Tichys Einblick
Bundestag

Generalaussprache der Bundeskanzlerin: Ohren zu und durch

Und das war's dann schon zum Problemfeld Zuwanderung: Abgehandelt von der Bundeskanzlerin in wenigen Minuten zwischen einer Feldherrinnen-Attitüde bei europäischen Waffensystemen und einer Nachbarschaftsreise um die Welt im Schnelldurchlauf.

© Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Wie unsäglich banal das klingen kann, wenn eine Bundeskanzlerin zu lange im Amt ist, wenn sie die Gesellschaft tief gespalten, Europa mit ihrer Zuwanderungspolitik entzweit hat und das alles einfach nicht wahr haben will, kommt ganz zum Schluss der Generalaussprache zur Regierungspolitik in klassischem Merkel-O-Ton:

„Ja, die letzten Jahre haben wir schon viel gemacht, aber nicht genug, so ist das Leben. Sonst müssten wir ja irgendwann aufhören, Abgeordnete zu sein. Politik wird immer wieder neue Aufgaben haben. Das ist das Schöne und das, was spannend ist.“, so Merkels Anmerkung zu einer Zwischenbemerkung des Abgeordneten Dietmar Bartsch von der Linkspartei. Abschließend noch der Verweis auf den Weltbienentag. „Die Bienen stehen inzwischen pas pro toto für das, was wir unter Artenvielfalt, unter Natur wie sie funktionieren muss und soll und wie wir sie schützen müssen, steht. Deshalb sollten wir an diesem Tag wirklich an diese Artenvielfalt denken und etwas Gutes für die Bienen tun.“ Hingesagt und hingeschenkt an Katrin Göring-Eckardt. Hummel und Wespe im Tiefflug. Bienenschlau.

Aber bevor wir zur Bundestagsrede Angela Merkels kommen, hier zunächst einmal Ausschnitte der unmittelbaren Anschlussrede von Alice Weidel/AfD unkommentiert dazwischen geschnitten: „Sogar die Auffettung der Einwohnerzahl durch zugewanderte Straftäter mit mehrfachen Identitäten, scheint sie überhaupt gar nicht zu stören. Doch, ich kann ihnen sagen, Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern. Deutschland ist schon lange ein grenzenloses Einwanderungsland für Unqualifizierte und ein Auswanderungsland für Hochqualifizierte geworden. Und was tun Sie dagegen? Wer soll in Zukunft für die Renten aufkommen? Wer zahlt denn Ihre stattlichen Pensionen, auch ihre, Herr Hofreiter, Sie Schreihals.“ (Für Kopftuchmädchen in Verbindung mit Taugenichtse folgte ein Ordnungsruf des Bundestagspräsidenten.) So kann man das machen, aber nur dann, wenn man etwas partiell Richtiges sagt, aber auf unangenehme Weise alle Klischees bedient, solche, die es einem so verdammt schwer machen mit den Protagonisten dieser bundesparlamentarischen Opposition.

Die Bundeskanzlerin beginnt Ihre Rede damit, auf die gesunkene Gesamtverschuldung zu verweisen, die uns für 2019 erstmals nach 2002 zurück in die Vorgaben des europäischen Stabilitätspaktes gebracht hätte. Sicher, vor der Massenzuwanderung wäre das eine interessante Nachricht gewesen. Aber wenn man nun diese Zuwanderungsproblematik samt Kosten und Verantwortung verleugnet, dann kommentiert man die Stabilitätspakterfüllung wie es unsere Kanzlerin macht: „Und dass wir das schaffen, das ist nichts anderes als Generationengerechtigkeit pur. Und das Denken genau an die, die nach uns einmal jung sein werden und leben werden und deshalb ist das gut.“

Was für ein Deutsch. Was für eine Aussage. Und was für eine Unverfrorenheit in aller vorgetäuschten Unschuld vorgetragen.

Merkel zählt die Krisenherde der Welt auf und endet bei den Toten von Gaza. Die Bundeskanzlerin kommentiert:

„Wir verfolgen diese Schlagzeilen täglich, die uns vor Augen führen, in welch unruhiger und auch unübersichtlicher Welt wir leben. Und wir wissen inzwischen, dass wir uns von diesen Ereignissen nicht abkoppeln können.“

Ja, diese Gewissheit haben wir tatsächlich. Und sie ist in einer Geschwindigkeit über dieses Land gekommen, die atemlos macht, aber keineswegs blind oder dumm. Wer verantwortlich ist, kann nicht mehr verschleiert werden. Noch jedenfalls gibt es für fundamentale Regierungs- und Kanzlerinnenkritik kein Verschleierungsverbot.
Eine weitere Aufzählung folgt, vom arabischen Frühling über die Ukraine, dem „Völkermord an den Jesiden“ und den Attentaten in Paris hin zu diesem Satz wieder im O-Ton Merkel:

