„Everybody is fine“ ist ein rühriger Hollywood-Film mit Robert de Niro als alterndem Familienvater, der nach dem Tod seiner Frau wieder die Nähe zu seinen in alle Winde verstreuten Kindern sucht. Ein Roadmovie über die Einsamkeit.
Die amerikanischen Kulissen vom menschenleeren Diner bis hin zum Supermarkt mit Regalen voll akkurat sortierter Lebensmittel, aber menschenleer, vermögen die Einsamkeit des Frank Goode, so heißt de Niros Figur, auf besondere Weise herauszustellen.
Alles ist oberflächlich gut, überall erkennt man den gediegenen Wohlstand, der Garten gepflegt, das Haus komfortabel ausgestattet und Frank ist mit seinem Arzt um die Ecke per Du. Dennoch wird vor allem eines immer deutlicher: Frank ist nicht nur alt, er ist alt und einsam. Er sehnt sich nach einer Umarmung, nach Gesprächen mit vertrauten Menschen, nach diesem so wohligen Gefühl, wieder von jemandem gebraucht und noch zu etwas nutze zu sein.
Nun ist Hollywood weit weg, aber was Frank Goode da im Film durchlebt, hat es sogar bis in den Koalitionsvertrag der amtierenden deutschen Bundesregierung geschafft: Als Thema und als Auftrag. Es geht um Einsamkeit.
Um eine neue Einsamkeit, die in Zusammenhang stehen soll mit der Überalterung der Gesellschaft. Der großen Depression soll nun also laut Vereinbarung zwischen Union und Sozialdemokratie nicht nur mit einem Einwanderungsgesetz begegnet werden, sondern mit einer Reihe weiterer Maßnahmen.
Ist es kurios oder eher praxisnah, wenn die Koalitionspartner beschließen, Einsamkeit zu bekämpfen, also einem krankmachenden Gemütszustand vieler Bürger den Garaus zu machen? Hat der Staat hier überhaupt eine Fürsorgepflicht? Eine weitere Frage: Will die Koalition hier wirklich an die Ursachen gehen oder nur die Symptome bekämpfen, also die zunehmend individualisierte, mobile und digitale Gesellschaft gar rückabwickeln oder doch nur ein paar Stationen Streicheleinheiten für traurige bis depressive Rentner einführen?
Im Koalitionsvertrag Zeile 5583 bis 5587 auf Seite 118 heißt es:
„Gesellschaft und Demokratie leben von Gemeinschaft. Familiäre Bindung und ein stabiles Netz mit vielfältigen sozialen Kontakten fördern das individuelle Wohlergehen und verhindern Einsamkeit. Angesichts einer zunehmend individualisierten, mobilen und digitalen Gesellschaft werden wir Strategien und Konzepte entwickeln, die Einsamkeit in allen Altersgruppen vorbeugen und Vereinsamung bekämpfen.“
Wir fragen also beim Bundesfamilienministerium bzw. beim BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) nach, was nun ein Jahr nach der Kampfansage gegen Einsamkeit schon passiert ist, fragen nach, wie viele Menschen sich heute weniger einsam fühlen, fragen als nach der Erfolgsquote.
Ein Sprecher des Ministeriums gibt schnell und ausführlich Auskunft: Er verweist auf einen Fachkongress im März unter der Überschrift: „Einsamkeit im Alter vorbeugen – aktive Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen“. Der Kongress soll ein Zeichen setzen, „gegen Einsamkeit und soziale Isolation im Alter“. Nun sind das noch keine konkreten Maßnahmen, aber Fachforen und Diskussionsrunden sollen „die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren, Erfahrungen bündeln, vernetzen, praxisorientierte Handlungsoptionen erörtern und Strategien zur Vorbeugung von Einsamkeit und soziale Isolation entwickeln.“
Weiter wird uns mitgeteilt, dass parallel zu den Fachforen „ein Markt der Möglichkeiten“ stattfände, „auf dem Projekte und Initiativen, die sich gegen soziale Isolation und für gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen engagieren, ihre Arbeit vorstellen.“
Der Staat in Sachen Einsamkeitsbekämpfung ruft die Zivilgesellschaft, er orientiert sich an bereits bestehenden Projekten privater Nichtregierungsorganisationen. Es folgt der Hinweis, dass Ministerium würde schon „seit längerer Zeit verschiedene Projekte“ fördern, „die auch einsamen Menschen helfen, wie z.B. die 540 Mehrgenerationenhäuser“.
