Tichys Einblick
Reden ja, akzeptieren nein

MDR-Wahlarena Sachsen-Anhalt – beispielhafte Streitkultur aller Kandidaten

In Magdeburg reden alle miteinander, aber die AfD kann so viele Stimmen dazugewinnen, wie sie mag, solange die anderen Parteien zusammen mehr Stimmen auf sich vereinen, werden sie dafür auch jede Koalition eingehen. Was das mit dem Land macht, werden die kommenden Jahre zeigen.

Screenprint: MDR/Wahlarena

Am kommenden Sonntag wählt Sachsen-Anhalt seinen Landtag neu. Der MDR stellt sechs Tage vor der Wahl die sechs Spitzenkandidaten in die „MDR Wahlarena“. Und weil diese Sendung live ist, gab es sogar eine Stunde zuvor eine Generalprobe mit Kandidaten-Darstellern. Einige wenige Zuschauer sollen mit ihren Fragen an die Vertreter der Parteien später live zugeschaltet werden.

Vier Monate vor der Bundestagswahl ist die Wahl in Sachsen-Anhalt trotz landestypischer Eigenheiten ein wichtiger Gradmesser für die Parteien und ihre Wahlstrategen. Im Mittelpunkt steht in Sachsen-Anhalt zunächst mal die Frage, ob die AfD es dieses Mal schafft, stärkste Kraft zu werden. Das Abschneiden der Grünen wird ebenfalls beobachtet, vermisst es doch ein stückweit die Zugkraft der Kanzlerkandidatin Annalenna Baerbock.

90 Minuten gilt es zu überstehen. Lange 90 Minuten, die auch dahingehend interessant und für Wahlsendungen auf Bundesebene Orientierung sein dürften, was den Umgang der Parteienvertreter und der Moderation mit der AfD angeht.

Im Elbfoyer des Landesfunkhauses Sachsen-Anhalt des MDR trifft der amtierende Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) auf Oliver Kirchner (AfD), Eva von Angern (Die Linke), Katja Pähle (SPD), Cornelia Lüddemann (Die Grünen) und Lydia Hüskens (FDP). Moderiert wird die MDR-Wahlarena von Anja Heyde und Gunnar Breske.

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Haseloff, Pähle und Lüddemann regieren in Sachsen Anhalt aktuell in einer sogenannten Kenia-Koalition (CDU, SPD, Grüne). 2016 konnte die AfD aus dem Stand 24,3 Prozent für sich verbuchen, die CDU erhielt demgegenüber knapp dreißig Prozent der Stimmen. Die FDP blieb knapp unter der 5-Prozent-Hürde und zog erneut nicht in den Landtag ein, die Grünen lagen knapp darüber, und die Linke konnte sich zwar mit 16,3 Prozent behaupten, verlor aber satte 7,4 Prozent bei den Wählern in Sachsen-Anhalt.

Hätten die Grünen den Sprung 2016 nicht geschafft, wären Linke und AfD gemeinsam in etwa so stark gewesen wie CDU und SPD zusammen – die Erodierung der Idee der Volksparteien ist also deutlich sichtbar in diesem neuen Bundesland mit etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern.

Nach der Tagesschau beginnt die Live-Sendung. Parallel wird im Radio und live im Internet per Stream übertragen. Die Sendung beginnt fast spaßig, der AfD-Kandidat soll bitte sagen, ob er den Tanzschulenball lieber mit Greta Thunberg gemacht hätte oder mit Annalena Baerbock. Oliver Kirchner scheint ob dieser so harmlosen Frage geradezu verblüfft und sucht noch nach dem Fallstrick, geht dann aber mit Baerbock tanzen.

Der MDR will wenige Tage vor der Wahl auf fast niedliche Weise alles richtig machen, sogar die Themenbereiche für die Fragen wurden zuvor in einer Umfrage ermittelt. Ganz vorne dabei die Corona-Pandemie, damit geht es auch los. Die anstehenden Lockerungen kommen für Oliver Kirchner von der AfD zu spät, viele Unternehmer seien am Ende. Für den Ministerpräsidenten und die Vertreterin der Grünen sind die Lockerungen der konsequenten Einhaltung der Maßnahmen zu verdanken, also der Bundesnotbremse.

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Eva von Angern für die Linke erklärt die Inzidenzzahlen für willkürlich und greift den Ministerpräsidenten dafür an, dass er die Bürger mit seinem Sachsen-Anhalt-Plan, den er nicht eingehalten hätte, im Stich gelassen hat. Reiner Haseloff erinnert Frau von Angern daran, dass es ein Bundesinfektionsschutzgesetz gibt, „da kann eine Landesregierung nicht machen, was sie will. (…) Wir sind die Ausführenden eines Bundesgesetzes.“

Sechs Bürger des Landes sind live dazugeschaltet um ihre Fragen zu stellen. Menschen die im überwiegend ländlichen Raum wohnen und dort mit den wohl typischen Problemen zu kämpfen haben wie Kitaknappheit, Versorgung mit Ärzten und Krankenhäusern und zu lange Schulwege.

