Was für ein „Vorweihnachtsgeschenk“ vom Spiegel, der mit den Geständnissen des Reportes Claas Relotius so überaus unterhaltsam das Jahr ausklingen lassen wird. Bis zu 55 Artikel soll der 34-Jährige für den Spiegel geschrieben/manipuliert haben; sein Wikipedia-Eintrag ist damit über Nacht doppelt so lang geworden.
Nun weiß allerdings jeder, der sich einmal mit dem Journalismus beispielsweise in den USA beschäftigt hat, dass US-Reporter gerne mal ein halbes oder ganzes Jahr an einer Geschichte sitzen dürfen, dass ihnen Rechercheure zur Seite gestellt werden, dass Interviews sogar grundsätzlich von der Redaktion transkribiert werden, während in Deutschland keine einzige Redaktion mehr bereit ist, eine ordentliche Reportage zu bezahlen. Deutschland ist im internationalen Vergleich tiefstes Karl-May-Land. Der hat bekanntlich schwungvoll vieler Herren Länder beschrieben ohne jemals dort gewesen zu sein.
Für besagten Claas Relotius vom Spiegel wäre so eine Endung unter seiner Würde wie weit unter seinen Möglichkeiten gewesen. Zweifellos auch wäre der vielfach mit Journalistenpreisen ausgezeichnete Reporter im fiktionalen Schreiben ein viel besungener Bestseller-Autor geworden. Wer würde behaupten, dass so eine Köpenickade, wie er sie dutzendfach beim Spiegel und wohl auch anderswo hingelegt hat, leicht wäre? Wir sind zwar beim Spiegel, aber ohne großes Talent geht es auch da nicht, wenn also so hohe Anforderungen an die Fantasie der Reporter gestellt werden. Und die Frage aller Fragen hat auch noch keiner gestellt: Ist wenigstens dieser exotische Name des Autors „Claas Relotius“ echt?
Nun kann man sich der Geschichte auf vielen Ebenen annähern, wir könnten darüber schreiben, wie sehr der tägliche Spiegeltext zur täglichen Suche nach der Wahrheit geworden ist – also nicht beim Redakteur, sondern beim Leser. Wir könnten uns fragen, wie es gelingen kann, diesen medialen Klüngel zu zerschlagen, der oft sogar noch jenen in der Politik, in den Schatten stellt und der gemeinsam den Mehltau über Deutschland kristallisiert hat.
„Anmerkung der SZ-Magazin-Redaktion: Claas Relotius hat zugegeben, in seinen „Spiegel“-Artikeln im großen Umfang Fälschungen veröffentlicht zu haben. Wir prüfen gerade, ob das auch für dieses Interview zutrifft.“
Wenn man allerdings heute unter dem Eindruck des Geständnisses ältere Interviews von Relotius liest, dann muss man sich schon fragen, wie so etwas durch die interne Dokumentation kommen konnte, wie das überhaupt von irgendjemandem geglaubt werden konnte, ohne augenblicklich eine peinliche Befragung und eine eingehende Überprüfung nach sich zu ziehen, wenn Relotius über einen New Yorker Schneider erzählt, der immer dann an den Orten dieser Welt zu gegen ist, wenn Außergewöhnliches passiert.
Ein Herrenschneider-Forrest-Gump, nacherzählt vom deutschen Reporter; ein Herrenschneider, der den letzten Anzug von Michael Jackson geschneidert hat, ebenso wie er für George W. Bush gerade einen Anzug vermessen sollte, während die Türme in New York einstürzten:
„Der Präsident sollte am Nachmittag aus Florida zurückkehren, und ich sollte noch am Abend neue Anzüge für ihn ausmessen. Dann kam der Lauf der Geschichte dazwischen. Ich habe im Fernsehen gesehen, wie der zweite Twin Tower einstürzte. Genau eine Stunde später rief mich eine Dame aus Bushs Büro an und sagte, man werde unseren Termin verschieben müssen.“
Heute liest sich so etwas, als wollte Relotius erwischt werden, als könne er einfach nicht mehr aufhören zu flunkern und bete inständig von morgens bis abends, man solle es ihm bitte nicht mehr so leicht machen.
Der langjährige Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Claudius Seidl, hatte schon 2010 ein beachtliches Essay rund um dieses Münchhausen-Syndrom geschrieben, dass lohnt, heute noch einmal nachgelesen zu werden, wenn er schon damals seinen Text mit den beiden Sätzen eröffnete:
„Die Reportage wird gerne für eine Form der Literatur gehalten. Oft ist sie aber nicht einmal seriöser Journalismus.“
„Nein, das Gelingen ist gewissermaßen auch ein ethisches Problem – es fordert eine fast schon asketische moralische Strenge gegenüber all den Versuchungen, mit den Mitteln der Sprache zu blenden, zu bluffen, zu tricksen. Gegen die Versuchungen des Bescheidwissens, des Allesdurchschauens, des Alleserklärenkönnens.“
Die journalistische Zunft übertrifft sich aktuell in Twitter-Kommentaren zum Fall. Und am lautesten ist die Aufregung über den Umgang des Spiegels mit der Affäre, wenn Ullrich Fichtner für die Zeitung angeblich im vermeintlich identischen Sound des Angeklagten schreibt.
Nun hat Relotius zwischenzeitlich alle Preise zurückgegeben, darunter vier Mal den Deutschen Reporterpreis, den eine Zigarettenfirma vergibt. Blauer Dunst also, der einer höchstrangigen Jury von Journalisten den Blick vernebelt hat. Auch ein schönes Stück, das weit über den Spiegel hinausreicht: „…und keiner hat etwas gemerkt“. Und es dauerte auch nicht lange, da präsentierte der Spiegel jenen Reporter aus den eigenen Reihen, der Relotius zu Fall brachte, als er eine zu gedrechselte Wendung des Kollegen nicht mehr glauben wollte. Aus einem Berufsethos heraus? Gar aus Missgunst ob der vielen Preise oder aus Mangel an Fantasie? Der Spiegel schreibt jedenfalls:
„20.12.2018, 12:40 Uhr – Der Fall Relotius ist ans Licht gekommen, weil sein Kollege Juan Moreno bei der Recherche für die gemeinsame Geschichte „Jaegers Grenze“ misstrauisch wurde. Im Video erzählt Moreno von seinem Verdacht – und dem, was darauf folgte.“
Wirklich, Unternehmensberater und Stressmanagement-Experten könnten kaum bessere Empfehlungen im Umgang mit der Affäre abgeben. Der Binger Unternehmensberater Hasso Mansfeld sagt uns zum Umgang des Spiegels mit dem Fall:
„Die gehen sehr gut damit um, sehr offen, offensiv und transparent. Die Kritik am Spiegel sind da eher Haltungsnoten. Was man allerdings bemängeln muss ist der Versuch, das als Einzelfall darzustellen. Der Kollege schreibt ja so, wie es von den Redaktionen explizit nachgefragt wird. Das ist mehr, als ein Einzelfall, das ist Teil des Problems.“