Tichys Einblick
Kanzlerin bei der Regierungsbefragung

Opposition verweigert die Arbeit: Merkel ungestört auf Abschiedstournee

Die Fragestunde im Bundestag hatte mit echter Oppositionsarbeit wenig zu tun. Es blieb Merkel sogar Zeit für abschweifende Gedanken zur gelb-blinkenden Lampe, welche das nahende Ende der Redezeit anzeigt.

Angela Merkel im Bundestag

IMAGO / Political-Moments

„Die zehnte und letzte Befragung der Bundeskanzlerin“, so moderiert Phoenix vor Ort den gestrigen Auftritt von Angela Merkel. An solchen Sätzen kann man bereits ermessen, was nach der Bundestagswahl mit Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel in den Medien passieren wird. Es wird wohl vom Ende einer Ära die Rede sein, positiv, sehnsuchtsvoll oder Merkel gar drängend, irgendwo in der Welt zukünftig doch bitte, bitte noch eine gewichtigere Rolle gar für die Geschicke der Menschheit zu spielen.

Ein letztes Mal also der Vertretung des Volkes Rede und Antwort stehen. Aber vorweggenommen, die Abgeordneten sind schon in Feierstimmung, da wird es keine wesentlichen Angriffe mehr geben. Bis auf die AfD möchte wohl niemand auf den letzten Metern noch einen Merkel-kritischen Eindruck hinterlassen.

Die Kanzlerin startet in der ihr protokollarisch zustehenden Vorabrede damit, die – wie auch immer gemessenen – sinkenden Inzidenzen nicht etwa mit dem sommerlichen Wetter in Verbindung zu bringen, nein, der Rückgang sei „eine Kraftanstrengung der ganzen Gesellschaft“ gewesen.

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Diese Zuweisung ist aufschlussreich, denn der Schaden ist immens, viele Betriebe liegen am Boden oder mussten gleich ganz schließen, viele Menschen haben auch psychisch großen Schaden genommen, die Suizid-Zahlen für 2020 werden erst im September veröffentlicht, die Spätfolgen der Pandemie-Maßnahmen der Bundesregierung sind aber am Horizont längst sichtbar verknüpft mit der dringenden Frage: War das wirklich alles nötig?

Eine Abgeordnete aus den Unionsreihen hält ihr Handy hoch und filmt den Beginn der Befragung begeistert: Angela Merkel Superstar schon mal fürs private Geschichtsbuch oder digitale Poesiealbum.

Merkel verteidigt noch einmal die dreimonatige Verlängerung der epidemischen Lage mit Verweis auf das Robert Koch Institut (RKI), die zwar die Einstufung der Gefährdungslage der Bevölkerung von „sehr hoch“ abgestuft hätte. Aber lediglich auf „hoch“. Die scheidende Bundeskanzlerin spricht von „besorgniserregenden Mutationen“ und bringt weitere Begriffe ins Spiel, die teilweise klingen wie aus dem Kosmos-Alchemie-Baukasten von Karl Lauterbach (Gesundheits- und mittlerweile Talkshowexperte der SPD).

„Wir dürfen jetzt, was wir gemeinsam erreicht haben, nicht leichtfertig riskieren.“ Und noch ein Allgemeinplatz: „Was der Gesundheit dient, dient immer auch allen anderen“, ergänzt sie. In den Ohren eines vor der Insolvenz stehenden Familienunternehmers muss so etwas noch einmal einen ganz eigenen Klang haben.„Wir stehen vor einem kräftigem Wachstum“, sagt die Bundeskanzlerin. Bei wem dieses behauptete „Wachstum“ schon ankommt oder eben nie ankommen wird, bleibt hier natürlich unbeantwortet.

