Die Balkanroute ist Synonym für einen Landweg der Massenzuwanderung von Migranten ab 2015 nach Europa und hier vornehmlich nach Deutschland. Dabei wird allerdings oft vergessen, dass diese Route schon zu Jugoslawienzeiten begehrte Strecke für Glücksuchende war, als sich hunderttausende türkische Gastarbeiter während der deutschen Sommerferien jedes Jahr in beide Richtungen bewegten. Die Route trug den schlichten serbokroatischen Begriff für eine von jugoslawischen Soldaten mitgebaute Autobahn: Autoput, eine 1.188 Kilometer lange, damals von vielen Autowracks und liegengebliebenen Autos gesäumte, über lange Strecken nur zweispurige Transitstrecke quer durch Titos Jugoslawien – gewichtiges Teilstück von Österreich nach Griechenland und über Bulgarien in die Türkei.
Wer damals als Deutscher mit dem Auto nach Griechenland fuhr, hätte auch die komfortablen italienischen Autobahnen nutzen und in Brindisi mit der Fähre übersetzen können, aber die Italiener nahmen ordentlich Maut in Lire, als fuhren viele deutsche Urlauber mit im Konvoi der Gastarbeiter, deren Fahrzeuge nicht nur hoffnungslos mit Familien und Unmengen von Plastikbehältern – Tupperware-Kopien – beladen waren wie indische Warenesel, sondern die auch noch oft in einem so desolaten Zustand waren, dass man sich wundern musste, wie die überhaupt noch durch den TÜV kommen konnten, immerhin fuhren viele mit deutschen Zulassungen.
Die türkischen Familienväter am Steuer hatten einen guten Job in Deutschland. Sie waren als Gastarbeiter auf Zeit meistens mit dem Zug nach Deutschland gekommen, hatten hier ihre Arbeit angenommen, später die engere Familie nachgeholt und kamen in den Sommerferien als voll bepackte Botschafter eines deutschen Wirtschaftswunders zurück in ihre türkischen Heimatorte. Aus Türken waren Almanci geworden. Vielfach verehrt ob ihres neuen Wohlstands, aber daheim auch argwöhnisch beschaut als der eigenen Kultur Entfremdete.
Fast fünfzig Jahre später steht der Begriff „Balkanroute“ ebenfalls für eine berüchtigte Strecke, für eine hunderttausendfache allerdings heimlichen Durchquerung der Länder des ehemaligen Jugoslawiens, als alleine 2015 geschätzt 700.000 Syrer, Iraker, Afghanen, Pakistani und andere diesen langen beschwerlichen Weg wählten, nach Europa, in den allermeisten Fällen einer sich rasch herumsprechenden so genannten „Willkommenskultur“ folgend nach Deutschland zu kommen.
Der milliardenschwere Türkei-Deal der EU mit der Erdogan-Regierung sorgte nach einem ersten massiven Schock über die schieren Menschenmassen, die bürokratisch nicht einmal mehr geordnet in die deutsche Sozialhilfe eingegliedert werden konnten, ein paar Jahre lang dafür, dass diese dramatischen Zahlen tatsächlich zurückgingen. Wer sich allerdings die Landkarte genauer anschaut, wer die vielfältigen Reisemöglichkeiten dieser keineswegs einheitlichen Balkanroute anschaut, der ahnt schnell, dass es hier gar keine hundertprozentigen Kontrollen geben kann. Heute sind eine ganze Reihe von Nachfolgestaaten Jugoslawiens Teil dieser Balkanroute, hinzu kommt eine kritische Menge miteinander konkurrierender Interessenlagen die von dieser Route und ihrem Zweck unmittelbar profitieren bzw. mehr oder weniger oft bestrebt sind, diese Route unattraktiv für illegale Einwanderung in die EU zu gestalten.
Eine besondere Rolle kommt heute Bosnien und Herzegowina zu, wo sich aktuell Zehntausende in hoffnungslos überfüllten Lagern stauen, die auch aus Sicherheitsgründen geräumt werden müssen mit dem Ergebnis, dass diese Migranten im Konvoi in Polizeibegleitung über Landstraßen geführt werden und diese endlosen Menschentrecks dann von Einheimischen gefilmt den Weg in die sozialen Netzwerke, also in die ganze Welt finden.
Das Greenpeace-Magazin hat aktuellen Zahlen unter der Überschrift „Frontex: Mehr illegale Grenzübertritte in die EU im September“ einmal zusammengefasst (siehe auch hier oder hier). Demnach sind die illegalen Übertritte deutlich gestiegen. Auf den Hauptmigrationsrouten im Mittelmeerraum lagen diese alleine im September bei 17.200 Fällen, zitiert das Magazin die europäischen Grenzschützer in Warschau. Insgesamt hätten von Januar bis September 2019 schon 88.200 Migranten die Grenzen zur EU illegal übertreten. Und das sind nur die illegalen Übertritte, derer man habhaft wurde.
Frontex berichtet weiter, dass schon knapp die Hälfte der Migranten aus Afghanistan kämen. Die vieldiskutierte Route von Libyen aus über das Mittelmeer sei zwar ebenfalls häufiger frequentiert worden, aber mit deutlich geringeren Zahlen, wenn im September 2.280 und in den ersten neun Monaten des Jahres 9.700 Personen auf diesem gefahrvollen Weg in die EU gelangten.
