Tichys Einblick

Dieter ist abgehauen: Über Menschen mit Einschränkungen in Corona-Zeiten

Menschen mit Einschränkungen haben es derzeit schwerer als ohnehin: Sie werden in ihren betreuten Wohngruppen völlig isoliert. Dieter hat das nicht ausgehalten.

Dieter war verschwitzt. Er trank Wasser aus dem Hahn wie ein Verdurstender. Aber er sah auch sehr glücklich aus. Seine Freude steckte direkt an. Dieter hat bestimmte Einschränkungen. Und er hat sie von Geburt an.

Dieter kann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Er spricht von sich in der dritten Person und mit hoher Stimme: „Dieter hatte Schnauze voll.“ Dann lächelt er uns an. Und wir lächeln zurück, denn Dieter ist ein guter Freund seit Jahrzehnten. Gerade ist er aus einer betreuten Wohngruppe aus der Großstadt bald einhundert Kilometer entfernt zu uns in den Harz geflüchtet. Wir freuen uns über seinen unbegleiteten Besuch, wollen aber Genaueres wissen, warum, weshalb und wie er das überhaupt so alleine geschafft hat.

In Zeiten von Corona hört man viel über Hochrisikogruppen, man hört von Alten, die ihre Enkel nicht sehen können und von Altenheimen und Krankenhäusern, die Besucher nicht mehr zulassen. Von Menschen mit Einschränkungen in Zeiten der Corona-Einschränkungen hört man wenig. Doch für viele dieser Menschen ist die Situation extrem belastend.

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Dazu muss man wissen, dass nicht jeder Mensch mit Einschränkungen zur Corona-Risikogruppe gehört und sich etwa vor anderen schützen muss. Oft ist das Gegenteil der Fall: Die Gesellschaft soll vor Menschen mit Einschänkungen geschützt werden. Ist das ein Rückfall in die Barbarei? In Zeiten, als man nichts dabei fand, körperlich Eingeschränkte als „Krüppel“ und geistig Eingeschränkte als „Idioten“ zu bezeichnen?

Verkäuferinnen an der Supermarktkasse wurden von der Bundeskanzlerin zu Recht als Helden bezeichnet. Denn ganz gleich, was dran ist an der Corona-Hysterie, sie müssen stoisch bleiben und weiter ihren Job machen. Sie sind wirklich, was andere gerne wären: systemrelevant. Diese Frauen müssen also für andere ins persönliche Risiko gehen.

Nein, die enorme Belastung für Betreuer von Menschen mit Einschränkungen beispielsweise in Wohngruppen wird nicht im selben Maße an die große Glocke gehängt. Aber man sollte auch der Bundeskanzlerin empfehlen, eine solche Wohngruppe für Eingeschränkte in ihrer Nähe einmal aufzusuchen. Möglicherweise bekommt sie eine Sonderbesuchsgenehmigung.

Institutionen wie die Diakonie oder die Lebenshilfe bekamen und bekommen noch im Zuge der Corona-Einschränkungen Anweisungen aus den Sozialministerien ihrer Landesregierungen. Daraufhin wurden Wohngruppen, unabhängig davon, ob die darin wohnenden Menschen alle zur Risikogruppe gehörten, isoliert. Keine Besuche, keine Gänge mehr in die Stadt, Mundschutz in den Gemeinschaftsbereichen, organisierter Hofgang. Alles andere war tabu über viele Wochen lang und ist es noch. Erleichterungen kommen hier mit Verzögerung an oder gar nicht.

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Die schalltote Kammer
Dieter hat einen Lagerkoller bekommen. Und seine Betreuerin hat am Telefon auch vollstes Verständnis dafür. Vor Corona war Dieter in den Werkstätten der Lebenshilfe beschäftigt, verdiente sich ein schönes Taschengeld und fuhr ansonsten den Rest des Tages und an den Wochenenden mit seinem Fahrrad in der Stadt umher. Viele kennen ihn mittlerweile, Dieter ist der immer lächelnde bunte Hund, den jeder mögen muss. Er liebt einfach Menschen und freut sich immer über ein Zurücklächeln der anderen – komplizierte verbale Kommunikation ist eher schwierig, es dauert eben einfach immer etwas länger als gewohnt, aber es geht am Ende auch, wenn man sich die Zeit nimmt.

Wer Dieter länger kennt, könnte auch auf die Idee kommen, dass seine Einschränkungen eher auf der kommunikativen Ebene nach draußen bestehen, tief in seinem Innern scheinen die selben komplizierten Abwägungsprozesse abzulaufen, wie bei anderen auch, sie finden aber den Weg nach draußen nicht in derselben Geschwindigkeit.

Dieter ist jetzt 57 Jahre alt. Er ist ein jahrzehntelanger Freund der Familie. Über eine Hilfstätigkeit in einem Betrieb fanden wir zusammen – bis hin zu gemeinsamen Urlauben und Ausflugsfahrten. Als die Kinder noch kleiner waren, war Dieter der lustige Onkel, der nie müde wurde bei den für Erwachsene ansonsten schnell langweiligen Spielen.

Also wie ist er nun in den Harz gekommen? Mit seinem Ausweis darf er überall frei mit Bussen und Bahnen fahren. Als Dieter ziemlich dehydriert vor dem Haus stand, war er schon viele Stunden unterwegs, obwohl man für diese Strecke sonst nur eine Stunde braucht. Er hatte sich zweimal verfahren, war bis zu den Endhaltestellen gelangt, auch deshalb, weil er ungern konkrete Fragen stellt, er weiß um die Ungeduld der anderen, dann lächelt er lieber nur und versucht Probleme halt selber zu lösen.

