Nein, Renate Künast möchte nicht weiter widerlich gefunden werden. Die Politikerin der Grünen reagiert im Herbst ihrer politischen Karriere merkwürdig dünnhäutig, wenn es darum geht, die ätzend laute Stimme des Volkes allmorgendlich bei ihrem ersten „Renate Künast“ googeln entgegengebrüllt zu bekommen. Die digitale Welt ist ungefiltert im analogen Wesen der heute über 60-Jährigen angekommen und ihr zu viel geworden. Lange hat’s gedauert. Haben sich die Hornhaut-Ellenbogen am Ende doch nicht ausgezahlt, wenn man nach all den politischen Grabenkämpfen bis hoch auf den Ministerposten im Volk so wenig geschätzt wird?
Heilt die Zeit alle Wunden? Nein, Renate Künast ist nicht Katrin Göring-Eckardt. Das immerhin gereicht ihr zur Ehre. Würde man Politiker lediglich nach Sympathie beurteilen, wahrscheinlich läge ein Alexander Gauland selbst bei AfD-fernen Facebookern noch weit vor Katrin Göring-Eckardt.
Wenn wir heute auf die Bundestagsabgeordnete schauen, dann erleben wir eine andere Politikerin, als die Künast vor 2001. Kaum eine Grüne repräsentiert wohl mehr die Ankunft der ehemals langhaarigen Bombenleger im Establishment. Ihre Zeit als Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat die mittlerweile 61-jährige nachhaltig geerdet. Wohl oder übel hatte sie sich im Amt mit der Mentalität des deutschen Bauern auseinanderzusetzen. Wer auf der deutschen heimischen Scholle punkten will, lernt die Position der Gegenseite zu verstehen, muss die eine oder andere fettige Bratwurst essen und sich fingerdicke Leberwurstbrote schmieren lassen.
Was sie freilich nicht dran hinderte, als verspätete Rache den viel belächelten deutschen Veggie-Day vorzuschlagen. Geschenkt, denn schon 2001 schnellte der Beliebtheitsgrad der frischen Ministerin in die Höhe und endete erst hinter Schwiegermutters damaligem Liebling, dem auf dem Sofa unterm Hirschgeweih angekommenen Ex-Rabauken Joschka Fischer.
Diese Renate Künast schien also über das hohe Amt eine Grüne mit der Aura deutscher Hausmannskost geworden zu sein. Eine Grüne mit dem Stallgeruch der Volksparteien. Wir erinnern uns: Schröder verlangte nach einem Bier unter Androhung von Arbeitsverweigerung und Helmut Kohl serviert Chirac und Gorbatschow seinen geliebten Pfälzer Saumagen.
Dank? Pustekuchen, Undank ist der Welt Lohn: Renate Künasts Wandlungsfähigkeit wäre wahrscheinlich in der Vor-Internetzeit eine gelungene Metamorphose geworden. Rückblickend übrigens auch so ein Phänomen des 20. Jahrhunderts: Ausgestattet mit allen Chancen zum Wandel, zur Veränderung, zur Neuorientierung. Freilich eher bezogen auf die mediale Wirkung und weniger auf den Erfolg der politischen Inhalte. So betrachtet ist es eben genau andersherum: In Zeiten, in denen politische Biografien mit allen Haken und Ösen offen liegen, ist die postfaktische Zeit ein Phänomen von Gestern. Heute können so viele Menschen wie nie zuvor auch ohne gelerntes und im Gedächtnis abgespeichertes Uni-Wissen Fakten und Wissen googeln, abrufen, einordnen und neu bewerten. Googeln kann jeder.