Albrecht Glaser (AfD) darf für den Oppositionsführer im deutschen Bundestag als erster fragen. Er möchte wissen, wie Merkel den „Angriff der EU auf den Kernbestand der deutschen Staatlichkeit“ sieht. Merkel betont, das europäisches Recht Vorrang vor nationalem Recht hätte. Und wir hätten „eine Kompetenz der Nationalstaaten, Zuständigkeiten an die europäische Ebene zu verlagern durch Beschluss der nationalen Verfassungsorgane.“

„Das ist ja die letzte Fragestunde nach ihrer historischen Kanzlerschaft bzw. in ihrer …“; beginnt ein weiterer Fragesteller der FDP, Opposition at his best also.

Merkel findet, die Einwanderung sei Teil des „bestens Rezeptes“ die „Rentensicherung zu ermöglichen“. Die Renten würden aber nicht ausreichen, „wir“ bräuchten zusätzlich andere Rentenmodelle, betriebliche und ähnliches. Aber wird das den geburtenstarken Jahrgängen noch etwas nutzen, falls diese nicht schon jahrelang zusätzlich privat eingezahlt haben?

Zur Pandemie-Bewältigung meint Merkel, die Bundesregierung hätte sehr viel richtig gemacht, aber es gäbe eben auch „viele Menschen, die sehr gelitten haben“, da müsse noch sehr viel Unterstützung passieren, das wäre ein „großer Einschnitt in unserer Geschichte“ gewesen, aber „im Großen und Ganzen haben wir auch sehr vieles richtig gemacht.“

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Die nachgereichten Reparaturarbeiten und die zukünftig gewünschte Lesart der Pandemie-Politik ist also bereits in vollem Gange, Merkel liefert schon erste kurze Absätze einer zukünftigen Autobiografie. In den Zeiten der Pandemie hätte sich, so Merkel, „der Multilateralismus stärken können“, also das System der vielfach verknüpften Weltwirtschaft. Inwiefern die Pandemie allerdings selbst ihren Ursprung in dieser Verknüpfung hat, bleibt spannende Spurensuche in der Nach-Merkel-Ära.

Die Linke will wissen, wie es mit dem Impfangebot für Jugendliche ab zwölf Jahren ist. Ob diese jetzt hoch priorisiert werden. Bei den Linken scheint die Kritik der Ständigen Impfkommission (STIKO) an der Impfung von Kindern und Jugendlichen also vorbeigegangen zu sein. Tatsächlich wird die fragende Abgeordnete Amira Mohamed Ali von der Bundeskanzlerin selbst an die Haltung der STIKO zum Impfen von Minderjährigen erinnert. Es wird keine Hochpriorisierung für Kinder geben.

Ali will von der Bundeskanzlerin in der Nachfrage wissen, ob es für ärmere Wohnviertel den Einsatz von mobilen Impfteams geben wird. Ja, dass hätte sich bewährt, das würde dann von den Impfzentren organisiert. Nebenbei erfährt man von Merkel, dass von hier aus auch die Nachimpfungen in den Pflegeheimen im Herbst vorgenommen werden sollen. Also nach den Wahlen schon die dritte Impfung für betreute Senioren.

Oliver Krischer (Grünen) erinnert tatsächlich an die „Weitsichtigkeit“ der Bundeskanzlerin (dass Merkel keine Grüne ist, könnte man da glatt vergessen haben), die hätte nämlich schon weit vor ihrer Kanzlerschaft – schon 1997 als Umweltministerin in einer NDR-Talkshow sich sehr vehement dazu geäußert, dass in Sachen Klimaschutz schnell gehandelt werden müsse. Eine perfektere Handreichung an die Autobiografie ihrer Durchlaucht kann es wohl kaum geben.

Oder – ein weiterer Gedanke dazu – möglicherweise sogar wollen die Grünen davon ablenken, auf welche Weise sie sich haben einfangen lassen von Angela Merkel, indem sie diese jetzt obendrauf noch zu einer Art Grünen ehrenhalber erklären. Hier wird jedenfalls eines deutlich: Die Prägung der Angela Merkel im Amt der Umweltministerin von 1994-1998 dürfte im Sinne der Aufarbeitung dieser 16-jährigen Kanzlerschaft noch eine interessante Rolle spielen. Wurde das in der Merkel-Rezeption bisher vernachlässigt?

