Die These ist so steil wie widersprüchlich, wenn eine renommierte Zeitung gemeinsam mit der Technikerkasse behauptet:
„Die Beiträge von Migranten haben die Gesetzliche Krankenversicherung seit 2012 um acht Milliarden entlastet. Ohne Zuwanderung wäre die Beitragsbelastung höher.“
Weitere Medien übernehmen die Nachricht und so wird dem Bürger also mitgeteilt, dass Zuwanderung sogar hilft, die Kosten der Krankenkassen für Einheimische zu mindern.
Begriffsverwirrung führt zum gewünschten Ergebnis
Toll? Leider nicht, denn hier eskaliert zunächst einmal die wissentlich von Politik und Medien über Jahre hinweg beförderte Verwischung der Begrifflichkeiten: Flüchtlinge, Migranten, Zuwanderer – die Presse kann sich nicht entscheiden: Anfangs waren alles Flüchtlinge, wo wirtschaftliche Gründe an erster Stelle stehen, um dann in den Jahren nach der ersten Massenzuwanderungswelle immer öfter auch von Zuwanderung und Migration zu sprechen, von illegaler gar, weil Flucht doch für viele Fälle nicht zutreffend war und Asylgründe niemals vorlagen.
Was freilich bis heute politische Institutionen und Personen nicht daran hindert, den Begriff Flüchtlinge wohl absichtsvoll falsch zu adressieren wie zuletzt das staatseigene Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in einer sechzehnseitigen Studie, welche die abseitige These stützen sollte, dass bereits 50 Prozent der Zugewanderten nach fünf Jahren in Arbeit stehen würden – TE hat berichtet.
Wenn aber die Begrifflichkeiten so verdreht werden, dann hat das Folgen. So ist der Begriff „Zuwanderung“ heute untrennbar zunächst einmal mit jenen Migranten verbunden, die ab 2015 in kurzer Zeit zu Hunderttausenden meist illegal zu uns kamen und noch kommen. Unabhängig davon, ob diese nun großteils falsch als Flüchtlinge bezeichnet werden. Interessant in dem Zusammenhang auch, dass, was der Bürger zunächst unter Einwanderungsgesetz (ab März 2020 für legale Arbeitsmigration) abgespeichert hat, offiziell „Zuwanderungsgesetz“ heißt.
Der Tagesspiegel sendet also am 11.2.2020 eine Überschrift in die Welt, die auch eine politische ist und die so geht: „Zuwanderer zahlen deutlich mehr ein, als sie in Anspruch nehmen“. Weiter heißt es da: „Die Beiträge von Migranten haben die Gesetzliche Krankenversicherung seit 2012 um acht Milliarden entlastet. Ohne Zuwanderung wäre die Beitragsbelastung höher.“
(Sie ahnen bereits, wo es hingeht, wenn Migranten nicht gleich Flüchtlinge, wenn aber niemand so recht sagen mag, wer alles kein Flüchtling ist.)
Manipulativ gewählte Versicherung
Dafür hatte der Tagesspiegel nicht etwa Daten der AOK ausgewertet, sondern die Techniker Krankenkasse bemüht. Die wären richtig fleißig gewesen und hätten herausgefunden, dass Migrationskritiker Unrecht haben (hier der wichtige politische Teil der These), wenn diese behaupten würden, dass Zuwanderer zusätzliche Krankenkosten verursachten, die der Steuerzahler bezahlen müsste, weil diese Gruppe überdurchschnittlich oft Sozialhilfe bekommen würde.
Eine Mitarbeiterin einer Arbeitsagentur, die wir ebenfalls dazu befragen, schreibt uns dazu: „Ich habe allergrößte Zweifel an den Zahlen, diese mögen für die Technikerkasse zwar passen, die Massen sind jedoch bei den AOKs versichert und da sieht die Bilanz anders aus.“ Damit offenbart sich eine zweite Schwäche des Jubel-Beitrags: „Flüchtlinge“ landen bei der AOK – verdienende Arbeitsmigranten bei der Technikerkasse. Das ist der sozialpolitische Verschiebebahnhof, auf dem generell „schlechte“ Risiken bei der AOK als Pflichtversicherung abgeladen werden, insbesondere gutverdienende freiwillig Versicherte sich aber die Kasse aussuchen und häufig dann bei der Techniker Beiträge leisten.
Was ergeben also nun die Zahlen der Technikerkasse zu der Frage, ob Zuwanderung die Beitragsbelastung erhöht? Der Tagesspiegel erzählt stolz und ohne Hinweis auf die Hintergründe, was ist, weil es gar nicht anders sein kann angesichts der Konstruktion unserer Krankenversicherungen: „Nun belegen neue Daten, die die Techniker Krankenkasse (TK) für Tagesspiegel Background ermittelt hat, dass dies zumindest für die Zuwanderungswelle der vergangenen sieben Jahre nicht zutrifft.“ Man hat also den Richtigen befragt, um zur politisch korrekten Antwort zu kommen – eine wunderbare Methode, die nur nichts mit kritischem Journalismus zu tun hat.
