Unsere Gesprächspartnerin ist 90 Jahre alt und wohnt schon seit der Flucht ihrer Familie aus Niederschlesien in Braunschweig. Vor zehn Jahren verstarb ihr Mann, seitdem bewohnt sie ihre Wohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses alleine. Wenn sie sich reckt, erzählt sie lächelnd, dann kann sie von ihrem Balkon aus ein Stück des Brockens sehen: „Aber nur, wenn das Wetter stimmt.“
Wir wollen von der rüstigen Dame wissen, wie es ihr in Zeiten von Corona geht und was ihr in diesen stürmischen Zeiten noch so durch den Kopf geht, welche Erinnerungen sie jetzt hat, die ihr sonst vielleicht nicht so präsent sind. Dabei staunen wir über ihre Erzählfreude und Energie. Selbst nach einer knappen Stunde muss man nicht das Gefühl haben, dass es ihr zuviel wird, uns als Jüngeren zu berichten.
Was machen Sie gerade?
Ich bin gerade reingekommen, ich hatte den Mülleimer runtergebracht. Unten bin ich noch ein paar Schritte gelaufen.
Sind Sie wem begegnet?
Da haben wir schon die letzten Tage immer lachend Abstand genommen.
Sie waren gestern noch einkaufen, wie würden Sie die Stimmung beschreiben? Hat sich etwas verändert außerhalb Ihrer Wohnung? Was sagen Sie zu den Hamsterkäufen?
Sie waren zuhause die Älteste von sechs Kindern. Drei ihrer Geschwister sind verstorben, eine Schwester an der Grippe …
Die Kleine ist innerhalb von zwei Tagen gesund und tot gewesen. Ich habe das ja alles irgendwo mitbekommen als Vierjährige. Noch früher sind meine beiden Zwillingsbrüder wenige Tage nach ihrer Geburt verstorben. Die Frauen bei uns im Dorf haben später erzählt, dass ich als kleines Mädchen die Dorfstraße runtergelatscht bin und ich hätte so getan, als würde ich an jeder Hand ein Geschwisterkind führen. Auf Nachfrage sagte ich damals wohl, ich ginge mit den Zwillingen spazieren. So etwas hat sicher etwas im Menschen angelegt, da bin ich sicher.
Und meine Schwester, als die verstarb, kaum etwas mehr als ein Jahr alt, da kam die Frau aus dem Dorf, die immer kam, wenn jemand verstorben war, um zu helfen bei der Wäsche der Toten, genauso, wie es auch eine gab, die quasi Hebammenaufgaben übernommen hatte.
Die Kleine war so fröhlich, das erinnere ich noch. Sie war ein Kind, von dem es immer hieß, dass mein Vater so vernarrt in die Kleine war. Als die dann starb, da hat mich dann eine Nachbarin mit hingenommen, da wo der Leichnam aufgebahrt lag. So zwischen zwei Stühlen stand ein kleiner weißer Sarg, den der Tischler des Dorfes gefertigt hatte. Und da lag sie dann und Mutti hatte ihren Brautschleier drübergelegt, damit die Fliegen nicht ran kommen.
Später kam meine Großmutter, die entfernter wohnte, um die Mutti ein bisschen zu unterstützen und die hat dann mit Blick auf mich gesagt: „Das Kind geht ja hier kaputt.“ Daraufhin habe ich den fünften Geburtstag bei meiner Großmutter verbracht.
Woran genau starb ihre Schwester?
Das war eine Lungenentzündung. Früher konnte man dagegen nichts tun. Da gab es noch kein Medikament dagegen. Meine Mutter hat mir einmal gesagt, was die Zwillinge betraf: „Wenn man ein Kind geboren hat, möchte man es auch behalten.“
Also gab es keine Antibiotika oder ähnliches.
Nein, nein.
Wenn Sie das heute erleben mit dem Corona-Virus, wie gehen Sie damit um, wenn Sie selbst schon über 90 Jahre alt sind?