Krischer will dann noch wissen, was Merkel ihrer Nachfolgerin oder ihrem Nachfolger mit auf dem Weg geben will in Sachen Klimaschutz, was man da tun müsse. Nochmal zur Erinnerung: Er ist formal in der Opposition.

Eine Befragung der Bundeskanzlerin am Rande der Fremdscham, jedenfalls, was so eine kaum verschleierte Heldinnen-Verehrung angeht. Dass es Journalisten gibt, die sich im Boulevard auf jedes Hüsterchen der Kanzlerin stützen, nun gut, aber Krischer ist gewählter Abgeordneter einer Oppositionspartei. Merkel bedankt sich artig bei dem Grünen: Ja, „die Zeit drängt wahnsinnig, ich kann die Ungeduld der jungen Leute verstehen.“ Genug sei es angesichts der objektiven Situation aber noch nicht, so der Nachsatz. Applaus, na klar.

Und weil diese vorgezogene Merkel-Verabschiedungsveranstaltung mit echter Oppositionsarbeit so gar nichts zu tun hat, reicht die Zeit für abschweifende Gedanken der Kanzlerin zur gelb-blinkenden Lampe, welche das nahende Ende der Redezeit anzeigt: „Wenn ich so viele Gedanken im Kopf habe, muss ich aufpassen, dass ich nicht durcheinanderpurzel“, kokettiert die Bundeskanzlerin, wo es doch dem Sinn dieser Veranstaltung nach die Fragen der Opposition sein sollten, die im Oberstübchen von Frau Kanzlerin für Aufregung sorgen sollten.

Sebastian Münzenmaier (AfD) ist dran und erinnert an den Unsinn der Inzidenzzahlen als Grundlage für Corona-Maßnahmen. Merkel verweist auf das letzte Podcast von Christian Drosten. Auch dessen Autobiografie wird über Deutschland kommen, daran kann kein Zweifel bestehen.

Münzenmaier erinnert an die Manipulationsvorwürfe in Sachen Intensivbetten, die damit einhergehende Kritik des Bundesrechnungshofes und an eine „namenhafte Studie“ über die Unklarheiten bei den PCR-Tests. Fazit Münzenmaier: „Die Maßnahmen, die sie getroffen haben, stehen alle auf sehr wackeligen Füßen.“ Merkel formuliert demgegenüber das eigentliche Ziel: Dass Varianten auftreten, damit müssten wir rechnen, „solange noch nicht die gesamte Weltbevölkerung geimpft ist.“ Applaus.

Weiter zur Rente: Rentenleistungen für Lebensleistungen sind für Frau Merkel lediglich Teil einer Produktserie. Steuerliche Vorteile alleine würden nicht ausreichen, für Geringverdiener, „wir brauchen noch ein zusätzliches Produkt, was auch eine private Vorsorge für Geringverdiener möglich macht.“

Also eine Art Riesterrente für Arme? Ein Rentenversorgungsdesaster. Die Erneuerung der Aufkündigung der eingestaubten Solidargemeinschaft.

Alexander Graf Lambsdorff (FDP) erinnert die Noch-Bundeskanzlerin daran, dass diese im Ernstfall die Befehls- und Kommandogewalt über Streitkräfte hätte – um Himmels Willen! Was für eine Vorstellung! Immerhin dies blieb dem Land erspart in dieser 16-jährigen Kanzlerschaft.

Lambsdorff zielt auf den desolaten Zustand der Bundeswehr ab, die wohl nicht einmal gegen Aserbaidschan bestehen würde, wie er erfahren hätte. Die Bundeskanzlerin erinnert an eine Aufklärungsdrohne, die beispielsweise in Mali gerade Hervorragendes leistet würden, „über das andere Bündnispartner nicht verfügen.“

Als der Unions-Abgeordnete Dr. Georg Kippels an der Reihe ist, scheint die Kanzlerin den Parteikollegen für den Moment nicht einmal zu kennen, sie sucht ihn nach Aufruf mit den Augen in den Reihen der AfD. Und Kippels könnte möglicherweise selbst schon gemerkt haben, dass seine Frage zum Impfangebot so ähnlich schon gestellt wurde, stellt sie dann aber einfach und Merkel hat so nochmal Gelegenheit zuvor aus Zeitgründen Ausgelassenes auszubreiten.