Das Durchschittseinkommmen liegt in Sachsen-Anhalt 700 Euro unter dem Bundesdurchschnitt, die Arbeitslosenquote bei 7,7 Porzent. Junge Fachkräfte zieht es dahin, wo mehr bezahlt wird, Strukturwandel und Kohelausstieg sind zusätzliche Herausforderungen für das Bundesland.

Nach der ersten halben Stunde fällt vor allem eines auf: Die überwiegend im Land geborenen Politiker, die Runde selbst, aber auch die Moderation gibt sich unaufgeregt – Auffällige Selbstdarsteller sind eigentlich keine dabei – das kann Zufall sein. Oder in Sachsen-Anhalt lebt ein sympathischer Menschenschlag, der im TV unaufdringlich für sich zu werben weiß.

„Bei uns ist das Land, wo nichts fertig wird“, die Grünen würden alles blockieren, beschwert sich Oliver Kirchner von der AfD, sein Vater hätte gerne mal die geplante neue Autobahn benutzt, der Vater sei aber zwischenzeitlich vor zwanzig Jahren verstorben. Demgegenüber verweist Cornelia Lüddemann (Die Grünen) auf den Klimaschutz, der neue Bedingungen aufgestellt hätte.

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Lydia Hüskens (FDP) ist nach der Linken schon die zweite in der Runde, die eine Fragen von Kirchner „berechtigt“ findet. Ist das Kuscheln mit der AfD oder kommt die Explosion noch im weiteren Verlauf der Sendung? Hier wird um Fakten gestritten, argumentiert und miteinander gestritten. Hat sich in diesem kleinen Bundesland still und heimlich ein Debattenklima entwickelt, das vorbildhaft sein könnte über die Landesgrenzen hinaus? Oder kann man es sich einfach leisten, weil man mit kaum mehr als zwei Millionen Bürgern schnelle Lösungen braucht – noch dazu, wenn die ländlichen Wege mitunter länger sind als anderswo?

Die spezifischen Themen sind vielleicht nicht für jeden Zuschauer im Bundesgebiet interessant, vieles ist sehr speiziell – aber die Art und Weise des Umgangs hier miteinander ist lehrreich. Katja Pähle von der SPD präsentiert sich angriffslustig und argumentationsstark. Warum so eine Sozidaldemokratin auf Bundesebene nicht mehr Einfluß bekommt … mindestens aus Sicht der Bundes-SPD müsste Pähle doch eine Bereicherung sein mit ihrem durchaus fundierten Maschinengewehrsprech. Erfrischend ist das, wie hier über die Parteigrenzen hinaus fair gerungen wird.

Ist „nett“ das richtige Wort für den Eindruck, den der Ministerpräsident macht? Nein, Landesvater ist hier bald das passendere Wort: Reiner Haseloff zeigt unbestreitbar etwas Bodenständiges, er ringt um Konsens, mitunter etwas verzweifelt, da möchte man bald helfen dabei. Aber hier geht es ja nicht um irgendein komisches Mitgefühl mit einem Politiker, sondern um knallharten politischen Wettbewerb als wichtige Grundlage der Demokratie.

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Auch die Fragen der zugeschalteten Sachsen-Anhalter sind Fachfragen, diesen mitunter fiesen Verwerfungen, denen Bundesthemen unterliegen können, wollen hier nicht stattfinden. Hier fragen Bürger, die konkret ihre Lebensumstände verbessert haben wollen – Ideologisches ist für den Moment zweitrangig. Gefühlt haben die Frauen im Rund den bei weitem größeren Redeanteil, aber wenn es die Herren zulassen, wer würde sich da wehren wollen?

Ein interessanter Seitenhieb Richtung neue Bundesländer kommt noch vom Ministerpräsidenten: „Wir haben 60 Prozent der CO2-Einsparungen in den letzten 30 Jahren im Osten erbracht, jetzt ist der Westen dran.“ Ist das so? Oder war da eventuell im Osten doch Einiges mehr im Argen, das erst einmal auf Westniveau gehoben werden musste?

Ein Fazit dieser MDR-Wahlarena geht vielleicht so: Ein kleines Bundesland verfügt über viele kompetente Köpfe, bundespolitische Ideologien gelten weniger viel, wo man nah am Bürger regieren muss. Aber am Ende bleibt für alle die gemeinsame Erkenntnis, dass der Gestaltungsfreiraum für die Länder immer geringer wird unter der Last der EU-Bestimmungen und beispielweise der Klimawandel-Auflagen und unter den Bundesgesetzen.

Zum Schluss noch eine Frage an den AfD-Kandidaten: „Müssen nicht Sie etwas ändern, damit Sie überhaupt koalitionsfähig werden? Sonst können Sie niemals Ihre Ziele durchsetzen.“ Sieht Kirchner nicht so, zu einer Demokratie gehört für ihn, dass man eine Partei nicht ausschließen darf bzw. Gesprächsverbote mit AfD-Politikern ausspricht bis hin zur Drohung von Parteiausschlüssen. Nun gut, hier allerdings bleiben die Positionen in Sachsen-Anhalt weiter verhärtet. Alles also wie gehabt – da kann die AfD weitere Stimmen dazugewinnen, wie sie mag, solange die anderen Parteien zusammen mehr Stimmen auf sich vereinen, werden sie dafür auch jede Koalition akzeptieren. Was das mit dem Land macht, werden die kommenden Jahre zeigen.

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