Stolz hatte er nach seiner Ankunft einen Haufen Papiere auf den Tisch gelegt: farbige Ausdrucke aus google-earth. Irgendwie war es im gelungen, sich die gesamte Strecke in einzelnen Satelliten-Draufsichten zu kopieren.

Er hatte sich also eine Karte selber gebaut. Und dann hat er sich morgens aus dem Betreuten Wohnen geschlichen, hatte der ihn dabei zufällig beobachtenden Betreuerin zuvor noch den Schlüssel vor die Füße geworfen und „Dieter hat Schnauze voll“ gesagt. Dann lief er. Dieter ist auch ein guter Läufer, da kommt man nicht so leicht hinterher.

Acht Wochen isoliert mit einem halben dutzend weiterer Menschen mit Einschränkungen und zwei Goldhamstern. Der Schulhof nebenan diente in diesen Wochen als Freiluftfläche zum Spazieren. Aber nur, wenn Dieters Gruppe an der Reihe war, denn auch hier gingen nicht alle gleichzeitig – zu riskant, sagten die Betreuer, die sich auf Anweisungen der Landesregierung berufen. Und hier geht es wohl im Wesentlichen darum, dass Mundschutz und Händewaschen bei Dieter und seinen Mitbewohnern nicht im selben Maße garantiert werden können, wie bei Menschen ohne Einschränkungen. Also sperrt man sie weg – unabhängig davon, ob sie nun selbst zu einer Risikogruppe gehören oder nicht.

Im Gespräch mit einer der betreuenden Institutionen wird schnell klar, welche Aufgabe das auch für die engagierten Mitarbeiter dieser Einrichtungen bedeutet. Wer bisher schon mit Aufgaben ausreichend eingedeckt war, der lernte unter Corona schnell, wie sich so eine Situation noch auf die Spitze treiben lässt. Denn wer nicht zur Arbeit gehen kann, wer nicht einmal vor die Tür darf, der muss ganztags beschäftigt werden. Jedenfalls sollten im Idealfall solche Angebote zusätzlich geschaffen werden.

Dieter erzählt von Mensch-ärger-dich-nicht und Kniffel den ganzen Tag. Seine Lieblingsspiele. Aber nach der x-ten Runde hatte er auch dazu keine Lust mehr, sein kleiner Fernseher lief viele Stunden am Tag. „Dieter hat im Zimmer aus dem Fenster auf den Hof geschaut.“ Nein, langatmig bewerten würde Dieter das alles nicht. Er stellt einfach fest was ist und reagiert irgendwann: „Schnauze voll“.

Die Betreuer tragen Mundschutz. Unser Gesprächspartner aus einer der Institutionen erzählt davon, was das bisweilen mit sich bringt, wenn beispielsweise Autisten plötzlich Mundschutz tragen sollen oder immer nur noch in Gesichter schauen, die vermummt sind.

Masken und Wirklichkeit
Corona – Bangemachen gilt nicht
Nein, Menschen mit Einschränkungen gehören nicht alle zur Corona-Risikogruppe, aber jetzt schützt sich die Gesellschaft auf staatliche Anordnung vor ihnen, weil beispielsweise die Gefahr besteht, dass sie aus Versehen zu nahe herankommen, dass sie die neuen Regeln nicht einhalten können, die auch Menschen ohne Einschränkungen schon so schwer fallen.

Viele Wochen Isolation. Die Betreuer kämpfen fieberhaft darum, ihren Schützlingen mit einfacher Sprache und Zeichnungen die neuen Regeln der anderen zu erklären. Manchmal funktioniert es. Aber eben nicht bei allen.

Dieter ist jetzt wieder zu Hause. Und weil er abgehauen ist, muss er jetzt 14 Tage in verschärfte Isolation, weil jetzt auch noch seine Mitbewohner vor ihm geschützt werden sollen, so will es die Regierung. Dieter wollte irgendwann wieder heim. Seine Wohngruppe ist sein Zuhause, seine Betreuerin seine Ansprechpartnerin. Auch die hat ihm gefehlt. Er muss also verstanden haben, das die Betreuung auch nur erfüllen muss, was andere von Menschen mit Einschränkungen in dieser Zeit verlangen. Dieter kann Menschen nicht böse sein. Er mag die Menschen da draußen. Und das, obwohl er bei Leibe nicht nur gute Erfahrungen mit ihnen gemacht hat.

Ein traurige Geschichte in einer Zeit, in der die anderen noch mehr mit sich selbst zu tun haben. Aber speziell für Freunde von Dieter auch eine Geschichte voller Freude und Hoffnung: Dieter ist abgehauen, er hat sich ein Herz gefasst, allen Mut zusammengenommen und dann hat er sich einfach auf den Weg gemacht.

In den Tagen seiner „Flucht“ hat er im Harz lange Radtouren und Wanderungen gemacht und sich gründlich umgeschaut und wieder neue Menschen kennengelernt. Für Dieter ist diese Welt nicht nur die Welt der anderen, es ist auch seine Welt. Und er liebt sie und die Menschen darin. Deshalb mag er nicht gerne eingesperrt sein. Er hatte viele Wochen Geduld, dann aber nicht mehr. Dieter ist mein Held in diesen Tagen.

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