Stanislaw Tillich bin ich einmal auf der Prager Straße in Dresden begegnet. Ungefähr auf Höhe der Pusteblume, ein symbolträchtiger Brunnen auf einer der Vorzeigestraßen der damaligen DDR. Tillich führte mit einem Teelicht in der Hand am Gedenktag der Bombardierung Dresdens eine stille Demonstration von zehntausend Menschen an. Tillich war der äußerste Fransen eines Kerzenteppichs, den man vor zeitgleich demonstrierenden Neonazis ausbreitete.
Mich beeindruckte die Volksnähe des Ministerpräsidenten von Sachsen. Sicher waren Personenschützer dabei, aber man sah sie kaum. Niemand drängte um Autogramme oder wollte etwa ein Selfie machen. Damals dachte ich wirklich: Der schlanke Politiker wird als „Einer von uns“ verstanden. Sicher ein grobes Klischee, aber selbst die Physiognomie erschien mir passend: Eine Mischung aus Bescheidenheit, gepaart mit einer wohldosierten Portion Trotz. Die sichtbar gemachte Erinnerung, wo man herkommt (DDR) gezeigt in einem Deutschland (BRD), in dem man angekommen ist. Sympathisch.
Der Focus titelte schon 2009 über Tillich: „Beliebt, aber unbekannt“. Tillichs Wahlkampfslogan hieß damals: „Der Sachse“. Allerdings gaben damals auch ein Viertel der Sachsen an, ihn nicht zu kennen. In den öffentlich-rechtlichen Medien, dem früheren „Westfernsehen“, ist er bis heute unterrepräsentiert. Wer erinnert eine Talkshow mit Tillich als Gast? Sein katholischer Nachbar Seehofer aus Bayern hingegen erscheint dort überpräsent. Tillichs Wahlkampf führte ihn von der Kelterei in Ottendorf-Okrilla bis zum Backhaus Hennig in Zwenkau. Hier hat er sein größtes Wählerpotential: Bei den fleißigen Leuten.
AFD 27 Prozent, CDU 26,9
2017 nun der Schock: Aus der Bundestagswahl geht die AfD in Sachsen hauchdünn zwar (27 %), aber als stärkste Kraft hervor. Die CDU landet bei gerade noch 26,9 Prozent. Die SPD wählen 10,5 Prozent der Berechtigten. Ein sozialdemokratisches Desaster. Stanislaw Tillichs Antwort darauf ähnelt der seines bayrischen Kollegen: Er fordert eine Kurskorrektur nach rechts. Die Funke Medien Redaktion schickte Jochen Gaukle zu Tillich. Das Interview erschien heute in einigen zur Mediengruppe gehörenden Zeitungen. Und, soviel vorweg, es ist ein erstaunliches offenes Gespräch geworden.
Die AfD sei kein rein sächsisches Phänomen, sagt Tillich. „Demoskopen haben herausgefunden, dass 60-70 Prozent die AfD aus Protest gewählt haben. (…) Sie sind enttäuscht.“ Das mag richtig sein, aber dieses Protestwählerphänomen ist eine Chimäre. Gerne genutzt von Regierungsparteien, Wähler des politischen Gegners von rechts oder links zu diskreditieren. Denn natürlich wird eine Regierung, werden regierende Politiker aus Protest abgewählt. Aus welchen Gründen auch sonst? Der Wettbewerb der Parteiprogramme richtet sich von Seiten der Oppositionsparteien naturgemäß gegen die Regierenden. Man scheint das nur in der Ära der „großen“ Koalitionen völlig vergessen zu haben. Hier wir als Demokraten, dort ihr als Protestler – das funktioniert nicht mehr.
Tillich nennt jetzt immerhin Ross und Reiter: Das Wahlverhalten der Mehrheit seiner Sachsen richtete sich gegen die Immigrationspolitik der Kanzlerin. „Dazu kam ein Gefühl, für die Neuangekommenen sei plötzlich viel Geld da.“ Nun könnte man denken, wenn man durch Dresden geht, der Osten hätte in den letzten 27 Jahren ordentlich vom Westen profitiert. Wenn irgendwo blühende Landschaften entstanden sind, dann doch wohl hier im historischen Quartier zwischen wiedererbauter Frauenkirche und etwas weiter draußen der Gläsernen Manufaktur von Volkswagen in der Nähe des Stadions von Dynamo Dresden. Jahrzehnte reihte sich Baustelle an Baustelle und die Sandstein-Bauten wurden alle fertig, die lichtdurchfluteten Plätze laden die Bürger zum Flanieren ein. Dresden ist schön. Aber Dresden ist eine sächsische Enklave mit aufgeprunktem Kern, Dresden ist nicht Sachsen.
Wer eine Fahrt mit einem der Raddampfer auf der Elbe unternimmt, schaut von der weißen Flotte hinüber ans Ufer auf eine der schönsten Landschaften in Deutschland überhaupt. Geduldige Angler, spielende Kinder, kleine Siedlungen, bescheidene Häuschen mit Grill und Kaffeetafel, Wäsche im Wind. Malerisch, romantisch, zeitlos. Aber eben nicht weltvergessen. Hier wohnen Bürger in Orten wie Strehla, Riesa und Bad Schandau. Oder anders ausgedrückt: Ausgerechnet hier im Idyll bekam die AfD überdurchschnittlich hohe Stimmenanteile.
Die Leute wählen Protest nicht, wenn es passiert ist, sondern damit es nicht passiert
Wenn die Kanzlerin sagt, sie könne keine Fehler ihrer Politik erkennen, antwortet ihr der Sachse: „Die Menschen wünschen sich einen starken Staat. Und sie haben den Eindruck, dass der Staat nicht in der Lage ist, das Asylrecht konsequent genug umzusetzen. Bei den Abschiebungen gibt es erhebliche Defizite.“
Tillich positioniert sich jetzt im Interview an der Seite von Horst Seehofer: „Wir müssen umschalten, da hat Seehofer recht. Ich unterstütze seine Forderung nach einem Kurs „Mitte-rechts.“ Aber wer ist dieses ominöse „Wir“? Die Union mit der Kanzlerin an ihrer Spitze kann es ja nicht mehr sein. Sie ist ja nicht Problemlöserin, sondern Verursacherin. Aber gibt es ein anderes, ein neues „Wir“ in der Union ohne die Kanzlerin?
Und wer kann heute noch dem Wollen des wankelmütigen bayrischen Ministerpräsidenten vertrauen? Der Sachse Stanislaw Tillich will das tun. Er ist sich sicher, dass sich die CSU zusammenraufen wird, die wisse um ihre Verantwortung in Bayern und Deutschland. Dass allerdings kann nur zukunftsperspektivisch gemeint sein, denn immerhin hat die CSU nicht nur in Bayern, sondern im Kabinett Merkel auf Bundesebene mitregiert.
Tillich: „Die Leute wollen, dass Deutschland Deutschland bleibt.“ Aber will die Union das auch? Will sie es wirklich? Eine Koalitionspartnerin auf Bundesebene neben der FDP soll nun Grün werden. Die Spitzenkandidatin der Grünen ist Katrin Göring Eckardt. Und die sagt: „Dieses Land wird sich verändern. Und es wird sich ziemlich drastisch verändern. Und es wird ein schwerer Weg sein, aber dann glaube ich, können wir wirklich ein besseres Land sein.“ Wenn es also Tillich und Seehofer wirklich ernst meinen, dann muss für beide die Idee einer Jamaika-Koalition gestorben sein, schon damit für Tillichs Sachsen und für Seehofers Bayern ihr Deutschland Deutschland bleibt.