65.000 Menschen sind viele. Und wenn so viele Menschen zusammen kommen, um Bekenntnis abzulegen für Weltoffenheit und Toleranz, dann kann das keine schlechte Sache sein. Oder? Selbst dann nicht, wenn der Anreiz, die Pop-Punker „Die Toten Hosen“ einmal live zu sehen, auch dadurch verstärkt wurde, dass ihr Auftritt gratis war. Tickets kosten ansonsten zwischen 55 und 100 Euro. Man kann sich ausrechnen, auf welche Summe die Musiker um Frontmann Campino verzichtet haben.
„Ton Steine Scherben“ war Kultband der 68er. Ihr Song „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ wurde Hymne der Bewegung. Die Scherben hatten nicht das Glück der Hosen, für sich behaupten zu können, links zu sein und trotzdem Millionäre sein zu dürfen. Damals waren Ticketpreise, die mehr als die Selbstkosten einbrachten schlicht Ausbeutung. Es gibt dazu ein lesenwertes Buch im Ventil Verlag Mainz mit dem schlichten Titel „Scherben“, wo auch erörtert wird, warum Konsumkritik notwendigerweise Gesellschaftskritik sei.
Rock gegen Rechts in Chemnitz. Das Heute Journal mit Marietta Slomka setzte das Ereignis nicht auf Top-Platz eins. Wer gestern etwas über die Sicht der Öffentlich-Rechtlichen auf das Konzert erfahren wollte, musste sich zehn Minuten lang über die Berichterstattung zur Organspende-Debatte hinweghangeln. Erst im Anschluss an ein Interview mit Gesundheitsminister Spahn wurden junge Leute im Publikum der Show in Chemnitz befragt, weshalb sie gekommen seien. Antwort: Um Weltoffenheit und Toleranz zu demonstrieren. Auch das ist gut. Für etwas und nicht dagegen.
Komplizierter wäre es sicher gewesen, einmal zu klären bzw. diese jungen Leute zu befragen, warum Weltoffenheit und Toleranz nun das Gegenteil einer intelligenten Kritik an Massenzuwanderung wäre und warum hier der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin quasi Schirmherren der Veranstaltung waren oder hätten sein können. So etwas gab es zuletzt in Chemnitz, als es noch Karl-Marx-Stadt hieß, als der Staat Jugendkultur zwangsweise von oben verordnete und subkulturelle Störer rigoros entfernte.
Wenn nun also 65.000 junge Leute quasi am Ort der Tragödie zusammen kommen um „Party statt Pegida“ zu feiern, wie Tagesschau.de titelte, dann ist das zumindest eine Debatte wert. Dann bekommt es einen ganz merkwürdigen Dreh, wenn laut MDR von der Bühne herunter eine Schweigeminute stattfand, die in einem Atemzug des Ermordeten gedachte wie auch der Opfer rechter Gewalt. Merkwürdig deshalb, weil Daniel H. nicht Opfer rechter Gewalt wurde. Eine journalistische Kombination, die sprachlos machen muss.
Sprachlos macht allerdings auch ein Tweet der AfD-Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch, die zum Konzert in Chemnitz twitterte: „Ihr seid nicht mehr. Ihr seid Merkels Untertanen, ihr seid abscheulich- und ihr tanzt auf Gräbern. #wirsindmehr“. Da macht es schon mehr Sinn, einmal die aktuelle Kolumne des Spiegel-Autors Jakob Augstein zu lesen, der, bezogen auf Äußerungen von Heiko Maas titelte: „ Empört euch – gefälligst!“ und damit ziemlich gut traf, was Beatrix von Storch so entsetzlich versemmelt.