Die Bundeskanzlerin sollte beim persönlichen Blick nach vorne übrigens nicht vergessen, dass die Beurteilung der Rolle der Staatslenker eines Landes zukünftig auch davon abhängen könnte, welchen Stellenwert dieser Staat in den Köpfen der Menschen überhaupt noch hat.

Die Abgeordnete Ulle Schauws (Grüne) stellt zunächst fest: „Viele der diesjährigen Erstwählerinnen kennen dieses Land nur mit Ihnen als Kanzlerin.“ Und sie fragt die Bundeskanzlerin anschließend, ob die Anzahl der Frauen im Bundestag nun ausreichend sei. „Nein“, die wäre absolut nicht ausreichend, erwidert Merkel, aber der Frauenanteil würde nicht erst mit der Listenaufstellung beginnen, sondern schon beim Direktmandat, also dort, wo der Wahlkreis nominiert. Merkel wäre erst zufrieden, sagt sie, „wenn das 50/50 ist.“

Und dann wird klarer, worauf die Grüne hinaus wollte, Mädchen könnten sich seit Angela Merkel vorstellen, Kanzlerin zu werden, wie die Grüne behauptet, als wäre das real ein vielfacher Berufswunsch. Aber Schauws geht es sowieso nur darum, Merkel ein positives Statement zur einzigen weiblichen Kanzlerkandidatin abzuringen. Ach was für ein Späßchen, als wäre das hier ein Kaffeklatsch und eben keine scharfe Befragung der Verantwortlichen für die aktuellen Verwerfungen im Land. Merkel hält die Bürger nach 16 Jahren ihrer Regentschaft nun für „mündig“ genug, ihre Entscheidung zu treffen. Soll man da etwas hineinlesen? Was für ein Theater einer Pseudo-Opposition, die sich hier mit Merkel abklatscht!

Dann ist die AfD noch einmal dran mit Beatrix von Storch. Diese erinnert daran, dass Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin ein neues Gesetz in Ungarn „Schande“ genannt hätte, und gegen Ungarn vorgehen will. Von Storch will wissen, ob Merkel die Linie der Kommission unterstützt. Die Bundeskanzlerin kritisiert die Einschränkung der Aufklärung über homosexuelle Partnerschaften.

Darüber hätte man dann fast vergessen, dass Angela Merkel noch 2017 im Parlament gegen die „Ehe für alle“ gestimmt hatte. Die AfD-Abgeordnete fragt nach, ob sich die Bundeskanzlerin den 65 Prozent der Bürgerinnen und Bürger anschließen möchte, die eine deutsche Teilnahme an der WM in Katar, einem Land in dem Homosexualität verboten ist, ablehnen. Angela Merkel verweist an die UEFA und äußert sich einfach nicht zu Katar.

Und dann war es das im Wesentlichen mit der Befragung der Bundeskanzlerin. Aber warum macht man so etwas überhaupt? Auf der Website des Bundestages heißt es dazu: „Dreimal jährlich findet zu dem Termin der Regierungsbefragung eine Befragung des Bundeskanzlers statt. Die Befragung soll in den letzten Sitzungswochen vor Ostern, vor der Sommerpause und vor Weihnachten stattfinden.“

Doch, man hätte auch darauf verzichten können. Dachte die Bundeskanzlerin nach der letzten Frage vielleicht auch, presste ihre Laufmappe in die prallgefüllte weiche große Lederhandtasche und entschwandt zum nächsten Termin. Ihre Abschiedstournee hat ja längst begonnen, der Scherbenhaufen wird allerdings bleiben und das Land noch viel länger schmerzhaft beschäftigen, als Angela Merkel viel zu lange Kanzlerin war.

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