Die Untoten unter dem Mantel des Vergessens
Des Journalisten Hauptbetätigungsfeld ist auch längst das Google-Suchfeld. So berichtete der Spiegel gerade noch von Künasts unrühmlicher Rolle im Päderastenskandal der Partei, der eigentlich schon einige Jahrzehnte zurück liegt und ohne diese unheimliche Dynamik des Internets mindestens investigatives journalistisches Interesse verlangt hätte, Recherchen in Bibliotheken, auf Mikrofilmen, in Redaktionsarchiven usw. Nichts gerät in Vergessenheit. Was da war, bleibt da. Übrigens: Egal, ob es wahr war. Alles kann zu jeder Zeit als schlagendes Argument reaktiviert werden – die Untoten haben den Mantel des Vergessens endgültig abgelegt. Ottonormalverbraucher Herr Schmidt, Frau Meier und Ehepaar Müller füttern so ihren laut gestellten Frust und ihre alltägliche Abneigung auch noch argumentativ? Nö, tun sie erstaunlicherweise nicht. Da heißt es via Facebook beispielsweise einfach nur:
„Mensch Künast, das saudumme Geblöke von Dir und deinem grünen Gesocks will doch keiner mehr hören, pack deine sieben Sachen und zisch ab.“
Facebook, 24. März 2016/b
Und ein oder eine andere schreibt:
„Renate, höre auf. Du warst mal sehr gut. Nun erscheinst du nur noch als geifernde, senile, zickige Person. Du bist kein Vorbild mehr. Kannst nicht mehr zuhören. Setz dich zur Ruhe und geniesse das Leben.“
Facebook, 21. Juli 2016/b
Jeder Politiker kennt das heute, die digitalen Pinnwände sind voll davon und die Verlinkungen direkt via #Hashtag zum Adressaten so perfide und treffsicher, wie es nur ausgebuffte Algorithmen schaffen. Jetzt muss man sich so einen Berufspolitikercharakter einmal genauer vorstellen. Da ist jemand in der politischen Hierarchie oder gar im Hochamt ganz weit oben angekommen. Um da anzugelangen, muss unweigerlich der eine oder andere politische Weggefährte weggetreten, verraten oder verkauft werden. Was das bei den Grünen noch einmal mehr für ein übles und schmutziges Gerangel war, hat die Ex-Grüne Jutta Ditfurth in vielen aufschlussreichen Publikationen hinreichend belegt.
Die Ditfurth – man mag von ihr halten was man will, Gradlinigkeit kann man ihr nicht absprechen – Ditfurth jedenfalls schildert Renate Künast gar als „maßlos ehrgeizig und opportunistisch“ – und sie als Weggefährtin muss es ja am Besten wissen.
Künast: maßlos ehrgeizig und opportunistisch
Renate Künast schaut also wie alle diese eitlen Berufspolitiker ins Internet, googelt sich vielleicht zehn oder gar fünfzehn Mal am Tag selbst und bekommt dafür – nein, keine roten Wangen vor Begeisterung – ein Feedback, das sich mit Ihrer Selbstwahrnehmung so überhaupt nicht deckt, mit ihren jahrzehntelangen Anstrengungen, mit dem kalkulierten Verlust an Haltung, mit all diesen ätzenden Kompromissen mit noch dem dümmsten Bauern, mit den aufgekündigten Freundschaften der Ellenbogengetroffenen: Nein, da fehlt nun der gerechte Lohn für die Strampelei, für das andauernde Getrete nach unten, bis man ganz oben angekommen ist an den steuerfinanzierten Honigtöpfen.
Dann wird man älter, das Leben ist auf der Zielgeraden angekommen, vielleicht noch 15 oder gar 20 satte und halbwegs gute schmerzfreie Jahre – aber wofür all die guten Jahre davor weggeschenkt? Dafür, das nun irgendein anonymer, enttäuschter und dahergelaufener DDR-sozialisierter Blödmann der verdienten Berufspolitikerin aus dem Westen, der Ex-Gorleben-Aktivistin mal öffentlich einen einschenkt, grad so, wie ihm der versoffene Schnabel gewachsen ist?
Damit ist der Korken aus der Flasche: Wer sich jahrzehntelang um jeden öffentlichen Satz bemühen musste, wer sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit der vordigitalen Zeit so hart erarbeitet hat, wer in unendlich vielen Gesprächen mit unendlich nervigen Medienvertretern jeden sorgsam überlegten Satz einpeitschen, einschmeicheln und einflüstern musste, für den muss es doch schier unerträglich sein, das nun jeder Hinz und Kunz für jede spontane Kritik und Beschimpfung eine gefühlt gigantische Öffentlichkeit bekommt, die einem selbst so lange nicht zur Verfügung stand.
