Tichys Einblick
Kein Beweis

Breit zitiert, als Beleg wertlos: Oxford-Studie verteidigt NGO-Schiffe

Eine Studie aus Oxford, die auf Daten basiert, die mit der aktuellen Lage vor Ort und der Entwicklung der letzten 15 Monate nur noch wenig bis gar nichts zu tun hat.

Andreas Solaro/AFP/Getty Images

Wenn es darum geht, der Kritik an den Aktivitäten privater Schiffe vor der libyschen Küste etwas entgegenzusetzen, wird häufig mit zwei Studien argumentiert, die bewiesen hätten, dass die als „Seenotrettung“ bezeichneten Tätigkeiten der Schiffe der Nichtregierungsorganisationen (NGO) keinen Pull-Faktor erzeugen, also nicht mehr Afrikaner in die Schlauchboote treiben würde. Auch würden diese Studien beweisen, dass die Anwesenheit der NGO-Schiffe vor den nordafrikanischen Küsten keinesfalls für mehr Tote verantwortlich seien.

Bevor wir uns diesen beiden Studien widmen, von denen die der Universität Oxford (in Zusammenarbeit mit der Scuola Normale Superiore) deutlich häufiger argumentativ verwendet wird als eine weitere Studie des Goldsmith College der University of London „Death by Rescue“, hier ein paar Beispiele, wo und wie diese Studien ins Feld geführt werden:

Der Bayrische Rundfunk zitierte im Juli 2017 beide Studien: „Die Erkenntnis: Die Rettungseinsätze hatten keinen oder einen geringen Einfluss auf die Zahl der Flüchtenden, die über das Mittelmeer wollten, sie verringerten aber die Zahl der Toten.“

Die ZEIT lässt die Studienmacher der Oxford-Studie gleich selbst publizieren.

Der Tagesspiegel berichtet unter der Headline „Die fatalen Gerüchte über private Seenotretter“, Autorin ist hier die stellvertretende Vorsitzende der Grünen, Jamila Schäfer, die die Studie zitiert, wenn sie schreibt, der „Pull-Faktor“ „wurde bereits mehrfach widerlegt, zum Beispiel von einer Studie der Oxford Universität.“ Welches die anderen Beispiele sind, darüber informiert Schäfer nicht.

Der linksliberale Standard aus Wien zitiert wie der bayrische Rundfunk beide Studien (sowohl die aus Oxford wie aus London) und hält die Pull-Faktor-These also für doppelt widerlegt.

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Und das Team um Georg Restle (WDR/Monitor) interviewt für das öffentlich-rechtliche Fernsehen einen der Macher der Oxford-Studie. Restle befindet anschließend, das Ergebnis der Studie sei „beeindruckend eindeutig“ und weiter: „Es ist schon erbärmlich, dass man das überhaupt sagen muss: Die jungen Seenotretter vom Osterwochenende und alle anderen Helfer auf dem Mittelmeer, sie haben mit Fluchtursachen nichts zu tun. Und deshalb sollten wir sie auch als das bezeichnen, was sie tatsächlich sind: Die wahren Helden unserer Zeit.“

Die Liste derer, die sich auf eine oder beide Studien beziehen, ist noch um ein vielfaches länger. Eine erstaunliche Einseitigkeit, wenn es darum geht, die Arbeit der NGO-Schiffe vor der Nordafrikanischen Küste gegenüber ihren Kritikern zu rechtfertigen. Aber wie argumentationsstark sind diese Studien wirklich?

Nun ist die Oxford-Studie heute vor allem eines: überaltert. Sie basiert im Wesentlichen auf Daten von 2013 (2010) bis etwa Mai 2016. (Neuerdings gibt es ein Update vom Juni 2018, das allerdings im Wesentlichen nur ein bestätigendes Update der Einordnung von Anfang 2017 ist als ein notwendiges Fakten-Update).

