Peter-Michael Diestel ist eine der schillerndsten Figuren der Wendezeit. Und der letzte Innenminister der DDR scheint mit diesem Ruf zufrieden zu sein. Viele Landsleute wertschätzen ihn bis heute als einen der ihren, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt. Die Anwürfe seiner Kritiker gegen seine Art der Abwicklung der DDR sind allerdings auch vielfältig: Er sei verharmlosend mit der Stasi und den Inoffiziellen Mitarbeitern umgegangen. Und unter seiner Regie sollen viele Stasi-Akten vernichtet worden sein, laut Diestel hatte er damit aber nichts zu tun. Der Christdemokrat aus dem Osten war neben Bundeskanzler Helmut Kohl und dem DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziére einer der Baumeister der Wiedervereinigung. Gemeinsam mit Wolfgang Schäuble unterschrieb er den Vertrag über den Abbau der Grenzanlagen zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Heute arbeitet er als Rechtsanwalt.
Alexander Wallasch: Was steht bei Ihnen DDR-typisches auf dem Frühstückstisch?
Peter-Michael Diestel: Also in meinem Leben ist viel typisch DDR, weil da ja meine Wurzeln herkommen. Und dafür schäme ich mich nicht, sondern das hängt damit zusammen, dass ich diese Wurzeln immer gepflegt habe. Nun bin ich in der Situation als intensiver Kraftsportler, dass ich mit dem Essen aufpassen muss. Und ich hatte heute beschlossen – um Ihre Frage zu beantworten – eben nicht zu frühstücken. Ich knall mir mittags richtig schön den Ranzen voll (lacht), abends esse ich wenig, früh zwischen sechs und acht mache ich meinen Kampfsport und dann trinke ich nur heißes Wasser und Kaffee. Das ist die Art und Weise meiner Ernährung, die nichts mit der DDR zu tun hat, denn in der DDR, wo ich die Ehre hatte, Sie mit abzuschaffen, da habe ich immer gefrühstückt.
Vielleicht kurz zur Erklärung: Ich bin im Westen aufgewachsen und …
Tragen Sie das mit Würde, tragen Sie das mit Würde, ich hatte das große Glück, Ossi zu sein.
Ich muss immer ein bisschen grinsen, wenn Sie sich in Interviews über die Wessis aufregen, die den Osten heute so dominieren würden. Denn ich kann mich noch gut an den Schock erinnern, als wir im Westen mit dem türkischen Gemüsehändler – einem Kurden – an der Straße standen an einem wunderschönen sonnigen hellen Tag …
Der hellste Tag in meinem Leben!
… und auf einmal diese endlosen Karawanen von Trabant-Fahrzeugen einrollten Richtung Braunschweiger Hauptpost, die extra geöffnet wurde, um den Begrüßungshunderter auszuzahlen – einige Familien fanden sich dann mit Markstücken samt Frauen, Alten und Kindern in der örtlichen Peep-Show wieder – übrigens sehr zur Irritation der dort tätigen blanken Damen. Aber zu meiner nächsten Frage, ist Corona für Sie ein Thema? Wir sind ja beide schon kurz vor Risikogruppe …
Nein, das ist kein Thema, weil der liebe Gott seine Hand über mich hält. Und wenn er sagt, er braucht mich, dann gibt er mir ein deutliches Zeichen, dann habe ich meine Aufgaben erledigt. Und so lange kämpfe ich so weiter, wie es ist, sehe mich vor und passe auf. Aber, da sie einen Komplex angesprochen haben mit ihrer Fragestellung: Ich habe noch nie auf die Wessis geschimpft. Ich habe höchstens mal auf einen blöden Wessi geschimpft. Der liebe Gott ist ja gerecht. Und der hat die Idioten in Ost und West gleichmäßig verteilt. Wir haben genauso viele im Osten proportional wie im Westen. Sie haben aber im Westen absolut ein paar mehr, weil da ja auch mehr Menschen leben. Damit ist die Frage beantwortet.
Das, was Sie geschildert haben mit dieser Grenzöffnung, das sind Dinge mit den Peepshows und so weiter, die haben natürlich so stattgefunden. Aber dahinter steckt eine gigantische Erhebung. Eine gigantische Kraftanstrengung: der Mut der Ostdeutschen sich gegen eine Diktatur zu erheben. Sicher sind ein paar schlichte Gemüter mal in so eine Peepshow gegangen. Ich brauchte das nicht. Weil wir im Osten, sexuell und was das angeht, weil wir auch erotisch viel, viel offener waren. Ich glaube, dass die Verklemmtheit, was das angeht, im Osten viel geringer war als im Westen. Natürlich haben wir unter den Grenzen gelitten. Aber wir haben, was das Verhältnis zwischen Mann und Frau angeht, eine große spezielle Vielfältigkeit entwickelt, die uns unter diesen komischen Bedingungen in der DDR viel geholfen hat.
