Habe die Rede Carolin Emckes, der Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2016, nachgelesen. Hätte ich bei einer anderen Preisträgerin vielleicht nicht getan, aber ich darf sagen, ich habe ein besonderes, wenn auch kein persönliches Verhältnis zu Emcke. Ich bin ihr nämlich überaus dankbar, denn 2010 las sie meinen Roman „Deutscher Sohn“ (mit Ingo Niermann) und war für DIE ZEIT auf eine Weise wütend und empört, dass andere ebenfalls Schreiblaune bekamen, Emcke widersprechen wollten oder nur begeistert zustimmten, sodass „Deutscher Sohn“ einer der meistbesprochenen deutschen Romane 2010 wurde.
Für die Autoren besonders erschütternd damals: Die bekennende Homosexuelle Emcke sprach ihnen persönliche sexuelle Erfahrungen ab und meinte erlesen zu haben, dass wir uns die Sexszenen wohl auch noch zusammengegoogelt hätten. Wir hätten widersprechen können und erklären, im Gegenteil zusammengevögelt. Aber diese wunderbare Carolin Emcke schimpfte wie eine um ihren gerechten Lohn geprellte Bordsteinschwalbe: „Sie (die Autoren) hätten »Möse« schreiben können, »Fotze«, »Loch«, alles wäre angebrachter gewesen als »Scham«, »Geschlecht« oder »Schoß«.“ Die Kritik der Sexualkritik übernahmen dann dankenswerterweise ausgewiesene Literaturfachleute wie Ingeborg Harms, die in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung befand, „Deutscher Sohn“ sei im Gegenteil „eine streng gefügte Prosa, die das kosmopolitische Erbe der Klassik neu durchdenkt. Ein glasklarer Antihysterisierungsroman.“
Emckes hysterische Reaktion 2010
Ich erzähle es Ihnen, weil sich wohl dieser Tage ein gewisser Danilo Scholz an Carolin Emckes hysterische Reaktion in der ZEIT 2010 erinnerte und aufschrieb: „Als Ingo Niermann und Alexander Wallasch, zugegebenermaßen zwei ausgewiesene Flachzangen vor dem Herrn, 2010 ihren popliterarisch angehauchten Roman über den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr veröffentlichten, schäumte Emcke vor Wut und schrieb sarkastisch: ‚Sie waren fleißig, die Autoren, sie haben ordentlich Krieg und Trauma recherchiert, vielleicht bei Google.‘ Der Satz fällt ziemlich unvorteilhaft auf die Autorin zurück.“
Nun lassen wir die „Flachzangen“ unsanktioniert, denn es soll hier ja nicht um uns oder gar einen Herrn Scholz gehen, sondern um besagte preisausgezeichnte Carolin Emcke, der gerade einer der höchsten Ehren für Literaten zuteil wurde, die Deutschland zu vergeben hat. Und hier könnte man es sich einfach machen und womöglich mit einer gewissen dümmlichen Empörung analysieren, da erinnere die Preisträgerin nun zunächst an ihre exotische Sexualität, mache sich vorab zur verfolgten Randgruppe, die keine Kinder adoptieren dürfe, um sich und andere dann zu den Fahnenträgern der „Freiheit und Gerechtigkeit“ zu stilisieren und allen anderen „mangelnde Vorstellungskraft und Empathie“ vorzuhalten. Auf der guten Seite also Carolin Emcke und ihre „Angehörigen“, wie sie es mehrfach umschreibt, und auf der anderen Seite das düstere Deutschland, das „jüdischen Männern die Kippa vom Kopf“ reißt und „schwarze Deutsche“ angreift und eine Verbalität pflegt, die nun schlichtere Gemüter in den eigenen Reihen zu solchen Schandtaten anstiften würde.
Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht mit dieser so offensichtlich in der Sozialisation der 1980/90er Jahre verwurzelten Autorin, damals, als man so selbstverständlich zu etwas gehörte (West-Bündnis, West-Deutschland, Wohlstandsgesellschaft, Dauerkanzler Kohl usw.), dass es so leicht fiel, so natürlich und meistens ungefährlich war, dagegen zu sein, zu revoltieren. Die Mehrheitsgesellschaft war stark genug. Mehr noch, man hatte sogar die Kraft zur Assimilation, wie nicht nur die Entwicklung der Partei Die Grünen über 35 Jahre hinweg zum potentiellen Koalitionspartner der Union zeigt.
Mutig, wo kein Mut nötig
Dagegen zu sein war ebenso Alternative wie alternativlos. Revolte oder Schnauze halten und Modern Talking hören. Man definierte sich bewusst als Minderheit, weil die politische Mehrheit so überpräsent erschien. Weil die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse es zuließen. Wer in dieser Zeit aufgewachsen ist, wer zu den geburtenstarken Jahrgängen gehört, wer heute um die 50 ist, der weiß, wovon hier die Rede ist. Es war die Zeit der Suche nach Zugehörigkeit außerhalb des Mainstreams, zu dem man sowieso gehörte. Eine Art Schizophrenie als Massenphänomen. Es gab Punker, Grufties, Popper und wie sie alle hießen. Und es gab auch eine schillernde homosexuelle Bewegung, die viel dazu beigetragen hatte, dass Diffamierungen und gesetzliche Einschränkungen für Randgruppen diskutiert, boykottiert und überwunden werden konnten. Das ist das bildende Zeitfenster dieser Autorin. Wohl eine gute Zeit, die fruchtbar genug war, dass Carolin Emcke heute ist, wer sie ist und sein will.
Nun könnte man das alles immer noch bedauern, wenn man irgendwie revisionistisch wäre oder ein falsches Verständnis von Konservatismus mit sich herum trüge. Aber wir leben nicht mehr im 20. Jahrhundert. Im Gegenteil, noch nie seit dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit war der Mainstream-Konsens in Deutschland so vakant wie heute. Und so wundert es kaum, dass die, wie viele andere so wohlbehütet in jenem Westdeutschland aufgewachsene Carolin Emcke eine Sehnsucht nach eben diesem jenem Mainstream der 1980/90er entwickelt zu haben scheint. Was man gerne vergisst: Ein persönliches Wertesystem basiert eben auch auf der Interaktion mit den oder dem Wertesystem der anderen.
Thomas Schmid hat das für die Welt in einem beinahe simplen aber dann auch wieder kühnen Satz zusammengefasst: „Zieht man bei ihren Schriften und Reden das spätstrukturalistische und dekonstruktivistische Gewand ab, das zwar gelehrt anmutet, die einfache Erkenntnis aber eher behindert, dann ist schnell zu erkennen, dass sich die Autorin keineswegs wagemutig am Rande der Gesellschaft und ihrer Diskurse befindet. Im Gegenteil: Sie sitzt mittendrin, nicht erst seit gestern.“
Carolin Emcke ist also ausgerechnet in jenem Moment in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wo diese zu zerbrechen droht. Herbeigesehnt, wie der Feuerwehrmann, wenn die Dorfkirche brennt. Aber sie löschte nicht. Die Gesellschaft feierte sie dafür in der Paulskirche mit einem Ihrer renommiertesten Preise für Autorinnen.