Hauptargumentation der Oxford-Studie von Anfang 2017 ist eine vergleichende Analyse der Seenotrettungsaktionen von Marineoperationen wie „Mare Nostrum“ und später der „Operation Triton“. Nun haben diese militärischen Seenotrettungen unmittelbar wenig bis gar nichts mit den Aktivitäten der NGO-Schiffe zu tun. Das stört aber kaum jemanden der Zitierenden. Georg Restle (Monitor/WDR) wusste das offensichtlich auch schon, nennt daher keine konkreten Erhebungsdaten, datiert nicht, sondern spricht ominös von „in Zeiten als“ und argumentiert gemäß der Oxford-Studie, dass sich, als sich die Seenotrettung zurückgezogen hätte, mehr Migranten kamen als noch zum Zeitpunkt aktiver Seenotrettung.

Hier allerdings bezieht sich die Oxford-Studie auf das Ende des Einsatzes der Marineoperation „Mare Nostrum“ im Oktober 2014. Das alles hat also mit dem viel späteren Einsatz der NGO-Schiffe rein gar nichts zu tun, kann also auch nicht als Beleg taugen. Das allerdings interessiert die Studienmacher, interessiert Restle und etliche weitere Akteure aus Politik und Medien wenig.

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Nein, mit dieser Oxford-Studie lässt sich der Pull-Faktor der NGO-Schiffe vor der libyschen Küste kaum widerlegen. Die Londoner Studie übrigens wird nicht nur von Medien und politischen Akteuren zitiert, sie dient wiederum als Beleg für die Oxford-Studie. Wir befinden uns damit also in einer Art Kreisverkehr: Zwei Studien sollen unabhängig von einander eine Argumentation verfestigen. Näher betrachtet allerdings, dient sich eine der anderen an. Wissenschaftlich ist das durchaus legitim, aber entscheidet ist hier die Außenwirkung, die zwei eigenständige Belege annimmt, die beide zu einem vergleichbaren Schluss kommen, aber konkret eben auch deshalb, weil sie in Teilen aufeinander aufbauen.

So betrachtet sind es keine streng voneinander getrennten Studien, die jeweils die These belegen würden. So heißt es in der Oxford-Studie über die Studie aus London: „The excellent Death by Rescue investigative report by the University of London’s Forensic Oceanography department (Heller and Pezzani, 2016) analysed the circumstances of both accidents, using multiple sources such as photos, interviews with shipwreck survivors, rescue vessel crews, statistical data, GIS locations and internal reports by national authorities.“

Also in etwa: „Der exzellente und investigative Bericht usw.“ …

Interessant auch die einleitenden Worte zur Schlussfolgerung im Bericht aus Oxford:
„Keeping in mind the shortcomings of the data and the ongoing nature of the issue, some of the key conclusions and recommendations that can be derived from our analyses are …“

Also in etwa: Bitte beachten sie die Unzulänglichkeiten der Daten und beachten sie, dass sich die Lage täglich ändert (man fürchtete also schon selbst die veralterten Datensätze, die zum Studienergebnis führten).

Die Autoren der Studie haben sogar noch Zeit für tröstende Worte gefunden für die Kritiker der Aktivitäten der NGO-Schiffe vor der nordafrikanischen Küste, wenn sie abschließend feststellen:

„It is important to remember that the overall number of migrants arriving on Europe’s shores is relatively low, both in comparison to the European population and compared to the number of irregular migrants arriving through other means (Cosgrave et al., 2016). Indeed, the ‘migrant crisis’ is primarily a crisis of Europe’s own making (Den Heijer et al., 2016).“

Also in etwa: Die Gesamtzahl der Migranten, die an den Küsten Europas ankommen, ist relativ niedrig. Und das sowohl im Vergleich zur europäischen Bevölkerung als auch verglichen mit der Zahl irregulärer Migranten, die auf andere Weise ankommen (Cosgrave et al., 2016).