Werden Sie von den Medien zu oft auf das Gestern reduziert oder genießen Sie das auch ein stückweit?
Ich weiß das nicht … (überlegt). Ich bin ein Mann wie sie und viele Männer auch. Ich bin auf manches stolz und auf anderes weniger. Sehr stolz bin ich auf die Dinge, die mich in die Geschichtsbücher getrieben haben. Stolz bin ich, dass ich gemeinsam mit Lothar de Maizière, mit Wolfgang Schäuble und mit Helmut Kohl einer der führenden Köpfe in der deutschen Einheit bin, und dass ich dieses Leben gelebt und das Begehren des deutschen Volkes von ostdeutscher Seite erfüllen konnte und damit erfolgreich gewesen bin. Dass ich als Vizekanzler und Innenminister erfolgreich war, darauf bin ich stolz, davon lebe ich. Und darum beneiden mich auch alle, die Diestel scheiße finden. Das ist ja legitim, dass man mich mit meinem Stolz und Selbstbewusstein unerträglich finden darf.
Ich war zur Wende 25. Es ist ja nicht so, dass man Sie nur im Osten kannte. Sie sind auch für mich Westler eine Persönlichkeit, die mit der Wende eng verbunden ist, Ihre Stimme kommt mir sehr bekannt vor, Sie waren damals oft in den Nachrichten. Reagieren die Leute denn auf Sie in der Öffentlichkeit? Wie ist das heute über dreißig Jahre später?
Ich habe im vergangenen Jahr ein Buch (Redaktion: „In der DDR war ich glücklich. Trotzdem kämpfe ich für die Einheit“, Verlag: Das neue Berlin) geschrieben und habe damit gerechnet, dass ich nach Sibirien in die Verbannung komme wegen des Inhaltes. Aber genau das Gegenteil ist eingetreten: In Ost und West hatte ich fast fünfzig Buchlesungen, es war das meistverkaufte Buch in Ostdeutschland, es war wochenlang in der Spiegel-Bestsellerliste. Und ich habe daraus entnommen: Du bist gar nicht so weit weg von der Normalität und von der Vernunft dessen, was einfach in Menschen – ich betrachte mich auch als einfach – was einfach in Menschen denkt, die tief im Grundgesetz verankert sind, statisch im Grundgesetz verankert sind. Das bin ich auch, es ist mein Gesetz, es ist meine Verfassung, die ich für die Menschen im Osten miterstritten habe. Und ich bin stolz darauf, dass ich deshalb als konservativ oder altmodisch bezeichnet werde.
Ich warte jeden Tag auf einen Anruf von Angela Merkel, die sagt: Lieber Peter, wir kennen uns aus der ersten Regierungsphase, aus der ersten freien DDR-Regierung – sie war stellvertretende Regierungssprecherin in unserem Kabinett – die also sagt: Lieber Peter, die CDU ist im Ansehen, im Kontakt zu den Menschen, für die die CDU ja eigentlich arbeitet, mit einer gewissen Hilflosigkeit belegt. Du bist ein schräger Vogel, du bist unerträglich – das ist jetzt die konstruierte Rede von Angela zu mir – aber weil ich dich nicht für doof halte, würde ich mit Dir gerne mal reden, was die CDU jetzt tun sollte …
Ach, wollen Sie der bessere Merz sein?
… zumal sie jetzt einen Parteivorsitzenden hat, der so weit weg vom Osten ist, wie es nur sein kann.
Sind Sie der bessere Merz?
Nein, ich bin für Frau Merkel immer der Diestel. Dass Angela Merkel die Grenzen aufgemacht hat für Menschen, das ist legitim, das entspricht auch meinem christlichen Denken. Dass man diese Menschen aber in einer verantwortungslosen Gleichgültigkeit reingelassen hat, dass man die Sicherheitsinteressen der Menschen in Deutschland, für die das Grundgesetz gilt, außer acht gelassen hat, das ist der Skandal. Angela Merkel, die von mir sehr geschätzt wird, ist die stärkste politische Kraft in Deutschland, sie hat damit keinen Fehler gemacht. Die Pappnasen hinter ihr, die für die Innenpolitik, für die innenpolitische Umsetzung dieses Migrantenstroms zuständig waren, die haben versagt. Und auch die hätten mich damals fragen können – als ehemaligen erfolgreichen Innenminister – was kann man machen, wie können wir das handhaben. Die haben versagt und deshalb haben wir jetzt ein Problem.