„Das sicherheitspolitische Umfeld unserer Nachbarschaft hat sich gravierend verändert. Das sind tiefgreifende Auswirkungen auch für uns und sie zeigen uns noch einmal, ein Land alleine kann mit Sicherheit Sicherheit nicht garantieren. Und deshalb ist uns bewusst geworden, was wir vielleicht oft schon stereotyp gesagt haben: Unsere Sicherheit hängt unauflösbar mit der unserer Nachbarschaft zusammen.“

Nun ist der Begriff „Nachbarschaft“ bei Bundeskanzlerin Merkel ein dehnbarer. Er reicht bis zum Hindukusch hinaus, wenn sie sagt: „Damals galt der Satz von Peter Struck, den er richtig gesagt hat, „die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch – und Hindukusch steht pas pro toto – verteidigt. Richtig, absolut richtig.“

Dann gehen Merkels Gedanken nach Amerika, zum letzten Treffen mit Trump zurück hin zu der Bemerkung, Europa müsse sein Schicksal stärker in die eigene Hand nehmen, als das bislang der Fall gewesen sei. Europa müsse nun auch militärisch zeigen, dass es so etwas wie Weltpolizei sein kann und will:

„Aber die wichtige Botschaft ist eigentlich einen andere: Wenn sie sich die Zahl der Waffensysteme der europäischen Union, der Mitgliedsstaaten der europäischen Union, anschauen, dann kommen wir auf stolze 178. Wenn sie sich die Zahl der Arten von Waffensystemen der Vereinigten Staaten von Amerika angucken, dann kommen die auf 30. Die geben 3,4 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aus, die europäische Union liegt im Mittel unter 2 Prozent. Und mit 178 Waffensystemen können sie überhaupt nicht effizient sein.“

Was soll das werden, Frau Bundeskanzlerin? Ein Wettrüsten der EU mit den USA um die Weltpolizeiherrschaft?

Nach 17 Minuten der 44-minütigen Generalaussprache zur Regierungspolitik kommt Angela Merkel auf „die zweite große Aufgabe“ zu sprechen. Nach der Weltlage über die Waffensysteme zur Migration, zur Frage:

„Wie regeln und steuern wir Migration? Und das wird ein Thema sein, das uns über Jahre – ich sage Jahrzehnte – beschäftigen wird. Mit der Nachbarschaft Syrien, aber dann auch mit der Nachbarschaft Afrika.“

Nachbarschaft? Welche Nachbarschaften eigentlich? Das ist Angela Merkels persönliches google-earth. Warum fragt sie nicht einfach ihre neuen syrischen Selfie-Freunde, wie lang denn die Reise gedauert hätte über die x-te Grenze hinweg?

Angela Merkel will an einem gemeinsamen europäischen Asylsystem arbeiten. Jetzt schon Frau Bundeskanzlerin?

„Deshalb war es richtig, Frontex einzuführen, aber mit 600 Polizisten bei Frontex werden sie die Außengrenzen der europäischen Union mit Sicherheit nicht schützen können. Das ist eine der großen Aufgaben der Zukunft, Frontex zu stärken und vernünftig auszurüsten und Deutschland wird dazu seinen Beitrag leisten.“

Nun haben zunächst einmal Angela Merkels Einladungspolitik und die Verweigerung einer nationalen Grenzsicherung und eines ordentlichen grenznahen Polizeiaufkommens dafür gesorgt, dass überhaupt eine „Willkommenskultur“ entstanden ist. Denn was heißt denn diese „Willkommenskultur“ übersetzt? Es ist die Umetikettierung von etwas, dass sich als Einladungskultur entpuppt hat.

Eine Reise um die Welt mit Angela: Weiter geht‘s zur Afrikahilfe. Zum „Marschallplan für Afrika“. Merkel nennt die „humanitäre Hilfe“ als Komponente. Wir hätten das erlebt, sagt Merkel, „als die Flüchtlinge in Jordanien und Libanon kein Geld mehr hatten um Lebensmittel zu haben, um ihre Kinder zu beschulen, da war der Druck zu fliehen ins Unermessliche gewachsen.“

Das ist schon alleine deshalb interessant, weil Merkel hier als Fluchtgrund nicht mehr Krieg, sondern fehlende Geldmittel argumentiert. Also damit wörtlich genommen alle Syrer zu Wirtschaftsflüchtlingen gemacht hat. Welternährungsprogramm und UNHCR seien bis heute dramatisch defizitär ausgestattet. Hier müsste Deutschland die Stimme erheben, aber auch den Geldbeutel noch weiter öffnen. Logisch.

Und das war es dann schon zum Problemfeld Zuwanderung – abgehandelt in wenigen Minuten zwischen einer lächerlichen Feldherrinnen-Attitüde bei europäischen Waffensystemen, Forderungen zur Euro-Zone und Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM. Als würde bei den Mächtigen der Welt jemand auf sie hören.

