Tichys Einblick
Migration als politisches Druckmittel?

Marokkos Muskelspiele: Tausende Migranten gelangen in spanische Enklave

Marokko hat offensichtlich seine Grenze in die spanische Enklave Ceuta absichtlich für Migranten geöffnet. Das wäre ein Bruch eines Abkommens mit der EU.

Migranten am Strand der spanischen Enklave Ceuta, 18.5.2021

IMAGO / Agencia EFE

Corona hört vielleicht irgendwann auf, aber diese Probleme ganz sicher nicht: Gestern sind mehr als fünftausend Migranten in der von Marokko umgebenen spanischen Enklave Ceuta angekommen. Laut Tagesschau.de hatte Marokko zuvor die Grenzkontrollen ausgesetzt. Knapp ein Drittel der Menschen sollen minderjährig sein.

Einige Migranten sind um die Absperrungen herumgeschwommen, andere hatten Schwimmringe oder kleine Schlauchboote. Es soll sogar teilweise möglich gewesen sein, bei Ebbe zu Fuß Ceuta zu erreichen und damit das Gebiet der Europäischen Union. Die Weg sei etwa 2000 Meter lang.

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Spanische Zeitungen berichten von umherirrenden jungen Marokkanern in Ceuta, das dortige Aufnahmelager sei hoffnungslos überfüllt. Unbestätigten Medienberichten zur Folge sei dass erst der Anfang, es würden sich bereits aus Ländern südlich der Sahara Migranten auf den Weg nach Ceuta machen, die Existenz dieses für den Moment geöffneten Schlupflochs in die EU verbreitet sich demnach in der Geschwindigkeit einer Smartphone-Nachricht.

Spanische Medien spekulieren über die Ursachen: So könnte Marokko darüber verärgert sein, dass Spanien vor Kurzem aus humanitären Gründen die medizinische Behandlung von Brahim Ghali, des Chefs der Unabhängigkeitsbewegung Polisariao für Westsahara, zugestimmt hatte. Ghali soll an Corona erkrankt sein. Sein genehmigter Aufenthalt in Spanien ist aus zweierlei Gründen bemerkenswert: Zum einen sind eine Reihe von Klagen gegen Ghali auch in Spanien anhängig, eingereicht von Einwanderern, die bereits teilweise die spanische Staatsbürgerschaft haben. Ghali soll danach verantwortlich sein für Vergewaltigungen, Folter, Entführungen und gewaltsames Verschwinden lassen, heißt es in einem deutsch-marokkanischen Portal.

Außerdem gilt Gahli der Regierung in Rabat als erklärter Feind Marokkos. Zuletzt war Marokko im November mit einer Militäroperation in der Westsahara gegen die dortige Unabhängigkeitsbewegung vorgegangen. Das marokkanische Außenministerium sprach im Fall Ghali von einer „unverständlichen und überraschenden“ Haltung Madrids. Weiter hieß es, die Beziehung zwischen Marokko und Spanien sei dadurch gefährdet.

In Rabat wurde bereits der spanische Botschafter einbestellt. Marokkos Außenminister erklärte gegenüber dem spanischen Sender EFE, dass die Aufnahme Ghalis ernsthafte Zweifel an Madrids Engagement in den Beziehungen zu Rabat aufkommen lasse.

Womöglich ist hier das Motiv für Marokko zu finden, weshalb man die Büchse der Pandora ein Stück weit geöffnet hat: Die eigenen Bürger und die anderer Auswanderungsländer als Druckmittel gegen Spanien und die EU.

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Entscheidend wird die Frage, was passiert, wenn Spanien erst einmal offiziell festgestellt hat, dass diese Migranten überwiegend kein Asylrecht haben, also eigentlich wieder nach Marokko abgeschoben werden müssten. Bereits Ende April gelang es mehr als einhundert Marokkanern, nach Ceuta zu schwimmen, aber ein Großteil von ihnen wurde bereits wieder abgeschoben. Wird das jetzt wieder gelingen?