Wollen wir kurz bei Frau Merkel bleiben: Können Sie einem in der Bundesrepublik aufgewachsenen Bürger einmal Angela Merkel besser erklären? Oft ist ja abwertend nur die Rede davon, dass Merkel FDJ-Sekretärin war. Was an Frau Merkel kann man nur verstehen, wenn man die DDR selbst erlebt hat? Man sagt ja, im Alter bekommt die Jugend und das frühe Erwachsensein wieder mehr Präsenz, was ist da bei Merkel hochgekocht die letzten Jahre? Wenn Merkel von „Privilegien“ spricht, aber Grundrechte meint, ist das ihr DDR-Erbe? Wenn sie Kritik mit „rummeckern“ deklassiert, ist das politisch DDR-Stil? Was an Merkel erkennen Sie, was Westdeutsche eventuell weniger gut erkennen?
Angela Merkel in ihrer Person ist die stärkste politische Kraft, sie ist unser großes Schlachtschiff in der europäischen und in der Weltpolitik. Und wenn dieses Schlachtschiff sinkt, das heißt, wenn Angela Merkel nicht mehr da ist, dann sind wir hilflos und führungslos. Die ganzen Figuren, die sich jetzt nach ihr um die Kanzlerschaft und um die CDU-Führung bemühen, sind im Grunde ein Verschnitt dieser erfolgreichen Politikerin. Es gibt viele Dinge, die sie nach meinem Dafürhalten nicht vermitteln konnte, aber sie ist sehr erfolgreich, und ich muss einfach sagen, sie hat uns in ihrer ganzen Amtszeit aus großen kriegerischen, weltpolitischen Konflikten rausgehalten.
Zu ihrer Person selber: Alles das, was sie zur erfolgreichsten deutsche Politikerin überhaupt gemacht hat, hat sie in einer historischen Etappe aufgenommen, erlebt, ist ihr beigebracht worden in der DDR. Alles was sie ausmacht. Sie ist in einem christlichen Haushalt groß geworden – wie auch ich – mit der Religiösität aber auch mit der Weltlichkeit der FDJ, der staatlichen Struktur in der DDR. Das hat sie klug gemacht, das hat sie in hohem Maße auch geeignet gemacht Ost und West zu verstehen. Deshalb ist sie ja auch so erfolgreich. Und sie hat einen ganzen Schwung mehr graue Zellen als wir beide. Sie ist hochgebildet, sie hat einen extremes Allgemeinwissen. Und dann ist sie im Grunde mit diesen Talenten an Helmut Kohl herangetreten, der ihr nur noch das Klavierspielen beibringen musste. Und das hat er getan. Und das hat sie besser begriffen als alle anderen.
Helmut Kohl und Angela Merkel – hat das nicht alles auch viel damit zu tun, dass beide so vergleichsweise überlang im Amt waren bzw. noch sind? Demokratie funktioniert ja eigentlich anders, lebt vom Streit und vom Wechsel der Verantwortung, vom Staffelstab. Wächst mit der langen Amtszeit nicht sowieso automatisch der Einfluss international? Brauchen wir in Deutschland wirklich solche Führerfiguren, wozu also noch wählen?
Also die Kraft von Helmut Kohl und die Kraft von Angela Merkel haben dazu geführt, dass sie sehr sehr lange ihre Ämter ausfüllen konnten und können. Die beiden sind ausgesprochen kraftvoll und sind sich da auch sehr ähnlich. Wobei ich beide gut kenne, Helmut Kohl habe ich natürlich viel mehr geschätzt, das war die erste große starke Persönlichkeit, die in mein Leben getreten ist. Ich habe diesen Mann sehr verehrt. Er hatte die skurrile Eigenschaft, uns Ostdeutsche, die wir die skurrilsten Deutschen überhaupt sind, zu erkennen. Und auch über dieses Erkennen zu schätzen. Deswegen habe ich eine ganz extreme Nähe, eine politische wie auch menschliche zu ihm gehabt. Und bin sehr froh, dass ich ihn erleben durfte. Ich glaube, dass es zwischen diesen beiden viele Ähnlichkeiten gibt. Helmut Kohl hat das Ansehen unsere geeinten Vaterlandes in einem ganz extremen Maße unterstrichen. Und Angela Merkel hat das auch getan. Und alles andere, was jetzt – ich will gar nicht mal über die Corona-Situation reden – was uns mit Unzufriedenheit erfasst, was im Jahr 2015 geschehen ist, das muss man differenzierter erläutern. Es ist aus dem Grundgesetz zu verstehen. Und aus dem Grundgesetz heraus nachzuverfolgen – die Entscheidung Angela Merkels, in Not geratene Menschen aufzunehmen. Aber man muss das „in Not geraten“ prüfen. Man muss die Rucksäcke, die die mitbringen …
Aber das ist doch längst geprüft. Wenn nur eine ganz geringe Zahl tatsächlich Asyl bekommt und der Rest dank über fünfzig und mehr unterschiedlicher Aufenthaltstitel ein Bleiberecht quasi ertrotzt. Die Prüfungen finden doch statt.