Zwar wollten im Prinzip beide das Gleiche sagen, beide spürten den Nachgeschmack DDR in diesem von oben diktierten Volksaufstand der Guten, aber Augstein macht es dieses Mal einfach besser, wenn er schreibt: „Diese Repräsentanten, unsere politische Kaste, zu der Maas gehört, haben in den vergangenen Jahren viel dafür getan, dass das Schweigen der Mehrheit besonders tief war.“ Und als wäre es punktgenau in Richtung Tote Hosen und ihre Zuschauer in Chemnitz gerichtet schreibt Augstein weiter: „Für jemanden, der 5.000 Euro im Monat hat, fühlt sich Multikulturalismus anders an, als für jemanden, der 1.000 Euro hat.“
Man könnte hier ergänzen, dass es sich auch für jemandem im Elfenbeinturm anders anfühlen könnte, wenn auf offener Straße mutmaßlich Zuwanderer Menschen erstechen, als für jene, die diese Straßen tagtäglich begehen müssen, sich jedoch aus Sicherheitsgründen nachts nicht mehr auf die Straße wagen.
Aber noch einmal kurz zurück nach Chemnitz vor die Showbühne. Und zunächst einmal zur Tatsache, dass Chemnitz sich mit diesem Konzert über die Grenzen Deutschlands hinaus als Ort des Bösen zu einem Ort der Guten rehabilitieren konnte. Ein für diese Stadt übernotwendiges Stadtmarketing. Und zweifellos ein riesiger Erfolg, betrachtet man die Bilder, welche von dieser Veranstaltung in die Welt gingen. Dorthin, wo eine teilweise hoch fragwürdige Berichterstattung den Eindruck hinterlassen hatte, mitten in Deutschland würden Nazis Ausländer durch von ihnen beherrschte Städte treiben und jagen.
Jedes Familienunternehmen kennt das im Übrigen auch, wenn sich der Juniorchef mit neuen Ideen erst einmal gegen den Senior durchsetzen muss, der den Junior in der Regel auch nicht verhindern will, der nur darauf achtet, das Veränderungen die Substanz seines Unternehmens nicht gefährden, der eben auf die Bremse drückt.
Jugendkultur ist links, weil links das größere Versprechen von Freiheit und Rebellion bereitsteht. Wenn wir beim Rockkonzert bleiben, steht dieses in der Tradition von Bob Dylan über Led Zepplin hin zu den Sex Pistols und Eminem. Hier geht es um den Soundtrack radikaler Veränderung. Jede politische Bewegung hat ihre eigene Musik, wenn es um Abnablung und Selbsterkenntnis geht. Jugend will ins Risiko gehen. Sicherheit und Konservierung des Bestehenden ist hier nicht die erste Idee.
Vielleicht ist es ja für diese neue junge Generation auch deshalb so besonders schwer, sich abzugrenzen, weil die Mächtigen ihrerseits jede Abgrenzung verweigern, wenn Bataillone von Kommunikationsexperten den Parteien Politik diktieren, die maximale Schnittmengen mit allen gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen sollen. Machtpolitik ist heute auch Anbiederung an die Jugend. Und das raubt den jungen Menschen die Möglichkeit, über Abgrenzung eine eigene Identität zu entwickeln, wenn die Regierung noch so weit geht, sogar die Radikalsten unter den jungen Leuten zu subventionieren und in Stellung zu bringen.
Man kann sogar sagen, dass die „Repräsentanten, unsere politische Kaste“, wie Augstein sie nennt, ein elementares Interesse dran haben, dass es Parteien wie die AfD gibt, damit Dialogferne, Diffamierung und Diskreditierung zuwanderungskritischer Stimmen bestehen bleiben. Denn würden sie dieses Feindbild nicht pflegen und stattdessen ernsthaft in den Diskurs darüber gehen, wie Politik zukünftig gestaltet werden soll, dann könnte diese Vorgehensweise in demokratischer Tradition dazu führen, dass sich Machtverhältnisse verändern. Das es ihnen selbst und ihrem Parteienstaat an den Kragen geht. Wer diese Option mit allen Mitteln verhindert, der beschädigt Demokratie und versagt der Jugend zudem die Möglichkeit der Identitätsfindung. Helikopterpolitik.