Und das zeigt sich auch an einer weiteren semantischen Spielerei: Hier wird also explizit der Begriff „Zuwanderungswelle“ verwendet, der also auf die Ereignisse der mehrheitlich illegalen Massenzuwanderung ab 2015 hinweisen will. Ein Anruf bei der Pressestelle der Technikerkasse und der Frage nach These, dass das Gros der Leser dieses Artikels also definitiv an die Personen der Massenzuwanderung ab 2015 denken würde, wird mit gespitztem Mund u.a. damit beantwortet, dass das eben der Beweis dafür wäre, dass es nicht ausreicht, nur die Überschriften zu lesen. Tatsächlich steht die wichtigste Information für den Leser erst im Schlussabsatz des Artikels, als würde man darauf spekulieren, dass nicht jeder bis zu Ende liest:
„Keine Daten gibt es für die Flüchtlinge. Das Vorurteil, dass sie verantwortlich seien für die zuletzt wieder steigenden Zusatzbeiträge, trifft nicht zu. Solange sie im Asylverfahren sind, belasten sie die Etats der Krankenkassen nämlich gar nicht. Vielmehr erstatten die Sozialämter die Leistungsausgaben zu 100 Prozent. Sobald sie eine Arbeitserlaubnis haben, zahlt der Bund für sie, sofern sie keinen Job finden, Arbeitslosengeld II und davon einen Kassenbeitrag von knapp 100 Euro im Monat. Dieser Beitrag wird von den Krankenkassen als nicht kostendeckend kritisiert.“
Eine unmissverständlicher Titel und Zusammenfassung hätte also in etwa so lauten müssen:
„Gilt auch für Migranten: Nur wer Arbeit hat, zahlt auch Beiträge“.
„Die Techniker Krankenkasse profitiert von der Zuwanderung, weil sie nur beschäftigte und überdurchschnittlich verdienende Zuwanderer versichert.“
Aber was für eine banale Geschichte wäre das gewesen? Nein, so eine Meldung ginge nicht viral, andere Medien hätten sich kaum dafür interessiert. Auf die Frage, wie es denn die Kasse vor ihren Mitgliedern rechtfertigen will, Mitarbeiter für solche zeitaufwendigen Erhebungen für den Tagesspiegel abzustellen, erfahren wir von der Pressesprecherin der Kasse, dass es sich hier selbstverständlich nur um die übliche Beantwortung einer Anfrage gehandelt hätte.
Also zusammengefasst: Tagesspiegel erzählt, dass die Beitragsbelastung ohne Zuwanderer der letzten sieben Jahre höher wäre – nimmt aber die siebenstellige Zahl jener mehrheitlich illegal eingereisten Zuwanderer/Migranten/Einwanderer aus, die so lange fälschlicherweise „Flüchtlinge“ genannt wurden und weitgehend keine Beiträge einbezahlen.
Für die Tagesspiegel-Aussage entscheidend sind also vornehmlich eher Personen aus der EU, also innereuropäische Arbeitsmigranten, die teilweise durchaus in die Sozialkassen einzahlen.
Rangieren auf dem sozialpolitischen Verschiebebahnhof
Nimmt man allerdings beispielsweise eine Zuwandererfamilie aus Afghanistan, zwei Erwachsene ohne Tätigkeit und sechs Kinder (alle unter 15 Jahren), dann passen die Zahlen hinten und vorne nicht. Denn in diesem Falle werden lediglich insgesamt 192 Euro KV, 15 Euro Zusatzbeitrag sowie 44 Euro PV gezahlt, wobei alle Kinder selbstverständlich mitversichert sind. Der Schlusssatz des Artikels sagt es ja: „Dieser Beitrag wird von den Krankenkassen als nicht kostendeckend kritisiert.“ Man kann es auch so lesen: Der Steuerzahler (also wir) zahlt nicht genügend hohe Beiträge für die zu versichernden Flüchtlinge an die AOKs, die daher auf die Beiträge der Versicherten (das sind auch wir) zurückgreifen: Schließlich kommt das Geld für die Krankenversorgung der Flüchtlinge nicht von den Flüchtlingen, sondern von den unterschiedlichen Kollektiven „Steuerzahler“ und „Beitragszahler“ – die im Ergebnis allerdings weitgehend deckungsgleich sind. Denn von irgendwem kommen die Gelder – nur meist nicht von den „Flüchtlingen“.