Ich gebe Ihnen ja Recht. Und das ist das totale Versagen der Innenpolitik, der Angela Merkel unterstellten Innenpolitik.
Aber sie hat doch eine Richtlinienkompetenz – Apropos: Wie ist der Unterschied in Ihren Augen im Umgang mit der Richtlinienkompetenz bei Kohl und Merkel? Wurde dieses „letzte Wort“ von beiden unterschiedlich genutzt?
Ich glaube, dass Helmut Kohl in seiner persönlichen Umgebung viel stärkere Mitstreiter hatte. Und auch kraftvollere Figuren hatte als Angela Merkel.
Woran liegt das?
Angela Merkel hat die vielen Vorteile aus einer DDR-Biografie, aber eben auch die Nachteile. Helmut Kohl hat immer die große Bereitschaft gehabt, starke Männer und Frauen an seiner Seite zu platzieren. Kohl hatte aber damit zu rechnen, dass die irgendwann sagen: Jetzt muss ich mal gucken, ob ich nicht stärker bin als Kohl. Das hat Angela Merkel lange aus nächster Nähe beobachtet. Und sie hat für sich festgestellt, dass es auch mit Schwachköpfen geht. Schauen Sie mal die an, die sich jetzt alle beworben haben um den Posten des Parteivorsitzes, da hat Angela Merkel einmal tief Luft geholt, da saß der Merz unterm Tisch. Und als sie das zweite Mal tief Luft geholt hat, saß der Röttgen unterm Tisch. Ich will damit nur dagen: Das macht deutlich, was das für Figuren sind …
Aber die sind natürlich nicht Schuld an den Verwerfungen, die wir im Moment haben, an diesem tiefen Graben quer durch die Gesellschaft. Wenn Merkel heute kritisiert wird für die Corona-Maßnahmen, dann bekommt man oft als Erwiderung, die anderen Länder hätten doch dasselbe Problem. Aber wir haben doch deshalb ein besonderes Problem und eine scharfe Debatte, weil dieses Corona-Problem bei uns schon auf einen Graben gefallen ist, den es anderswo so gar nicht gibt. Und der Graben hat mit der Massenzuwanderung zu tun. Und der hat damit zu tun, dass Kritiker diskreditiert, diffamiert und denunziert wurden. Wenn dass das DDR-Erbe von Merkel sein soll …
Dieser Angriff auf die Grundrechte, den wir jetzt erleben, ich habe zu wenig Verstand im Kopf um zu sagen, der ist medizinisch, der ist seuchenpolitisch notwendig oder nicht. Aber es ist unterlassen worden, den Menschen zu erläutern, um was es da geht. Wir hatten vor Corona die gleiche Regierung wie heute. Die gleichen Figuren, die gleichen Pappnasen. Davor war klar, dass das Pappnasen sind, dass die hilflos sind, dass die uns nicht weiterbringen. Meine Partei, die ich im Herzen trage, war bei 22 oder 23 Prozent. Heute haben wir wieder fast 40 Prozent unter Corona. Ich will damit sagen, diese Figuren können es nicht. In Deutschland wurde der Impfstoff entwickelt. Und jetzt setzt die Politik ein und versagt vollständig. Die Verteilung, der Umgang damit. Wenn es notwendig ist, die Grundrechte einzuschränken, dann muss man das den Menschen vernünftig erklären. Es reicht nicht, den Fernseher anzudrehen: Corona – und ihn wieder auszudrehen und wieder: Corona. Die Politik hat die gottverdammte Pflicht, die Menschen mit Wärme und Herzlichkeit, mit christlichem Verständnis zu führen. Und nicht mit Angst und Elend abends ins Bett zu schicken.