Da stehen Sie dann nicht auf dem ersten Platz …
Nee, das bestimmt nicht. Und ich sage mir, sicherlich würde man lieber sterben wie eine Freundin von mir, die gestern mit fast Hundert eingeschlafen ist. Die Nachricht hatte ich auf dem Anrufbeantworter. Ich hatte vorgestern noch versucht anzurufen, um zu fragen, wie es ihr geht. Da habe ich schon geahnt, dass etwas nicht stimmen könnte.
Aber Ihre Freundin verstarb nicht an Corona?
Ja, das ist durch das Alter, sie konnte nicht mehr schlucken, nicht mehr essen und künstlich ernähren, das will man ja nicht.
Was Krankheiten und Epidemien angeht, woran können Sie sich in ihrem Leben noch erinnern?
Auf jeden Fall war das früher alles viel gefährlicher als heute. Ich weiß nur, dass in unserem Dorf ein Arzt war, der kam aus der Stadt, der war, wie soll ich es sagen, der war ein bisschen hemdsärmlig, aber sehr gut. Und der hat mich ja viel behandelt, weil ich ja fast jedes Jahr vier Wochen im Frühjahr und vier Wochen im Herbst vereiterte Mandeln hatte und Erkältungen. Da musste ich dann zu Hause bleiben. Da fehlte ich immer in der Schule.
Wie war das denn damals mit der Gesundheitsvorsorge Anfang der 1930er Jahre außerhalb der Stadt?
Da war ich zu klein, um das genau zu wissen. Ich weiß nur, als mein Bruder 1933 geboren wurde, da hat Mutti immer versucht uns Kinder gut zu ernähren, da weiß ich, dass ich viele Mohrrüben und Äpfel reiben musste, auch später für meine jüngere Schwester. Für meinen Bruder musste ich immer Kalzan-Tabletten zerdrücken und auflösen.
Wurde denn später vom Staat aus mehr auf Gesundheit geachtet?
Ich weiß jetzt nicht, ob das einmal im Monat war oder einmal im Vierteljahr. Jedenfalls gingen die Frauen mit ihren Babys zu einer Untersuchung. Es gab ja in den Dörfern selbst keine Ärzte oder nur wenige, die hatten ja meistens mehrere Dörfer. Und da kam dann die so genannte braune Schwester. Das war eine Frau, die half auch den Wöchnerinnen und gab Ratschläge und Pflegetipps für die Kinder. Die machte glaube ich auch diese Untersuchungen für die Babys.
Sind sie auch geimpft worden?
Ich weiß nur, dass das gegen Windpocken war, die anderen Impfungen kamen ja alle erst später.
Sie sind jetzt über 90 und machen immer noch diese Grippeschutzimpfungen …
Ja, schon länger. Ich bin ja durch meinen Mann so vorsichtig geworden, weil der so furchtbare Angst hatte, wieder krank zu werden. Der wurde ja fast hysterisch bei einem Anklang von Erkältung. Er hatte ja Tuberkulose durch die Gefangenschaft.
Sie hatten auch Typhus damals …
Ja, das war die Folge der Hungerei und der Gefangenschaft, der Tscheche hatte uns ja ins Lager gesperrt. Typhus bekam ich dann erst in Wurzen im Flüchtlingslager. Vorher musste ich ja immer stark sein für den Rest der Familie schon als 15-, 16-Jährige.
Also hatten Sie Typhus schon in relativer Sicherheit?
Nein, denn nachts kamen die Russen immer ins Lazarett.
Was ist Typhus genau?
Ich weiß nur, dass man von Hungertyphus sprach. Und ich hatte erst den so genannten Paratyphus B, ich weiß nicht, was das heißt. Und später dann wurde ich verlegt, da hatten wir alle unsere nassen Sachen an, die kamen gerade aus der Desinfektion – also feucht waren die – und dann wurden wir in offenen LKW durch die Gegend gefahren ins nächste Haus. Dabei habe ich dann noch den richtigen Typhus obendrauf bekommen. Typhus ist eine Darmkrankheit. Da sind dann Geschwüre im Darm. Die Vernarbungen sind später lebenslang Gefahr für Krebs.
