Große Worte zu Lippenbekenntnissen zusammengeschmolzen – so in etwa könnte heute eine Überschrift lauten, die Giovanni di Lorenzo, dem Chefredakteur der ZEIT attestiert: Große Klappe, aber leider nichts dahinter. Der nämlich hatte Anfang 2017 zum Kniefall angesetzt und in einer viel beachteten Selbstkritik zur Berichterstattung zur Massenzuwanderung ab 2015 befunden: „Wir waren aber zumindest in der Anfangszeit geradezu beseelt von der historischen Aufgabe.“
Nichts ist allerdings seitdem bei der ZEIT anders geworden. Im Gegenteil, das Blatt entschuldigte sich nach einem veritablen Shitstorm im Juli vergangenen Jahres für einen zuwanderungskritischen Bericht im Rahmen einer Pro und Contra – Rubrik, so, als hätte es die Abbitte nie gegeben. Nein, man ließ die Redakteurin alleine im Shitstorm stehen und schrieb für sich selbst ganz kleinlaut: “Wollen es in Zukunft wieder besser machen”.
Nun ist ausgerechnet, wie man es jetzt besser machen will, ein Jahr zuvor noch von di Lorenzo in großer Geste als Schlechtleistung apostrophiert worden – egal, mag der sich jetzt gedacht haben: vergessen, Schwamm drüber, was interessiert mich meine Abbitte von gestern? Wie muss man so eine Haltung nennen? Nur scheinheilig?
Aus aktuellem Anlass soll hier einmal zitiert werden, wie diese journalistische
Beseelung in der ZEIT am Beispiel ausgesehen hat, die ihr Chefredakteur als Entschuldigung dafür nannte, dass die Leitmedien einschließlich der von ihm verantworteten Zeitung „eine von der Politik der Bundesregierung abweichende Meinung, manchmal auch schon kritische Fragen, unter den Generalverdacht gestellt wurden, man habe etwas gegen Flüchtlinge oder betreibe das Geschäft der Populisten.“ Der Generalverdacht ist geblieben – di Lorenzos Abbitte im Winde einer Reihe von Shitstorms verweht.
Der aktuelle Anlass ist hier die Entlassung von Zuwanderer-Bürgen aus ihrer Verantwortung, bekannt gegeben durch das Ministerium für Arbeit und Soziales, nachdem bereits die Bundesagentur für Arbeit ankündigte, keine Forderungen mehr an Bürgen stellen zu wollen.
Eben zum Thema Bürgen findet sich ein Artikel in der ZEIT aus der Zeit, als das Papierschiff von di Lorenzo noch steil im Wind dieser von ihm als mediale Beseelung bezeichneten Wetterlage segelte. Am 18. September 2015 berichtete dort die Autorin Esther Dieselmann über eine Ehepaar, von dem der Leser die Vornamen erfährt, über Baderkhan (86) und Khaj (72), „die ersten syrischen Flüchtlinge, die durch eine Verpflichtungserklärung nach Berlin gekommen sind.“
Die anrührende Prosa der Autorin war damals überwältigend in einer Gefühligkeit, die sich ein Relotius für den Spiegel nicht einmal zu erfinden getraut hätte, wenn es da beispielsweise heißt: Sie sitzen „auf einem gespendeten Sofa, vor ihnen ein Beistelltisch mit Platzdeckchen, schwarzer Tee, Zucker. Acht Journalisten hocken zu ihren Füßen auf dem karierten Teppich. Baderkhan zeigt auf die Teekanne und lässt Tee servieren, Khaj lächelt müde.“
Die beiden Syrer waren über den Verein „Flüchtlingspaten Syrien“ nach Deutschland gekommen, der damals vom Chef einer „Agentur für politische Werbung“ gegründet wurde. Der hatte das Bürgenmodell professionalisiert und selbst eine Verpflichtungserklärung im Rahmen von Landesaufnahmeprogrammen für das genannte Ehepaar unterschrieben. Sein Anwalt hätte ihm damals abgeraten, heißt es bei der Zeit: „Es war keine einfache Entscheidung, schließlich bin ich jetzt ein Leben lang in der Verpflichtung – und das für zwei völlig Fremde. Aber wenn ich mein persönliches Risiko vergleiche mit der Lebensgefahr, in der Flüchtlinge sind, dann kann ich nur unterschreiben.“ Als die Ausländerbehörde keine Migranten mehr unterbringen konnte, kam die Idee der Bürgschaften auf und der Agenturchef gründete den Verein „Flüchtlingspaten Syrien“ .