In etwa auf gleichem, sogar etwas niedrigerem Niveau waren laut Frontex bisher die Zahlen jener, die über besagte Balkanrouten illegal eingereist sind, als man hier bis September 7.300 Personen habhaft werden konnte, die so in die EU gekommen sind. Hier soll nun aktuell der Druck auf den Grenzkorken am stärksten sein: Migranten stauen sich in den Lagern in Bosnien und anderswo und die Bürgermeister der betroffenen Städte greifen zu drakonischen Maßnahmen, sogar Essensrationen wurden gestrichen und die medizinische Versorgung gleich komplett eingestellt. Unschöne Bilder gibt es dort also jede Menge, fehlen nur noch Fotografen, die sie filmen und Medien, die diese Filme dann entsprechen verbreiten.
Die Schweizer Justizministerin beispielsweise schaut hoch besorgt auf diese Entwicklung, wenn sie mit Blick auf 2015 erklärt: „Ich befürchte, dass es erneut zu einer Krise kommen könnte.“ Sie stützt ihre Besorgnis auch darauf, dass in Griechenland aktuell nicht mehr alle Migranten registriert werden würden. „So“, die Ministerin weiter, „hat damals die Krise 2015 begonnen.“ Sie fordert deshalb einen „Aktionsplan“ für Griechenland“. Wie viele weitere Milliarden Euro wären das noch mal für Deutschland, möchte man spontan dazwischenfragen.
Diese stille Post der Alarmmeldungen ist nun also über Griechenland, Bosnien, Kroation, Slowenien auch in Österreich angekommen, wenn u.a. der niederösterreichische Asyl-Landesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ) den Asyl-Notfallplan verkündet: Die Frühwarnstufe sei erreicht. Der österreichische Innenminister müsse jetzt für verstärkten Grenzschutz sorgen und alles in die Wege leiten, damit die Grenzen auf Knopfdruck geschlossen werden können.
Konkret eröffnet beispielweise die schöne Stadt Karlsruhe gerade die Ausstellung „Kaiser und Sultan. Nachbarn in Europas Mitte 1600-1700“ und schwärmt dort in einer auch historisch kühnen Verdrehung von einer umgedrehten Balkanroute, wenn mal eine Europäerin im 17. Jahrhundert in den Orient flüchtete, dort „freiwillig“ zum Islam konvertiert sei und später als Vermittlerin zwischen Abend- und Morgenland fungiert hätte.
Dass heute eine Reihe von solchen „freiwilligen“ europäischen Frauen in kurdischen Lagern als IS-Frauen sitzen, die gerade von der Türkei angegriffen werden, kommt den Kuratoren solcher unzeitgemäßen Ausstelllungen wohl nicht in den Sinn – Hauptsache es kann von einem dreihundert Jahre alten europäischen Migrantionsschicksal berichtet werden – aber als bizarre Rechtfertigung wofür eigentlich? Für kollektive Verblödung? Die Erklärung ist noch bizarrer als der Zeitpunkt: Damals hätte ungeachtet aller Feind-Propaganda ein „wechselseitiger Austausch und eine gegenseitige Durchdringung der Kulturen“ stattgefunden. Warum? Weil sich August der Starke gerne einen Turban aufgesetzt hat? Deshalb sollen heute also die Unglücklichen der Welt und des Orients 2019 alle zu uns kommen?
Am Endziel der Balkanroute ein Volk traumtänzerischer Idioten? Nein, denn dieses Mal und nach den Erfahrungen von 2015 kann niemand sagen, er wäre überrascht worden. Es wird also – noch präziser als 2015 – eine politische und eine gesellschaftliche Verantwortung und also eine Reihe von Verantwortlichen geben.
Und noch eine Meldung: Der Focus berichtet aktuell davon, dass Migranten auf Güterzügen der Polizei Sorgen machen würden – aber nein, nicht etwa, weil diese so illegal einreisen würden in die Sozialsysteme. Sorgen macht man sich, dass diese Eisenbahnsurfer sich etwa verletzen könnten. Wäre es nicht zu dämlich, gäbe es sicher bald auch Eisenbahnnotrettungen – sponsort bei evangelische Kirche. Noch ein Haken: Jede dieser Kontrollen würde automatisch zu Zugverspätungen führen, die zu vermeiden seien, also kontrolliert man so wenig wie möglich. Das Irrenhaus vom Vogel Strauß.
Und zur Wahrheit gehört auch, dass Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Rentner auf niedrigere Leistungen in der Zukunft einstimmt: Die Renten stiegen seit sechs Jahren oberhalb der Inflationsrate. Das sei ein großes Geschenk. „Zur Ehrlichkeit gehört, dass wir nicht versprechen können, dass das auf ewig so weitergeht“, sagte der Minister. „Auch in der Rentenkommission setzt sich langsam die Einsicht durch, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Wer heute ein stabiles Rentenniveau für die Zukunft verspricht, muss auch sagen, wie er das bezahlen will.“
Die Sozialsysteme sind eben nicht belastbar; was an der einen Stelle zusätzlich ausgegeben wird muss angesichts der ohnehin grotesk hohen Steuern und Abgaben woanders eingespart werden.