Wir fragen die Technikerkasse dazu konkret an und erhalten folgende Antwort: Wir können die Aussage treffen, „dass die festgelegten Kassenbeiträge für ALG II-Bezieher allgemein als nicht ausreichend zu bezeichnen sind. Für einzelne Untergruppen können wir keine Aussage treffen.“
Na klar können sie das nicht. Dafür müssten sie erst das machen wie für den Tagesspiegel: Zeit aufwenden und im Hause recherchieren und nach Herkunft und dann nach Aufenthaltsstautus unterscheiden. Warum fehlt also bei dieser so wichtigen Frage plötzlich die Motivation? Und um wieder zu der eingangs erwähnten Sprachverwirrung zurückzukommen, sei hier eine Überschrift der Deutschen Apotheker-Zeitung aus Anfang 2018 genannt, als es da hieß: „Flüchtlinge entlasten Krankenkassen“. Und weiter in dann großer Verquirlung und Verwirrung der Faktenlagen: „Die Zuwanderung von EU-Bürgern und Flüchtlingen wirkt sich nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes positiv auf die finanzielle Stabilität (aus) …“
Da lohnt wiederum die Rückerinnerung an einen Artikel in der Welt aus Februar 2016, als die damals aktuellen Zuwanderungszahlen hochgerechnet wurden und zu einem dramatischen Ergebnis führten: „Kassen entstehen durch Flüchtlinge ein Milliardendefizit.“
Und so kompliziert ist es eigentlich auch nicht, wenn man keiner These folgen und nicht auf Biegen und Brechen zu einem positiven Ergebnis kommen muss/will. Unkompliziert berichtet es die Krankenkassenzentrale, die immerhin gleich mal mit der wichtigsten Anmerkung in eine Zusammenfassung startet: „Unterschied zwischen Flüchtling, Migrant und Asylbewerber.“
Der Leistungsumfang für Asylbewerber orientiert sich übrigens an den Vorgaben der §§ 4 und 6 AsylbLG, was zumindest dem Prinzip nach eine eingeschränkte Leistung der Kassen bedeutet.
Das führte zu Beginn der Massenzuwanderung ab 2015 schon zu hitzigen Debatten rund um die Einführung einer Gesundheitskarte für diese Klientel: Die einen freuten sich über die Entlastung, weil so keine einzelnen Abrechnungen mehr mit den Kassen erfolgen mussten, die anderen bemängelten die Möglichkeit zum Missbrauch so einer Karte. Klar, wem hier das Geld der Steuerzahler mehr am Herzen lag.
(Eine Anfrage an die Bundesarbeitsagentur wartet noch auf Beantwortung, die wir hier gerne ergänzen oder gesondert berichten, sobald Post eingeht.)
Der Jubel verbreitet sich
Abschließend einmal unvollständig und unkommentiert zusammengefasst, wie weitere Medien und Institutionen auf diese Zusammenarbeit zwischen Tagesspiegel und Technikerkasse reagiert haben.
Focus:
„Entlastung um 8 Milliarden: Dank Migranten sind Krankenkassen-Beiträge niedriger.“ Der Artikel beginnt mit dem Satz, es sei ein Vorurteil, das besonders bei Migrationskritikern gerne verfangen würde, das Zuwanderer das deutsche Sozialsystem belasten würden.
Der Paritätische Gesamtverband:
„Zuwanderer*innen entlasten die Gesetzliche Krankenversicherung.“ Dort heißt es weiter: „Ohne Zuwanderung wäre die Beitragsbelastung für Versicherte höher.“ Der „Negativsog der demografischen Entwicklung“ sei also durch Zuwanderung beendet worden.
RTL:
„Dank Migranten sind Krankenkassen günstiger“
Übrigens freute sich Doris Pfeiffer als Vorstandvorsitzende des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherungen schon Anfang 2018 über die Massenzuwanderung, als sie damals befand, dass Zuwanderung „zu einem doppelten Entlastungseffekt“ der Krankenkassen führen würde, die Einnahmen aus dem Gesundheitsfond nach Personenzahl und Alterschlüssel erhalten. Der Tagesspiegel übernimmt jetzt 2020 die vermeintliche Bestätigung.
Aus genanntem Fonds erhalten die Krankenkassen jene Mittel, die sie benötigen, um die Leistungen für ihre Versicherten zu finanzieren. Wer den Topf immer wieder füllt, wer dort einzahlt, kann den Kassen allerdings egal sein. Wenn aber für Hartz-4-Empfänger lediglich knapp unter 100 Euro im Monat überwiesen werden, diese aber oft bis zu einem Dreifachen an Kosten verursachen, dann muss der Steuerzahler via Bundeszuschuss viele Milliarden zubuttern. Frau Pfeiffer und weitere freuen sich bis heute darüber.
Die Logik einer funktionierenden Solidargemeinschaft mit einem ausgewogenen Geben und Nehmen ist hier offensichtlich abhanden gekommen, beerdigt worden. Als TE Anfang 2018 recherchierte, schrieben wir anschließend:
»Die Antworten einer der großen Kassen, von der wir wissen wollten, warum die Kassen eine positive Rechnung aufmachen, wo doch irgendwer am Ende die Zeche bezahlen müsste, gestaltetet sich als denkwürdiges Gespräch „unter Drei“: Überhaupt darüber nachzudenken, wer das finanziert, sei doch so ein AfD-Ding. Die Zuwanderung in die Sozialsysteme sei eine reine Behauptung von denen, die durch nichts belegt sei. Wir sind peinlich berührt. Wer zu kritisch nachfragt, ist der Böse. Und überhaupt hätte Frau Pfeiffer mit „Zuwanderung“ doch hauptsächlich EU-Bürger gemeint, die in Deutschland in Arbeit stehen und ihre Krankenkassenbeiträge bezahlen und eben nicht primär Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten.«