Jetzt ist also das Schlimmste überstanden, höchste Zeit also für den finalen Kaffeekränzchen-Tonfall: Die „lieben Kolleginnen und Kollegen“ erfahren, dass Merkel heute noch nach Sofia fliegen wird, um sich mit den Mitgliedsstaaten des westlichen Balkans zu treffen. „Der westliche Balkan und die Situation dort entscheidet über Krieg und Frieden in unserer absoluten Nachbarschaft.“ Es gibt also für Merkel Nachbarschaften (Afrika und Syrien) und „absolute“ Nachbarschaften (Balkan). „Und wenn sie sehen, wie schnell da die Funken sozusagen hochschlagen zwischen Serbien und Kosovo, zwischen Serbien und Herzegowina.“ Und dann der im Klang so kontaminiert klingende Nachsatz: „Im Übrigen wieder ein Grund zu sagen, bevor nicht Grenzfragen geklärt sind, niemals Beitritt eines Landes, muss ich sagen im Rückblick.“

Und deshalb sei es so immens wichtig, sich um diese Fragen zu kümmern und zur wirtschaftlichen Stärkung beizutragen. So unsicher, so bemüht mütterlich im Ton, so flink in der Abarbeitung der innenpolitischen Felder über wenige Minuten, so vordergrümdig engagiert, fast aufgeregt fröhlich der Vortrag, wenn es um die europäischen und internationalen Aufgaben und Verpflichtungen geht. Ja, dieses Deutschland ist nicht mehr ihr Land, wenn die ganze Welt – von ihr gefühlt – nach ihr ruft bzw. die offene Hand ausstreckt, jedoch nur nachgereicht zum Handschlag.

Weiter geht’s. Bloß immer weiter weg vom Zuwanderungsthema: Digitalisierung, Forschung, Entwicklung, Telekommunikation, Mobilität, Industrielle Grundlage, Internet der Dinge – da müssten wir vorne mit dabei sein, „da reicht Platz fünf oder sechs nicht aus. (…) Es ist unsere Aufgabe der Industrie zu sagen: Ihr müsst verloren gegangenes Vertrauen selber wieder gut machen, dass ist nicht die Aufgabe der Politik.“, sagt Angela Merkel, die Bundeskanzlerin unsere Vertrauens. Unsere Weltfriedensgenerälin.

Angela Merkel hat die innenpolitischen Verwerfungen in wenigen Minuten umschifft, der deutschen Industrie noch den schwarzen Peter zugeschoben. Aber Hilfe angeboten, wenn die sich doch bloß mal endlich um die Batterieentwicklung und das autonome Fahren bemühen. Also bleibt ihr sogar noch Zeit, dem Geburtstagskind Jens Spahn zu gratulieren. Ein Glücksfall für die Zuhörer, dass sie nicht vor lauter Erleichterung noch ein gemeinsames „Happy Birthday“ anberaumt hat.

Dann aber doch noch der mutige kurze Blick zurück an die Heimatfront: Ja, es sei richtig, ein Fachkräftezuwanderungsgesetz zu machen. Die Fachkräfte die zu hunderttausenden gekommen sind, waren also nun doch keine. Und jetzt wenigstens in deren Ausbildung zu investieren, weil die nun mal da seien – keine Rede mehr davon.

Es folgt der Appell Merkels, bei der künstlichen Intelligenz nicht den Anschluss zu verlieren. Aber dafür bräuchten wir nun Mal jede Menge Daten. Wenn wir da so restriktiv wie möglich mit diesen Daten umgingen, dann wäre das genau so, als wolle man Kühe züchten und würde ihnen kein Futter geben. Aus Daten könne man neue Produkte erzielen.

„Es wird da immer regelmäßig unruhig, wenn ich über solche Sachen spreche, aber ich meine das ziemlich ernst.“, so eine Zwischenbemerkung von Merkel. Merkwürdig, dass sie hier vorgibt, jede Stimmungsnuance wahrzunehmen, wo sie es doch geschafft hat, über Jahre beide Ohren zuzuhalten, wenn brutale Wellen der Kritik gegen ihr Kanzleramt schwappten. Nun also das Stimmungsbarometer in Feinjustierung, wenn es um ein Murren beim geplanten großangelegten Datenmissbrauch und der Vollverglasung des Bürgers geht, weil dessen Daten ja so ein tolles Produkt seien. Eines, das man nicht facebook oder google als Handelsgut überlassen möchte?

„Ich habe solange über Digitalisierung gesprochen, weil ich glaube, dass davon das Wohlstandversprechen abhängt.“ Ehrlich? Nicht doch, weil ein anderes Thema zu unangenehm war? Fünf Bundesminister spielen in diesem Moment mit ihrem Smartphone, der Außenminister, die Verteidigungsministerin und andere. Wie viele Bürger des Landes allerdings in diesem Moment ihr Handy weggelegt und die Faust geballt haben, bleibt im Analogen verborgen.

Es wird ein Abendessen geben in Sofia, erfährt der Zuhörer noch. Na dann, guten Appetit Frau Bundeskanzlerin. Aber essen Sie langsam, damit ihnen nichts im Halse stecken bleibt. Anderen passiert das längst ohne Balkanbuffet.

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