Mal davon abgesehen, ob dieser mütterliche Gestus der richtige ist in einer aufgeklärten Gesellschaft: Merkel gilt nun aber mehr als verwaltende Technokratin. Jedenfalls eilt ihr der Ruf nach. Gerade in den letzten Monaten kommt nun so eine bemühte Herzlichkeit durch, welche viele der Kanzlerin nicht abkaufen. Oder sie verlässt an anderer Stelle ganz wütend die Ministerpräsidentenrunde, weil man ihr dort unterstellt hätte, sie sei hartherzig zu Kindern, das war im Übrigen auch ein Vorspiel zur Massenzuwanderung, als Merkel vor laufenden Kameras ein Migrantenmädchen mit Fluchthintergrund zum Weinen brachte. Ist das nicht in Demokratien das gleiche wie in Diktaturen, dass der Machthaber oder die Machtausübenden mit der Fortdauer der Macht immer merkwürdiger und demokratieferner wirken und agieren?
Wer Angela Merkel vorwirft, ein hartherziges Verhältnis zu Kindern zu haben, der ist einfach doof. Angela Merkel steht im festen Glauben schon aus ihrer Herkunft heraus. Im gleichen Glauben wie ich. Sie ist fest von christlich-abendländischer Kultur erfasst. Ihr das vorzuwerfen ist unmenschlich …
Aber warum macht sie dann so viel kaputt mit dieser Massenzuwanderung – würden jetzt ihre Gegner einwerfen.
Das hatte ich Ihnen erläutert. Diese Massenzuwanderung von in Not geratenen Menschen, diese aufzunehmen ist zulässig. Aber die Art und Weise der Aufnahme ist vollständig unzulässig.
Aber kann das sein, dass dieses Christentum von Angela Merkel dann auch nicht besonders wehrhaft ist? Und Ihres vielleicht auch nicht?
Mein Christentum ist wehrhaft. Soweit kann ich das bei Angela Merkel nicht bewerten. Ich glaube, die Entscheidung von 2015 kann man mit ihrem seelischen, mit ihrem weltanschaulichen christlichen Denken begründen und rechtfertigen. Die Umsetzung ist falsch gewesen. Man kann nicht aus Kriegsgebieten Leute aufnehmen, man hat Regimenter von Terroristen hier eingeschleust und hier sesshaft gemacht. Man hätte hier vernünftige Erfassungen durchführen müssen. Man hätte die Leute untersuchen müssen …
Wäre es nicht viel einfacher gewesen, die finanziellen Zuwendungen hier in Sachleistungen umzuwandeln? Damit hätte man den Zustrom möglicherweise schon halbiert.
Das weiß ich nicht. Die Frage war ja nach dem Zustrom, ob diese Entscheidung der Bundeskanzlerin 2015 richtig oder falsch war. Ich sehe das Ergebnis auch als eine Bedrohung für unsere Bundesrepublik Deutschland, weil es falsch umgesetzt wurde. Ich sage nicht, dass diese Entscheidung falsch war. Aus meiner Erziehung in der DDR, ich bin hinter einer DDR-Kirche groß geworden, ist auch dem verlorenen Sohn, dem Hilflosen, dem Kranken, dem Armen Hilfe zuteil werden zu lassen. Das ist das Motiv von Angela Merkel. Bei der Umsetzung ist so gut wie alles falsch gegangen.
Würden Sie mir als Westdeutschem mit Geburtsjahr 1964 zubilligen, dass wir hier doch einen konkreteren Blick auf Zuwanderung haben? Wir sind mit Migration und mit Gastarbeitern aufgewachsen. Wir wissen, was dann in der zweiten und dritten Generation passierte. Auch, dass zwei Drittel der wahlberechtigten Türken in Deutschland Erdogan wählen. Da ist doch was missglückt! Da hat doch der Westdeutsche noch einmal einen ganz anderen Blick.
Sie packen jetzt zu viele Sachen in die Frage hinein – oder in die Feststellung. Das sind Ihre Feststellungen und die mögen richtig sein. Hier gilt das Grundgesetz. Und wer mit dem Grundgesetz und der Rechts- und Moralordnung in Deutschland nicht einverstanden ist, der muss Deutschland verlassen. Ein persönlicher enger Freund von mir hat ein wichtiges Buch geschrieben über die Clan-Strukturen und Clan-Verbrechen in Deutschland. Das ist auch seit Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste. Wer sich gegen diese Gemeinsamkeit – die sich bei uns seit vielen, vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten entwickelt hat – stellt, der hat hier nichts zu suchen. Der muss raus. Dazu ist die Rechtslage auch erschöpfend.
Aber wie bitte soll das ein Armin Laschet regeln, dass so etwas dann auch umgesetzt wird? Laschet war doch der, der seine NRW-Grenzen offen gehalten hat, als Horst Seehofer als Bundesinnenminister schärfere Grenzkontrollen wollte.
