Tichys Einblick
Diesmal fehlt der Fußball als Zuflucht

Fußball-WM: Wann wird’s wieder richtig Weltmeister?

Niemandem muss hier erzählt werden, dass in diesem Deutschland von 2014 nicht nur fußballerisch alles ganz anders war. Aber eines ist jetzt schon klarer als gestern: Dieser Fußball ist zweifellos für viele ein Rettungsanker gewesen.

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Ich erinnere mich aus gutem Grund an die WM 2014, Deutschland wurde Weltmeister und ich stand mit meinen besten Freunden auf einem Balkon eines Hotels über der Reeperbahn, wir feierte meinen 50. Geburtstag und den meines Zwillingsbruders – es fühlte sich alles so gut und richtig an, als die Sonne hinter dem Mojo-Club langsam unterging und wir die Bierflaschen öffneten. Ein Kumpel war sich damals sicher: „Alexander, davon wirst Du noch Deinen Enkeln erzählen.“

Nun dürfen Sie mir glauben, dass Fußball nicht immer mein erstes Steckenpferd war, aber als Braunschweiger ist man von Geburt an ein bisschen mehr verbunden. Fußball zählt hier für die Löwen noch was. Und wenn ich erklären müsste, wie das ist, wenn man nicht mehr 30 ist, sondern 50, dann vielleicht so: Man setzt zunehmend Prioritäten und wehrt sich etwas weniger energisch dagegen, an etwas Gefallen zu finden, dass auch der Masse gefällt. Fußball gehört dazu. Die Begeisterung einfach zulassen, sich nicht mehr dagegen wehren und die wunderbare Unterhaltung einer gewonnen WM selbstverständlich einfach mitnehmen und mit allen anderen gemeinsam feiern. Dabei müde über die lächeln, die daneben stehen und immer noch tapfer etwas von zweiundzwanzig Idioten erzählen, die einem Ball hinterherlaufen.

Niemandem muss hier erzählt werden, dass in diesem Deutschland von 2014 nicht nur fußballerisch alles ganz anders war. Aber eines ist jetzt schon klarer als gestern: Dieser Fußball ist zweifellos für viele ein Rettungsanker gewesen. Frei nach dem Motto: Wenn schon alles den Bach runter geht, dann feiern wir dieses großartige Weltfußballfest als Weltmeister, als Nation, zusammen gegen alle Widerstände.

Funktionärsversagen
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Noch einmal wehten die Fahnen im Stadion von Kasan. Für das Pelzmantel-Russlandbild der Deutschen war es viel zu heiß und die identischen Formate der geschwenkten Fahnen machten nur rückblickend den Eindruck wie zuvor von Funktionären verteilt. Zu allem Überfluss soll sich auch der Ex-Bundeskanzler Schröder mit seiner viel jüngeren südkoreanischen Frau im Stadion befunden haben. Schröder ist heute sogar einmal öfter verheiratet, als die Mannschaft Weltmeister wurde. Teilt er die vermutete Freude seiner Frau über den Sieg über den amtierenden Weltmeister? Die Feier sei beiden gegönnt, dennoch dürfen wir sie symptomatisch nennen für die Beziehung von Fußballsport und Politik. Sport und Politik haben sich nicht erst seit den russischen Dopingskandalen nicht gut vertragen. Die Olympiade 1936 soll hier als der Hinweis in die düstere Zeit Deutschlands gelten, der hier natürlich auch nicht fehlen darf.

Die Hunderunde nach dem Ausscheiden der Mannschaft am Stadtrand fühlt sich nicht gut an. Die hängenden Köpfe der nur Halbbetrunkenen, die vom Public Viewing kommen, vermeiden den Augenkontakt. Was soll man sich auch erzählen? Ein Auto hält an, ein wirklich alter Rentner und seine Frau wollen noch einmal nach dem Garten schauen, dann redet man eben doch. Nein, noch einmal vier Jahre werde er wohl nicht mehr schaffen, erzählt er fast nüchtern. Aber dafür wäre es ja 2014 noch einmal so schön gewesen wie 1974. Die Weltmeisterschaft dazwischen muss ihn emotional nicht so berührt haben oder er hat sie einfach vergessen oder beides.