Diese Häuser würden ein strukturelles Netzwerk bilden „zur Stärkung des Miteinanders zwischen den Generationen und gegen Vereinsamung im ländlichen Raum oder Anonymität in der Großstadt.“ Nun leben in Deutschland fast 40 Millionen Menschen über 50 Jahren. Ab wann steigt das Risiko zu vereinsamen? Und wo sollen eigentlich die Familien herkommen für so ein Mehrgenerationenhaus, werden die extra eingeflogen?
Die Augsburger Allgemeine spricht von einer „Volkskrankheit Einsamkeit“ und der Stern macht das Tor noch weiter auf, wenn er Einsamkeit als Symptom einer neuen Zeit an kein Alter bindet und titelt: „Soziale Isolation: Nie allein, aber auch nie wirklich zusammen – warum so viele junge Menschen so einsam sind.“
Das Familienministerium hat demnach noch viel mehr zu tun, als nur aus dem Seniorenministerium heraus zu agieren, also dann, wenn die theoretische Phase, wenn die Annährung an das Problem in die Prophylaxe und Bekämpfungsarbeit überwechselt ist, irgendwann.
Noch nämlich sind die praktischen Beispiele sehr dünn gesät, aber es gibt sie doch, wenn der Sprecher des Ministeriums uns extra darauf hinweist, dass eine „Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO) gemeinsam mit dem BMFSFJ im letzten Quartal 2018 einen Wettbewerb zu „best practice“-Beispielen für Initiativen gegen Einsamkeit und soziale Isolation ausgeschrieben“ hätte.
Auch hier will man vor allem eines: „weitere Ansätze für Konzepte und Strategien ergründen, um daraus weitere Handlungsbedarfe ableiten zu können.“
Besagter Sprecher des Ministeriums weißt uns in seiner Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken (Einsamkeit im Alter – Auswirkungen und Entwicklungen, BT-Drs. 19/4760 vom 5. Oktober 2018) hin, welche von der Bundesregierung beantwortet wurde.
Zunächst definiert die Bundesregierung dort, was sie unter Einsamkeit versteht und wie sie zu messen sei: „Ob sich eine Person einsam fühlt, hängt ganz von der individuellen Befindlichkeit ab.“ Im Gegensatz dazu sei eine soziale Isolation aufgrund des Fehlens von sozialen Kontakten und sozialen Beziehungen objektiv messbar. Der Sprecher des Familienministeriums definierte Einsamkeit so: Einsam sei man, „wenn das soziale Netzwerk in Größe und Qualität von den eigenen Wünschen und Ansprüchen abweicht und Menschen das unangenehme Gefühl des Verlassen seins, des Kontaktmangels oder -verlusts verspüren.“ Gründe für eine unfreiwillige Einsamkeit könnten auch sein: „finanzielle Engpässe, gesundheitliche und Mobilitäts-Einschränkungen sowie Bildungsferne.“
Interessant an der Beantwortung der Kleinen Anfrage ist beispielsweise die Antwort der Bundesregierung, wonach die ausschließliche Bereitstellung von „Möglichkeiten zum Zusammenkommen mit anderen Menschen nur in sehr seltenen Fällen tatsächlich zu einer Reduktion von Einsamkeit“ führen würde.
Die Bundesregierung verweist in besagter Anfrage darauf, dass die Pflegeversicherung ebenfalls ein wichtiges Instrument zur Reduktion von Einsamkeit sei. Das zuständige Ministerium setzt zudem auf eine „Förderung ehrenamtlicher Strukturen“.
Weiter wird auf Investitionen in das Schienenbestandsnetz der Deutschen Bahn verwiesen, mit denen „auch Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit“ verbunden seien. Also ein Mobilitätszugewinn für alte einsame Menschen?
Aktuell passiert nun Folgendes in Sachen Einsamkeitsbekämpfung: Die Bundesregierung prüft derzeit, „inwieweit bisherige Strategien und Konzepte hierzu ausreichen. Erst nach Abschluss dieser Prüfung kann die Frage nach einer Einsetzung einer Expertenkommission beantwortet werden.“ In Sachen Einsamkeit im Alter befinden wir uns also demnach in einer Vorstufe zur Vorstufe einer Expertenkommission. Nun ist Alter vor allem durch eines gekennzeichnet: Die Zeit wird den Alten knapp.