Das Prinzip sei simpel, schwärmte 2015 die ZEIT beseelt: „Ein Syrer in Deutschland bittet um Hilfe für ein Familienmitglied, der Verein sammelt Spenden, sucht nach Bürgen und holt den oder die Betroffenen mit dem Flugzeug nach Deutschland.“ genannter Agenturchef ergänzte: „Wir wissen, dass wir nicht allen helfen können. Aber denjenigen, denen wir helfen können, wollen wir ein Rundum-sorglos-Paket bieten.“
Rundum-sorglos-Paket – anschaulicher kann man wohl diese innere Bewegtheit (di Lorenzo) kaum umschreiben. In wie weit nun dieser und die vielen weitere Bürgen damals schon die Hoffnung haben konnten, dass sie dieses Rundum-sorglos-Paket am Ende nicht aus der eigenen Tasche bezahlen müssen, sondern auf den Steuerzahler werden abwälzen können, ist unbekannt.
Jedenfalls wurden die Bürgen jetzt, Jahre später, überwiegend aus ihrer Haftung entlassen, wenn das zuständige Ministerium TE gerade auf schriftliche Anfrage mitgeteilt hat:
„Analog zum Vorgehen der BA bei „Flüchtlingsbürgen“ für Leistungsberechtigte nach dem SGB II – keine Rückforderungen der Jobcenter für gezahlte Leistungen nach dem SGB II – wird auch für Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII übernommen. Weil davon auszugehen ist, dass die Mehrzahl der Bürgen sich über die Tragweite ihrer Kostenübernahmeerklärung zum Zeitpunkt von deren Abgabe nicht ausreichend bewusst waren (was vor allem für den zeitlichen Umfang des Erstattungszeitraums galt) und zudem von Seiten der Leistungsträger, die diese Erklärungen entgegengenommen haben, nicht durchgängig und ausreichend die wirtschaftliche Leitungsfähigkeit der Bürgen geprüft wurde, ist dies angemessen. Auch die Länder haben sich für die unter Landesaufsicht stehenden Leistungsträger bereiterklärt (insbesondere Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz), von der Inanspruchnahme der Bürgen abzusehen. Damit ist die bisher bestehende Rechtsunsicherheit beseitigt. Angesichts der vergleichsweise geringen Summe, um die es bei den Erstattungsbeträgen geht, ist dies ein gesamtstaatlich sinnvolle Vereinbarung.“
Was nun eine „gesamtstaatlich sinnvolle Vereinbarung“ sein soll, sollte man noch einmal gesondert nachfragen. Jedenfalls werden die Bürgen entlastet, weil sie sich der Tragweite ihres Bürgens nicht bewusst hätten sein können, so das Ministerium. Mindestens auf den genannten Agenturchef trifft das nicht zu, denn dessen Anwalt, so berichtete die Zeit, hatte dringend davor abgeraten.
ProAsyl reklamiert stolz für sich, die Bundesregierung schon 2013 unter Druck gesetzt zu haben, endlich „ein Programm zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge (zu schaffen). Später kamen Programme der Bundesländer hinzu.“
Mittlerweile sei die Bundesaufnahme allerdings beendet, einige Aufnahmeprogramme der Bundesländer liefen aber noch. Es werden also weiter Bürgschaften angenommen. Berlin beispielsweise hat sein Programm gerade bis Ende 2019 verlängert. Auf was dürfen die Bürgen hier hoffen? Welches Risiko gehen die Bürgen mit so einer Bürgschaft überhaupt noch ein? Und vor was müssen sich die Bürgen fürchten? Und wovor die Bürger?
Die Bürgen wurden also laut Bundesministerium aus ihrer Verantwortung entlassen, weil „davon auszugehen ist, dass die Mehrzahl der Bürgen sich über die Tragweite ihrer Kostenübernahmeerklärung zum Zeitpunkt von deren Abgabe nicht ausreichend bewusst waren.“
Wie scheinheilig diese Aussage letztlich sein könnte, belegt ein schon bizarr zu nennender Fall, der ausgerechnet bei ProAsyl online gestellt wurde. Dort nämlich wird über einen von weiteren Unterstützer- und Bürgenkreisen berichtet. Mit ProAsyl sprach über ihre Aufnahmeaktionen „Monika Bühler von der „Beueler Initiative gegen Fremdenhass“, die auch ein „Café International“ betreibt.