Und natürlich, Mesut Özil hat nicht mitgesungen und auf dem Platz einfach mal das Spiel verweigert. Aber welchen Unterschied macht das, wenn die verbleibenden zehn Mann plus Auswechselspieler diese Lücke nicht füllten und im Gegenteil: Nur noch weitere rissen? Und an uns Zuschauer gerichtet: Wer vor dem Spiel dachte, besser verlieren, dann muss man sich diese Merkelei im Fußball nicht länger anschauen, der hat aufgegeben, bevor er vom Platz gestellt wurde. Viel wahrer ist doch, dass niemand damit gerechnet hat, dass es passieren konnte. Dass wir ausscheiden. Einfach, weil es noch nie zuvor passiert ist in der Vorrunde. Die Getränkestände, die Veranstalter der öffentlichen Plätze, die Trikot-Händler – sie alle haben sich eingedeckt mindestens bis zum Viertelfinale und sitzen nun auf ihren Beständen. Trikot und Bier, beides hält nicht bis 2022. Das Design von vorgestern, das Verfallsdatum unerbittlich.

Und wer 2014 fünfzig und Weltmeister geworden ist, der wird bei der nächsten Gelegenheit schon 58 Jahr alt. Für den uralten Gärtner und seine Frau keine Option. Da muss er wohl realistisch sein oder an ein Wunder glauben. Es sei ja nur Fußball? Natürlich. Aber dabei sollte man die Funktion dieses großartigen, dieses im Grunde genommen simplen Sports als Projektionsfläche nicht vergessen. Als Ventil und sicher für viele verunsicherte und unzufriedene Landsleute auch als Trost. In unserer schnelllebigen und ereignisreichen Zeit sicher nur eine Randnotiz. Für Fußballfans ein Schmerz, der vom Rand schmerzhaft ins Zentrum flankt und sich dort für den Moment festsetzt.

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Aber eben auch keine nur sportlich zu nehmende Niederlage, sondern viel eher Spiegelbild des Gesamtzustandes: Die Deutsche Nationalmannschaft siegte vier Mal in diesem Turnier durch eine Mannschaftsleistung und wurde Weltmeister nicht auf der Basis der Einzelleistung etwa eines Ronaldos. Diese Typen haben wir nie gebraucht. So war dann auch der verwandelte Strafstoß von Toni Kroos gegen Schweden nur eine Zugabe. Eine unerwartete. Die leider nötig wurde, als die Mannschaftsleistung auf der Strecke blieb. Für den Kommentator im Spiel gegen Korea und auch in der anschließenden Gesprächsrunde wurde immer wieder der Auftritt Gündogans und Özils bei Erdogan als ein Beleg und ein kleiner Erklärungsversuch des Versagens genannt. Aber das wäre an dieser Stelle zu billig. Hier krankt es viel elementarer.

Und jene Politiker, die sich jetzt die Hände reiben, dass ein weiterer Moment der nationalen Freude wie 2014 dieses Mal an ihnen vorbeigezogen ist, mögen ja die Hoffnung in sich tragen, dass diese miserable Leistung der Mannschaft dem Pöbel nun den letzten national gefärbten Zahn gezogen hat, aber sie sollten nicht darauf wetten.

Katrin Göring-Eckardt twitterte kurz vor dem Spiel: „Höre aus meinem Büro von 2 jungen Frauen mit Kopftuch, die vorm Eingang zur Fanmeile standen. Eine trägt die Deutschlandflagge als Cape, die andere als Stirnband & Turnbeutel. Stelle mir die Gesichter bei der AfD vor, wenn die ebenfalls aus dem Fenster geschaut haben.“ Wir dürfen uns an dieser Stelle freuen, dass es sich nicht um die Schwimmweltmeisterschaften gehandelt hat, denn dann hätte Göring-Eckardt womöglich irgendwo noch Burkinis der Schwimmerinnen in den Deutschlandfarben entdeckt. So ist dann eine wie Göring–Eckardt viel symptomatischer als unsere beiden Fußballhelden bei Erdogan.

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