Für viele der Migranten wird Spanien nur ein Etappenziel in Richtung Deutschland sein. Hier gab es in der Vergangenheit Fahrten in gratis bereit gestellten Bussen Richtung Frankreich, wo die Migranten dann über die unkontrollierten Grenzen nach Deutschland weiterreisten – weder Spanien noch Frankreich hatten Willen gezeigt, dass diese Migranten einen Asylantrag stellen oder ansonsten zurückgeschickt werden.

Der Spiegel benennt Augenzeugen, die berichtet hätten, dass die marokkanische Polizei ihre Bürger beim illegalen Grenzübertritt in die spanische Enklave hat gewähren lassen. Das allerdings widerspricht dann einer erst kürzlich getroffenen Vereinbarung zwischen Spanien und Marokko, wonach jeder, der illegal nach Ceuta kommt, wieder abgeschoben werden muss/darf. Interessant dürfte sein, wie viele dieser Neuankommenden einen marokkanischen Pass mitbringen. Bilder zeigen Menschen in Badehosen ohne Taschen oder ähnliches dabei. Der fehlende Pass wiederum erschwert die Abschiebungen. Wirksame Rücknahmeabkommen fehlen.

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Warum aber nutzt Marokko dieses Druckmittel und warum hat der Maghreb-Staat ein offensichtliches Interesse an einer größeren Anzahl von Marokkanern, die in der EU leben? Zum einen ist es wohl so, dass mittlerweile jährliche eine Milliardenssumme aus der EU nach Marokko überwiesen wird. Viele Marokkaner sind auf diese Zuwendungen von Verwandten aus der EU bzw. aus Deutschland angewiesen. Dieses Geld ist zum Wirtschaftsfaktor geworden.

Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Migration, schrieb im Juni 2020 in einer parlamentarischen Antwort:

„Die EU unterstützt Marokko seit 2013 mit bislang ca. 342 Mio. EUR bei der Umsetzung seiner nationalen Strategie für Migration und Asyl, die verschiedene Bereiche der Migration abdeckt. Dazu gehört auch ein 2018 aufgelegtes, mit 144 Mio. EUR ausgestattetes Maßnahmenpaket zur Stärkung der Kapazitäten Marokkos für eine bessere Steuerung der Migrationsströme, einschließlich der Bekämpfung der Schleusung von Migranten und des Menschenhandels. 2019 wurden weitere 101 Mio. EUR gewährt.
Mit der verstärkten Unterstützung durch die EU haben die marokkanischen Behörden 2019 ihre Bemühungen verstärkt und insbesondere zusätzliches Personal und zusätzliche Ausrüstung zur Verfügung gestellt, um ihr Grenzmanagement zu verbessern und durch Such‐ und Rettungseinsätze Menschenleben auf See zu retten. Im Jahr 2019 hat sich die Zahl der irregulären Migranten auf der westlichen Mittelmeerroute gegenüber 2018 fast halbiert (32 513 gegenüber 64 298). Dieser rückläufige Trend hat sich im Jahr 2020 bestätigt.
Mehrere EU-Mitgliedstaaten haben bilaterale Rückübernahmeabkommen oder ‐vereinbarungen mit Marokko geschlossen. Die Kommission ist nicht in der Lage, die Umsetzung solcher Abkommen zu bewerten, trägt aber insbesondere über das Netz der Initiative für ein europäisches integriertes Rückkehrmanagement dazu bei, die Zusammenarbeit bei der Rückführung zu vereinfachen.“

Die hier von der EU-Kommission erwähnten Zahlungen sollten also das marokkanische Grenzmanagement verbessern. Bemerkenswert ist wohl besonders folgender der Satz: „Die Kommission ist nicht in der Lage, die Umsetzung solcher Abkommen zu bewerten.“

Mittlerweile muss die Kommission das wohl gar nicht mehr bewerten, die aktuelle Lage in Ceuta ist Antwort genug. Ebenso, wie die aktuelle Lage auf den Kanaren, im Mittelmeer, an der griechischen Außengrenze und auf den Balkanrouten.

Die spanische Enklave Ceuta hat die Erwachsenen unter den 5000 Migranten jetzt vorübergehend in einem Stadion untergebracht, melden heute verschiedene Medien. Tatsächlich sollen sogar schon 300 Personen wieder abgeschoben worden sein. Madrid hat 200 zusätzliche Polizeikräfte nach Ceuta gesandt.

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