Und was Frau Bühler da berichtet, beleuchtet auf eindrucksvolle Art und Weise, wie wenig stimmen kann, was das Ministerium schreibt, wenn die Rede davon ist, dass die Bürgen sich der Tragweite ihrer Bürgschaften nicht bewusst gewesen wären. Sie wurden sogar von Amts wegen vorgewarnt, erregt sich Frau Bühler von der Bürgenhilfe:
„Zu Anfang hatten sich noch mehr von uns bereit erklärt, zu bürgen. Leider gab es bei der Ausländerbehörde eine Mitarbeiterin, die nicht richtig informiert war und beim ersten Kontakt sinngemäß erklärte: Sind Sie verrückt, so eine Verpflichtungserklärung abzugeben? Und wenn die jetzt auf die Idee kommen, in einem Fünf-Sterne-Hotel zu wohnen? Oder sich einen Porsche kaufen? Dann müssen Sie das alles zahlen. Das war einfach Quatsch, hat aber doch potentielle Bügen abgeschreckt. Die Frau hat nach unserem Widerspruch übrigens ziemlich Ärger gekriegt.“
Die Mitarbeiterin besagter Ausländerbehörde hat also Ärger bekommen, weil sie vor etwas warnte, das den beseelten Bürgen, die ihr dafür Ärger machten, zunächst um die Ohren geflogen ist, bis die Bundesarbeitsagentur und das Bundesministerium die Bürgen entlastete?
TE telefoniert dazu noch einmal mit der Pressestelle der Senatsverwaltung für Inneres und Sport von Berlin. Wir fragen, in wie weit das Land nach wie vor Bürgschaften akzeptiert, also Verpflichtungserklärung im Rahmen ihres Landesaufnahmeprogramm annimmt, als besagte „Rundum-sorglos-Pakete“ von Bürgen akzeptiert, deren Kosten anschließend von der Bundesagentur und dem Bundesministerium übernommen werden. Weil man den Bürgen nicht zumuten kann, bei Verstand zu sein, wenn er eine Bürgschaft für einen Migranten übernimmt?
Die Pressestelle verweist auf die entsprechende Passage ihres Webauftritt zu diesem Thema. Dort wird beim „Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten“ unter der Überschrift „Verpflichtungserklärungen“ darauf hingewiesen, wie „Dritte (Verpflichtungsgeber) mit ausreichender Bonität eine Verpflichtungserklärung abgeben.“
Zur Auswahl stehen in Berlin eine „Verpflichtungserklärung für einen kurzen Aufenthalt (Schengen-Visum)“ und eine „Verpflichtungserklärung für einen längeren Aufenthalt (nationales Visum).“ Aber von welchen „Verpflichtungen“ ist hier eigentlich die Rede, wenn Bundesämter diese Verpflichtungen wegen einer beseelten Unzurechnungsfähigkeit der Bürgen sowieso anschließend aufheben bzw. übernehmen?
Moment, oder gilt diese Übernahme nur für Bürgschaften, aus einer Zeit, die, wie ja eingangs erwähnt, der Chefredakteur der Zeit so beschreibt: „Wir waren aber zumindest in der Anfangszeit geradezu beseelt von der historischen Aufgabe.“
Eine Beseeltheit also, die nicht nur Journalisten als Alibi für den gefährlichen Unsinn, den sie zu Papier gebracht haben, für sich in Anspruch nehmen dürfen, sondern auch Bürger, die als Bürgen sogar Mitarbeiterinnen der Ausländerbehörde bei ihren Vorgesetzen anschwärzen, weil diese davor gewarnt hatte, die finanzielle Verantwortung einer Verpflichtungserklärung nicht zu unterschätzen und die dafür „Ärger gekriegt“ hat.
Offensichtlich zu Recht, wenn mittlerweile noch jedem klar geworden sein müsste, dass diese Bürgschaften doch völlig verpflichtungsfrei sind.
Und man darf weiter darauf gespannt darauf sein, wie den Bürgen von heute und morgen übermorgen erklärt werden soll, dass sie Geld zu überweisen haben, wenn Verpflichtungen aufgelaufen sind. Die Empörung darüber dürfte nach dem Freispruch für die Vorgänger noch einmal deutlich größer sein und die Aufhebung der Bürgschaften noch schneller passieren.