Besonders attraktiv erscheint die Studie auch den Protagonisten der NGO-Schiffe selbst. Aber nicht jeder geht damit offensiv um, so zitiert beispielsweise auch Ruben Neugebauer als Sprecher von Sea-Watch gegenüber dem Deutschlandfunk die Studie, klingt dabei aber alles andere als überzeugt, wenn er sagt: „Da ist es auch so, dass eine Studie der Oxford University im Prinzip nachher nachgewiesen hat, dass das eigentlich überhaupt nicht belegbar ist, dass es so ist, dass in den Zeiten, in denen wenig Rettung stattgefunden hat, trotzdem die Zahl angestiegen ist, also dass es dafür nicht wirklich einen Beleg gibt.“

Erst später, als er sich warm gemacht hat, als die Studie zunächst vorsichtig ins Interview eingeführt wird, erklärt er auf die Frage nach einem Pull-Faktor deutlich überzeugter: „Auch das ist Quatsch, das ist eben gerade von einer Studie von der Oxford University auch nachgewiesen worden, dass das nicht der Fall ist. Das hört sich natürlich schön einfach an, aber die Leute kommen ja nicht, weil wir sie retten, sondern die Leute kommen, weil es ihnen schlecht geht und weil sie keine andere Möglichkeit haben. Das Einzige, worauf wir einen Einfluss haben, ist, wie viele Menschen dabei ums Leben kommen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, und eben nicht darauf, wie viele Leute sich auf den Weg machen.“

Dazu gibt es ein weiteres Argument aus den Studien, dass ungefähr so geht: Die Marineoperationen hätten ja viele der stabileren Boote der Schlepper zerstört. Eben das sei der Grund, dass nur noch Schlauchboote in See stechen würden.

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Aber würden sie in See stechen, darf man fragen, wenn sie nicht davon ausgehen könnten, dass die NGO-Schiffe sie unmittelbar erwarten? Der österreichische Kurier, der eines der NGO-Schiffe begleitete, nannte diesen Sachverhalt verniedlichend ein „klassisches Henne-Ei-Problem“, stellt dann aber doch unmissverständlich fest: „Es darf als sicher gelten, dass die Schlepper sehr genau beobachten, welche NGO-Schiffe sich gerade vor der Küste befinden. „Habt keine Angst, da draußen sind die großen Schiffe, die werden euch holen“, sagte ein Schlepper laut Ohrenzeugen, bevor er vergangene Woche jenes kleine Holzboot losschickte, das acht Stunden später von der „Prudence“ gefunden wurde.“

Und der Kurier lässt mit Kilian Kleinschmidt, ehemals Chef des größten Flüchtlingslagers der Welt, einen gewichtigen Kritiker der Oxfordstudie zu Wort kommen, der gegenüber der Zeitung befindet: „Natürlich haben Rettungsaktionen eine beruhigende Wirkung auf jene, die sich auf die Reise begeben. Und daran denken auch die Schlepper.“

Weiter zitiert der Kurier Belachew Gebrewold, Professor am Management Center Innsbruck und Autor mehrerer Bücher zum Thema, der die Lage so einschätzt: „Je mehr Menschen ankommen, desto mehr Informationen fließen in deren Heimatländer zurück“. Und das könne, so Gebrewold, natürlich animierend wirken. Diesen Effekt spüre man aber nicht umgehend, und das sei auch der Fehler der Oxford-Studie.

Eine Studie, die längst zum goldenen Ei für die Befürworter der Arbeit der NGO-Schiffe vor der nordafrikanischen Küste geworden ist. Eine Studie aus Oxford, die auf Daten basiert, die mit der aktuellen Lage vor Ort und der Entwicklung der letzten 15 Monate nur noch wenig bis gar nichts zu tun hat. Aber eben auch eine Studie, die verehrt wird wie ein goldenes Kalb. Eine Studie, die schon deshalb lohnt, genauer betrachtet zu werden. Die allerdings anschließend als Argumentationshilfe pro NGO-Aktivitäten im Mittelmeer nur noch bedingt bis überhaupt nicht mehr taugt.

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