst unanständigen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Beispielsweise keine geringere als die „Global Network Initiative“ (GNI), der Google, Facebook, Microsoft, PEN und namenhafte US-amerikanische Universitäten angehören, warnte den Bundestag eindringlich, „seiner Führungsrolle bei Menschenrechten und in der digitalen Wirtschaft gerecht zu werden und den Gesetzesvorschlag zurückzuweisen.“
Das ist der intellektuelle Blickwinkel auf die Maas’sche Zensurbehördenpolitik. Der Bürger, den das am Ende alles betrifft, bleibt eine klare Absage zwar noch schuldig, wenn man den Stimmungsbildern in den Umfragen traut, aber das Rumoren wird vernehmlicher. Der duldsame Michel ist heute mehr als nur ein bisschen verstimmt. Der Fall der Grünen steht da symbolisch an erster Stelle. Die Grünen haben irgendeinen Modernitätsbonus der 1990er Jahre offensichtlich restlos verspielt. Sie gelten heute als reaktionär und ideologisch verbrannt, veraltet. Der einstige grüne Hoffnungsträger Winfried Kretschmann steht exemplarisch als greiser Totengräber der Partei.
Wie es um die politisch-siamesischen Zwillinge Angela Merkel und Martin Schulz bestellt ist, wird erst in einigen Monaten entschieden. Tragen die etablierten Parteien in den kommenden vier Jahren die Republik zu Grabe? Ist also auch diese Kehrtwende etablierter Medien nur eine vermeintliche, bloß ein taktisches Manöver? Hat man die Sensoren zum Leser, zum Bürger im Land nur für den Moment wieder hochgefahren, bis der Spuk im September vorbei ist?
Medien haben allerdings in diesem Spiel die schlechteren Karten als ihre Brüder und Schwestern im Geiste in den Parlamenten: Sie werden nicht für die kommenden vier Jahre solidiert. Sie bleiben auf Gedeih und Verderb von Auflagenzahlen abhängig. Und ein Gesetz, das Bürger zu zahlenden Abonnementen macht, gibt es noch nicht. Oder hat Heiko Maas etwa auch so einen Unsinn bereits konstruiert und nur für den günstigen Moment noch unter den Teppich seines Berliner Ministeriums in der Mohrenstraße 37 gekehrt? Zuzutrauen ist ihm fast alles. Schauen wir mal nach. Denn Aufgabe der Journalisten sollte sein, genau unter diesen schmutzigen Teppich zu schauen. Regelmäßig.