Das ist für mich auch vollkommen unverständlich, auch bei Corona so lange zu sagen: Die offenen Grenzen sind ein Heiligtum und werden nicht geschlossen. Das ist vollkommen absurd und falsch. Bei Corona ist es doch so, dass einige Länder damit anders umgehen als die Deutschen. Die Deutschen sind erfahrungsgemäß sehr diszipliniert und haben eine gewisse Gesundheitsstruktur entwickelt, die es in anderen Ländern gar nicht gibt.
Aber ich möchte diesen ganzen Weltschmerz, denn Sie jetzt da hereinpacken… ich sehe es eher konstruktiver. Ich sehe, wenn Angela Merkel bessere Berater bei sich hätte, ja dann … sie ist intelligent und scharfsinnig genug, auch mal einen anständigen Widerspruch anzunehmen. Denn ein anständiger Widerspruch ist kein kompromitierender, sondern ein Widerspruch in der Sache. Diese Frau ist so intelligent – und wir beide werden uns an dieses Interview erinnern, wenn sie nicht mehr Kanzlerin ist, dann werden Sie sagen: Der Diestel, dieser arrogante Schnösel hat Recht gehabt. Die ist weg und wir fühlen uns nackt und hilflos.
Na gut, diese Hilflosigkeit mag dann auch am Scherbenhaufen liegen, den sie hinterlassen hat. Aber nun haben wir die ganze Zeit über eine einzige DDR-Frau geredet. Was war denn an den DDR-Frauen anders als an jenen, die Sie später im Westen kennengelernt haben?
Der liebe Gott hat die schönen Frauen, die klugen Frauen und die dummen Frauen überall gleichmäßig verteilt. Übrigens auch die Männer. Wenn Sie mich nach den DDR-Frauen fragen, mit denen ich groß geworden bin. Dann ist das das, was mich mein ganzes Leben mit Ehrfurcht und Dankbarkeit verfolgt hat: Ich habe die gleichberechtigte Frau in der DDR erlebt! Wenn ich das jetzt sage, denken Sie, der Diestel gehört doch in die Heilanstalt, der ist doch nicht ganz klar, aber wir hatten eine Gleichberechtigung! Es gab nie wieder so viel Gleichberechtigung, so viel Selbstverständlichkeit zwischen Mann und Frau, wie es sie in der DDR gegeben hat. Das ist etwas, was ich mit dem Frauenblick betrachte. Und deshalb ist es ja auch logisch, dass eine der stärksten von uns eine Frau war, dass sie in die Bundesrepublik hineingewachsen und Kanzlerin geworden ist. Völlig normal, völlig konsequent. Angela Merkel hat eine hohe Wissensvermittlung, eine Moralvermittlung in der DDR erfahren in der Kirche. Dass sie in der FDJ war, ist doch lächerlich. Lass sie doch in der FDJ gewesen sein.
Na ja, Propagandasekretärin ist schon etwas mehr oder?
Das ist völlig normal gewesen und nicht vorwerfbar. Glauben Sie mir das bitte, es ist nicht vorwerfbar. Das ist das Leben in der DDR. Und auch Herr Gauck werfe ich die Kontakte, die er zu irgendwelchen Sicherheitsstrukturen hatte, nicht vor. Wichtig ist: Wie sind sie selbst mit diesem Erbe umgegangen? Wir haben uns das alles nicht ausgesucht, in Folge des Zweiten Weltkrieges mussten 17 Millionen Deutsche unter kommunistischer Herrschaft leben. Da ist es völlig legitim und korrekt und anständig und würdevoll, wie sich Frau Merkel und alle in dieser Zeit verhalten haben.
Habe ich einen Widerspruch bei Ihnen entdeckt? Sie argumentieren die Weiterbeschäftigung von Stasi- und Armeeleuten mit deren unersätzlicher Kompetenz, aber gleichzeitig regen Sie sich auf, dass die Westler alle Positionen in allen Bereichen in den neuen Bundesländern einnehmen. Aber wer den Kapitalismus will, muss vielleicht auch hier die Spezialisten nehmen, die da sind, und das sind nunmal die kapitalismuserprobten Westdeutschen gewesen.