Nun sind sie schon über 90 Jahre alt geworden trotz früherer schlimmer Krankheiten …
Ich glaube schon, dass das wohl auch schon an den Genen liegen kann und eben auch dadurch, dass meine Eltern, dass sich meine Mutti so auf ihr erstes Kind gefreut hat. Die hat ja immer gesungen. Die war von früh bis abends fröhlich. Ich glaube schon, dass das mitspielt für die ganze Gesundheit und Seelenlage. Das ist wichtig in den ersten Jahren des Kindes oder auch schon während du noch gar nicht geboren bist. Da sagt man ja, dass die Kinder mehr mitbekommen, als man bisher wusste.
Was hatten Sie noch an Krankheiten?
Ich hatte eigentlich alles was es gibt, von Masern bis ständig die Grippe. In unserem Dorf waren auch mal die Schulen geschlossen. Ich glaube wegen Masern oder Diphtherie. Aber Diphtherie hatte ich nie, das fehlt gerade noch.
Damals gab es schon Schulschließungen?
Ja, ich bin 1936 eingeschult. Da wurde irgendwann zugemacht. Kann aber auch sein, dass einfach nur der Lehrer erkrankt war. Aber ich weiß auch noch, dass wir immer zwei Schulstudenten hatten, die waren beim Müller untergebracht, da kam es nicht so drauf an, was Essen betrifft und so, die waren auch nicht so anspruchsvoll. Die haben uns dann immer unterhalten, beispielsweise mit einem Mundharmonika-Orchester. Oder die haben mit uns so Köpfe aus Papiermatsch für Kasperpuppen gebastelt. Und die braune Schwester die hat mit uns aus Tannzapfen gebastelt, da wurde drum herum gehäkelt, da konnte man dann noch alles mögliche reinstecken, oder wir haben aus hartem Papier so Tüten gebastelt, da wurden die Haare, die man sich auskämmt, gesammelt, damit sie nicht irgendwo rumflogen oder ins Abfallwasser kamen, das für die Tiere verwendet wurde.
Viele – aus ihrer Perspektive – jüngere Leute heute haben ja in ihrem Leben nicht viel Schlimmes erlebt, nun kommt Corona samt Angst und Ausgangssperre …
Wie ist Ihnen das mit Corona gegangen? Wann haben Sie das zum ersten Mal konkret wahrgenommen?
Ich muss immer sagen, es kommt ja auch darauf an, dass der Fotograf oder der Journalist, der da irgendwas erzählt, da kommt es ja auch immer darauf an, was die selber für Erinnerungen und Vorstellungen haben, was ihnen vielleicht der Großvater mal erzählt hat. Und je nachdem, woher du kommst und was Du gehört hast, wirst du auch die heutige Situation verschieden beleuchten.
Haben Sie einen Tipp für Jüngere, wie mit der aktuellen Krise umzugehen ist, viele werden da ja schon hysterisch bis hin zum Hamstern von Toilettenpapier …
Das mit dem Toilettenpapier, da weiß ich ja selber wie das gewesen ist, als wir nichts hatten oder auch wie das ist, wenn man immer in den selben Sachen rumlaufen muss. Ich hatte auf der Flucht meine Frauengeschichten, glauben sie mal nicht, dass man da viel machen konnte. Noch früher hat man sich Stoffbinden machen müssen, das war noch so, als ich in der Lehre war nach dem Krieg. Da gab es diese Wegwerfvorlagen noch nicht.
Konkrete Tipps?
Da wüsste ich auch nicht so recht, was ich da sagen sollte, was darüber hinausginge, eine Vorratshaltung zu empfehlen. Bei der Koreakrise (Red.: Koreakrieg 1950-53) hatte ich schon eine Kiste stehen, mit allem, was sich so hält. Auch im Garten kann man viel machen. Wenn beispielsweise zu viel Äpfel da sind, dann kann man die samt Mohrrüben einbuddeln. Erst rundum Laub vorher, damit die nicht gleich in der Erde faulen. Ich kenne die Mieten auch noch für Kartoffeln, die wurden erst mit Stroh abgedeckt, aber nicht dick. Und dann Erde drauf und als letztes einen Sack davor. Da buddelte man im Winter immer mal welche aus.
Was haben Sie selbst bei Netto gehamstert jetzt?