Investiert wurden in 2018 140.000 Euro für die christliche Telefonseelsorge, 16,2 Millionen Euro für Mehrgenerationenhäuser, knapp eine halbe Million Euro für „Nebeneinander wird zum Miteinander (Projekt mitei)“ und eine weitere halbe Million Euro für verschiedene kleinere Projekte wie beispielsweise die Entwicklung einer Senioren-App im Rhein-Lahn-Kreis, die mit 200.000 Euro finanziert wurde.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird mit knapp zwei Millionen Euro unterstützt, davon 1,566 Millionen Euro für ein „Alltagstrainingsprogramm und Lübecker Modell Bewegungswelten.“ Also letztlich ein Sportprogramm, das Nähe schaffen und Einsamkeit vermindern helfen kann.
Wir stellen fest, dass die Ansage einer Bekämpfung der Einsamkeit den Koalitionsvertrag sozialkompatibel garniert haben mag, die Maßnahmen an sich aber noch in der Findungsphase stecken. Noch kann niemand ein Jahr danach sagen, dass hier wirklich Geld in die Hand genommen wurde etwa vergleichbar mit anderen gesamtgesellschaftlichen Notständen. Nun kann man wirklich nicht sagen, Einsamkeit wäre ein nachgereichtes Problem, wenn beispielsweise die Suizidrate unter Rentnern überproportional hoch ist. Die Basler Psychiatrieprofessorin Gabriela Stoppe bemängelt eine weit verbreitete Haltung: „Für viele scheint es normal zu sein, dass ältere Menschen unglücklich sind.“ Nun mag, wer im Alter eine gute Rente bekommt und sich alles leisten kann inklusive Reisen noch besser geschützt zu sein, als diese in den kommenden Jahren zunehmende Zahl von Millionen Alten unterhalb des Grundeinkommens. Die düstere Einsamkeitsprognose dürfte also dahin gehen, dass Einsamkeit im Alter inflationär zunehmen wird.
Nun muss man engagierte Mitbürger, die helfen, beglückwünschen, aber die Arbeit beispielsweise mit Tieren, mit ambulanten Streichelzoos für Altenheime rührt letztlich nicht am wesentlichen Problem einer der Familie entfremdeten Gesellschaft. Die Bundesregierung hat es in ihrer Beantwortung ja selbst festgestellt: Kontaktplätze für Altentreffen alleine reichen nicht aus, die Einsamkeit ist schwer zu vertreiben.
Und dann bleibt Platz für eine banale Erkenntnis: Familiäre Bindungen sind kaum zu ersetzen. Wirklich erfüllende Bindungen brauchen Zeit, bis in ihnen das Potenzial gewachsen ist, Einsamkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Einsamkeit scheint tatsächlich der Preis zu sein, den Alte in modernen Gesellschaften bezahlen müssen, wenn die Entfremdung von Orten und Personen immer weiter fortschreit.
Die Ursachen für Einsamkeit bleiben aber vielfältig, so mag ein weitere Anlass auch darin liegen, dass trotz zunehmendem Wohlstand (für einige) den allermeisten Alten das Glück einer unentfremdeten Arbeit nicht vergönnt war oder dass eine bäuerliche erdverbundene Lebensweise schon gar nicht mehr in unsere Zeit passt, so aber wurde das Virtuelle schleichend zum Primären. Leider (?) aber lässt sich das Leben nicht übers Ohr hauen, es lässt sich nicht virtualisieren.
Nun darf man befürchten, dass es immer mehr Menschen sein werden, die den letzten Gang in großer Einsamkeit absolvieren. Der Staat wird hier nicht helfen können mit irgendwelchen hoch subventionierten Konzepten gegen Einsamkeit. Es sei denn, er wäre endlich bereit, das Problem viel Grundsätzlicher zu beantworten. Dann, wenn er wieder die Familie als Keimzelle der Gemeinschaft in den Kern seiner Überlegungen stellt. Den Zusammenschluss von Menschen, die auf natürlichste Weise für einander verantwortlich sind. Denn hier befindet sich das beste Habitat für eine wetterfeste Geborgenheit, die man getrost nachhaltig nennen darf.
Nicht als Lippenbekenntnis, sondern mit allen Mitteln und gegen alle Widerstände. Dann ließe sich vielleicht sagen: Everybody is fine. Und der Koalitionsvertrag formuliert es ja bereits: „Familiäre Bindung und ein stabiles Netz mit vielfältigen sozialen Kontakten fördern das individuelle Wohlergehen und verhindern Einsamkeit.“ Also an die Arbeit!