Jetzt müssen Sie einen Punkt machen, weil sie zwei ganz wichtige Komplexe angesprochen haben. Denn ersten: Ich habe den effektivsten und stärksten Geheimdienst der Welt geführt und aufgelöst. Und das mit extremer Friedlichkeit. Es ist in der Zeit, in der ich Verantwortung hatte für etwa eine Million Bewaffnete und hunderttausend Menschen im Ministerium für Staatssicherheit, nicht ein einziger Schuss gefallen. Und es ist mir gelungen mit Gleichgesinnten, diesen Komplex zu neutralisieren, dass er sich nicht gegen die deutsche Einheit gestellt hat. Darauf bin ich extrem stolz. Die Generalität, die Fachlichkeit der Leute, die ich geführt habe, und die Dummheit, die ich persönlich hatte auf diesem Gebiet, haben mich gezwungen, mit diesen Leuten zusammenzuarbeiten. Und ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, mit diesen Menschen würdevoll umzugehen. Dass nach der deutschen Einheit diese Würde verlorengegangen ist, ist eine ganz andere Sache.
Wenn man immer verliert, im Leistungssport immer verliert und auf geheimdienstlicher Ebene immer verliert, was machen dann schlechte Verlierer? Wenn der ewige Sieger die Waffen niederlegt, dann prügeln sie auf den ein. Und genau das haben wir erlebt. Wissen Sie, einige haben gesagt, man hätte ja mal ein paar Leute an Laternen aufhängen müssen, aber wir hatten nur die Hände zum Gebet gefaltet oder eine Kerze in der Hand.
Konrad Adenauer hat es nicht anders gemacht mit diversen Nationalsozialisten in Amt und Würden …
Der hat das völlig richtig gemacht. Und den Frieden, den wir in der deutschen Einheit erleben durften, diese Friedlichkeit, die Ossis haben die Mauer eingerissen!
Aber Sie dürfen dann doch nicht im Gegenzug über einen Kurt Biedenkopf meckern, der ist zwar ein Westimport aber eben ein Fachmann für das kapitalistische System, der in Sachsen alles vernünftig geregelt hat für Euch.
Ich habe mit Kurt Biedenkopf ein sehr enges Verhältnis. Als er noch Professor in Leipzig war, ist er in meinem Haus ein und aus gegangen. Und ich habe mich eingesetzt, ich wollte ihn als Wirtschaftsminister in das erste DDR-Kabinett holen, da hat Helmut Kohl zu mir gesagt: „Diestel, das lass man schön stecken.“ Das habe ich dann stecken lassen, habe aber politische Freunde unterstützt, dass er in Sachsen Fuß gefasst hat. Und auch darauf bin ich sehr stolz.
Aber zum zweiten Teil Ihrer Ansprache, Ihrer Frage: Es gibt eine große in Deutschland konsequent unterdrückte Menschengruppe, die verfassungswidrig, rechtswidrig unterdrückt werden, das sind die Ostdeutschen. Und ich sage ihnen auch wieso: Es gibt den Verfassungsgrundsatz, dass jeder das Recht auf seinen Richter hat. Wenn Sie sich die ostdeutschen Gerichte angucken, die Oberlandesgerichte, da sind fast alle aus dem Westen. Ich kenne gar keine ostdeutschen Richter. In den Landgerichten das gleiche und in den Staatsanwaltschaften.
Aber in den ersten Jahren war das doch sehr hilfreich sicher …
Lassen Sie mich das Problem kurz zu ende darstellen… In den Staatsanwaltschaften das Gleiche. Wenn Sie jetzt in die Ministerien kommen, dann haben Sie nur noch altbundesdeutsche Staatssekretäre, aber Sie haben nicht einen einzigen Ossi im Saarland, in Kiel, in Hannover, In Mainz, nirgendwo. Und das ist eine vollständige Ausgrenzung einer Kultur überall in den Ministerien, den Gerichten. Jetzt sage ich nicht, dass die Wessis alle raus müssen, das sind viele, viele Freunde auch von mir. Aber eine so flächendeckende vollkommene Ausgrenzung einer großen Menschengruppe kann nur in ein Chaos führen.
Das klingt mir jetzt aber sehr nach der 35-Prozent-Migrationsquote, die Berlin gerade für die Verwaltung gefordert hat. Ist das nicht gefährlich, was Sie da sagen?
Was Berlin jetzt macht, ist verfassungswidrig. Das ist grundgesetzwidrig …
Fordern Sie nicht gerade dasselbe für Ihre Ostdeutschen?