Ich wollte Gries und bat eine Nachbarin, mir welchen mitzubringen. Da musste ich lachen, denn sie brachte Maisgrieß mit. Den kannte ich noch aus den Ami-Paketen, denn die hatten das deutsche Wort KORN falsch verstanden. Was bei uns Weizen oder Roggen meint, war da Mais. Die haben ein anderes Wort für unser Korn. So kam dann hier alles aus Mais an: Maisbrot, Maismehl und eben Maisgries.
Corona ist ja das eine, viele Sorgen sich auch um die Wirtschaft, was wissen Sie darüber?
Ich bin der Meinung, dass das sowieso gewollt ist. Mir liegt es näher, dass das Forschern entwichen ist, als diese Geschichte mit den Fledermäusen aus China, die das angeblich übertragen hätten. Da ist doch etwas schief gegangen in einem Forschungslabor in China. Da ist etwas rausgedrungen, das die noch nicht im Griff hatten.
Ist das nicht erstaunlich, was die Menschheit in den letzten 90 Jahren alles geschafft hat bis hin zum Smartphone mit Touchscreen und trotzdem bekommt man so ein Virus so schwer in den Griff …
Ich sage ja immer, die Forschung für Technik und für weiß ich was, die ist ja wichtig, aber die sollten auch nicht vergessen, eben solche Forschungen zu unterstützen. Wenn ich mir vorstelle, dass der amerikanische Präsident das alles kaufen will hier das ganze Wissen mitsamt den Patenten, die haben doch genug Patente nach dem Krieg geerbt und die Russen den Rest. Da gibt es doch diesen Witz, wo sich die Amis und die Russen auf dem Mond treffen und englisch bzw. russisch sprechen und dann auf der von der Erde abgewandten Seite des Mondes sich gegenseitig auf die Schulter klopften: „Na, jetzt können wir wieder deutsch sprechen.“
Was sagen Sie zu der drohenden Ausgangssperre? Erinnern Sie sich an so etwas?
Nein, höchstens damals, als die Deutschen in der Tschechei so gejagt wurden, da sind die schon von alleine zu Hause geblieben.
Es hieß irgendwo, Merkel hätte mit der Ausgangssperre so lange gewartet, um die Alten nicht zu gefährden, dass die sich womöglich aus Einsamkeit das Leben nehmen …
Sie hat schon Recht, Merkel hat es vielleicht nicht so scharf ausdrücken wollen. Aber die Leute würden doch tatsächlich verhungern ohne Hilfe. Schauen sie mich an, ich kann nicht mehr so viel schleppen, ohne Hilfe könnte ich ja zuhause verhungern. Davor haben Alte sehr Angst. Noch mehr, wenn sie behindert sind als alte Menschen oder gar auf tägliche Pflege angewiesen und jeden Tag neu eingepackt werden müssen. Bei einer Ausgangssperre wird das für diese Menschen ja noch furchtbarer. Ich bin der Meinung, dass das so lange wie möglich nicht sein darf mit der Ausgangssperre, wenn doch die Leute nur nicht so doof wären, ihr Bier saufen gehen zu müssen.
Die meisten Menschen wissen ja heute gar nicht mehr, was Hunger bedeutet, wie präsent ist das bei Ihnen noch, Angst zu haben nicht genug zu Essen zu haben?
Nein, ich muss nicht wer weiß was alles im Haus haben. Ich habe festgestellt, wenn ich nachmittags keinen Kaffee trinke oder Kuchen esse, das stört mich gar nicht mehr. Aber eine Sache fällt mir noch ein, die mir meine Mutter im Flüchtlingslager gesagt hat oder auf der Flucht: „Wenn Du Hunger hast und nichts zu essen, dann musste du überm Nabel reiben oder drücken.“ Dann hat wohl der Magen den Eindruck, es kommt was zum satt werden. Ja, Hunger tut weh, das ist ein alter Spruch, aber das ist tatsächlich so. Dann lassen die Schmerzen nach.
Die Menschen werden heute zu schnell hysterisch. Aber das liegt auch ein bisschen an der eigenen Art. Der eine wird schnell hysterisch und der andere eben nicht.