Sie muss es so hassen …
Ja, Renate Künast muss es wirklich hassen. Darunter leiden. Jeden Morgen nach dem ersten „Renate Künast“ – googeln wieder neue Wut aus fremden Worten generiert. Vielleicht sogar Hass. Hass auf diese Doof-Deutschen. Wieder ein paar mehr üble Anwürfe unter dem doch ureigenen #Hashtag. Der gepflegte in Ehren gealterte Garten wieder über Nacht rüde verwüstet. Und dann fährt sie also mit dem Magazin SPIEGEL direkt hin zu den Leuten. Also analog zu Claudia Roth, die ja bis heute felsenfest behauptet, sie hätte in Dresden den Dialog mit den Demonstranten gesucht, als sie mal kurz vor dem Deutschlandtag-Buffet an die Absperrgitter zum Pöbel trat und so tat, als gäbe es für sie etwas Dringendes zu besprechen, nur um nachher sagen zu können: ich hab’s ja versucht. Hat Sie aber gar nicht.
Denn wenn man auf „Sie haben Deutschland verraten“ keine adäquate Antwort findet, dann hat man den Dialog eben verweigert. Dann hat man angezeigt: Wir sprechen nicht dieselbe Sprache. Dann reiht man sich ein in den Gang der Polemik. Was auch sonst? Was bleibt auch über, wenn man sich so unversöhnlich gegenüber steht. Aber mitten in diese Polemik hinein mit Medienrummel Hausbesuche zu erstatten wie nun Frau Künast, ist selbstverliebter, arroganter Blödsinn. Denn um Ernst genommen zu werden, müsste man ja eine Dialogbereitschaft mitbringen, sich fragen, wo denn nun der eigene Verrat liegen könnte. Wie die Menschen darauf kommen. Und wie man den Vorwurf aus der Welt schaffen könnte. Macht sie aber gar nicht.
… und agiert so hilflos
Der Berliner Kurier titelt dazu: „Renate Künast rennt Wutpöblern die Tür ein.“ Da klingelt die Gute an fremden Türen und will die Menschen zur Rede stellen. Und man fragt sich spontan: Was bitte muss ihr an so einem folgenden Satz noch erklärt werden?
„Mensch Künast, das saudumme Geblöke von Dir und deinem grünen Gesocks will doch keiner mehr hören, pack deine sieben Sachen und zisch ab.“
Was also will die Frau mehr, als mediale Aufmerksamkeit? Gibt es die woanders nicht mehr, dass der SPIEGEL mal wieder aushelfen muss? Man kann ja nicht ernsthaft erwarten, auf zerknirschte Abbitter zu treffen. Noch mehr, da man sich die Höflichkeit einfach spart, den Besuch anzukündigen. Es sieht eben einfach für die Künast noch besser aus, wenn der Besuchte in dreckigem Alltagsunterhemd und gammligen Adiletten ans Tor kommt zum Gespräch mit dem Vorwerkvertreter – ach ne, Frau Künast gibt sich heute überraschend die Ehre in der komfortablen Sänfte der Blattmacher aus Hamburg. Wetten man kam im Hybrid? Die Aktion war dann aber leider auch nur ein Hybrid. Eine billige Propagandamasche.
Wollte Künast nun jeden Einzelnen ihrer Kritiker den Ellenbogen in die Seite stoßen, ihn an der Türe argumentativ in Grund und Boden zwingen, bis keiner mehr über bleibt? Nein, das erinnert doch sehr an den abgewiesenen Liebhaber, der der Verflossenen hinterher noch wortreich und argumentativ erklären will, warum er doch bitte wieder geliebt werden muss. Nein, das kann nicht funktionieren, noch weniger, wenn auch hier einer der Besuchten an der Tür noch einmal deutlich macht (wie der SPIEGEL berichtet): Frau Künast, sie sind „widerlich“.
Und eine Politikerin widerlich finden, das ist ja noch kein Verbrechen. Mitunter ist es sogar die natürlichste finale Zusammenfassung einer zuvor über viele Jahre vorgenommenen rationalen Erwägung.
Und nun noch die aufschlussreichste Szene aus der SPIEGEL-Reportage zum Schluss. Eine Szene, die für sich das Potenzial hat, zu erklären, warum Menschen Politikern in den Sozialen Medien gerne mal einen Bitteren einschenken:
„Man merkt Künast an, was die dreißig Jahre in Ausschüssen und Plenarsitzungen mit einem Politiker machen. Sie hat jederzeit eine ganze Waffenkammer voller Fakten parat. Es ist außerhalb ihrer Vorstellung, dass ihr Tweet einfach falsch geklungen haben könnte. Irgendwann wird ihr Gegenüber müde. Er sagt: ‚Also gut, Du hast recht.‘ Dann muss Künast zur Toilette. Sobald sie außer Hörweite ist, beugt er sich vor und sagt: ‚Sie hat natürlich nicht recht.’“