Ich fordere, dass Menschen, die immer hier gelebt haben und die das Grundgesetz für ganz Deutschland erstritten haben, dass die eine Gleichberechtigung in diesem Land erfahren. Und sie haben das nicht. Ich habe den Bundespräsidenten dazu angeschrieben. Und die Zahlen, die ich nenne, die sind ja alle objektiv, es ist ja so, dass die hier in den Verwaltungen, in den Strukturen und den Gerichten, in der Kultur, überall wo es was zu entscheiden gibt, Leute aus dem Westen plaziert haben. Das ist verfassungswidrig! Weil das eine Einbahnstraße ist. Weil die in Hamburg oder bei Ihnen in Braunschweig oder egal wo Sie jetzt sind, derartiges nicht haben. Das muss geändert werden, nicht mit Gewalt, aber jetzt müssen auch in Sachsen sächsische Menschen in den Ministerien, in den Verwaltungen sein. Wenn Sie sich die Universitäten anschauen, überall im Osten dasselbe bis hin zur West-Entscheidung, wer bekommt diesen oder jenen Lehrstuhl, wer den Posten als Hauptabteilungsleiter. Wer wird leitender Richter? Alles Leute aus dem Westen. Wenn diese Republik kippen soll – 17 Millionen Unzufriedene im Osten und es wird ja immer krasser, was Sie hier im Osten erleben. Und die Figuren, die uns hier im Osten offeriert werden, werden immer dilettantischer, immer einfacher, immer schlechter, das wird nicht gut gehen, das wird diese gesamte Bundesrepublik zerreißen. Das ist ein Konflikt, über den niemand nachdenken will. Warum? Weil Corona alles aussetzt. Wir denken nicht mehr nach, wir machen nichts mehr, wir reden nicht mehr darüber und nur noch über Corona. Das ist ja das aktuelle politische Modell, in dem wir leben. Das wird aber so nicht aufgehen.
Darf ich nochmal zu den DDR-Frauen zurückkommen?
Müssen Sie unbedingt!
Ich war schon früh nach der Grenzöffnung im Osten unterwegs. Mir haben die DDR-Männer oft leid getan in ihren Stoneswashed-Jeans und mit ihren neu gestochenen Ohrringen. Die Frauen hatten es doch leichter, sich an den Westen anzupirschen, die Männer standen oft ziemlich verloren da, ich würde sagen, sogar einige Jahre nach der Wende ging das so weiter, und die Schere zwischen DDR-Frau und -Mann ging weiter auseinander. Können Sie das bestätigen?
Ich befürchte, dass Sie leider Recht haben. Wenn ich Sie das nächste Mal erwische, dann hau ich ihnen aber eine …. (lacht).
Sie sprechen in Interviews oft von Stolz und Anstand, was bedeuten Ihnen diese Begriffe?
Stolz – wissen Sie, man hat den Osttdeutschen die Würde und den Stolz genommen. Man hat osttdeutsches Leben auf Stasi und auf DDR-Strukturen reduziert. Man findet bei Angela Merkel nichts, die ist so erfolgreich … Aber Sie müssen wissen und das müssen sie immer wieder schreiben: Sie mag mich nicht. Das ist aber selbstverständlich, dass sie mich nicht mag. Das ist völlig selbstverständlich. Aber man kann, wenn man ihr ans Zeug will, nicht ihre Vergangenheit, man kann nicht ihre Kinderlosigkeit anführen, wer so etwas macht, ist ein Strolch, der hat eben keinen Stolz und keinen Anstand.
Wozu auch, viele finden bei Merkels gegenwärtiger und vergangener Politik ausreichend Angriffsfläche. Da könnte man schon feststellen, dass diese Politik einen Graben quer durch die Gesellschaft gezogen hat, dafür müssen wir gar nicht Merkels DDR-Vergangenheit aufrufen. Hier sind doch jenseits von Corona Zustände entstanden, die viele für sehr bedrohlich halten.
Völlig richtig, aber das ist auch die Einseitigkeit der Leute, die sich um Merkel herumscharen. Gucken Sie sich doch diese ganzen Figuren an, die da ihre Doktorarbeiten nicht selber geschrieben haben.
Ich finde immer wieder erstaunlich, dass es durchaus auch kritische Kommentare zur Migration von Merkel selbst gibt, die heute aus ihrem Munde undenkbar wären …
Ja, die kenne ich alle.
Viele Medien nennen Sie Zeitzeuge, aber Sie sind ja Beteiligter, sind Akteur …
Ich habe mich damals rücksichtslos und mit dem wenigen Verstand, den ich habe, durchgesetzt. Und ich habe meinen Beitrag geleistet als Vizekanzler.
Haben Sie noch die Pistole, die Sie sich mal wegen der RAF zugelegt haben?
Die habe ich noch. Und wissen Sie, bei den RAF-Festnahmen bin ich auch froh, dass das alles friedlich gegangen ist. Ich bin stolz, dass wir auch das friedlich gelöst haben.
Ein ziemlich aufregendes Leben, dass Sie da hatten und haben …
Sie haben Recht! Und dafür bin ich dankbar und demütig. Dankbar, dass ich dieses große Abenteuer erleben durfte.
Danke für das Gespräch.