Nein, Angela Merkel hat sich für eine vorweihnachtliche außerparlamentarische Regierungserklärung einmal nicht Anne Will als öffentlich-rechtliche Erfüllungsgehilfin ausgesucht. Den Zuschlag bekamen diesmal Melanie Amann und Florian Gathmann vom Spiegel. Die beiden sind damit jetzt auch hochoffiziell so etwas wie Merkels Helden des Journalismus, wenn sie sich für die Einladung der Kanzlerin ins Kanzleramt in der späteren Abbildung ihres Interviews erwartungsgemäß dankbar erweisen. Die Kanzlerin höchst selbst gießt dem Spiegel Kaffee ein aus einer hübsch-glänzenden wie praktischen Alfi-Juwel-Cromargan-Isolierkanne.
Die Vermutung liegt nahe, dass es Kaffee ist, weil auf einer der Fotografien von diesem Spiegel-Event mit Kanzlerin eine zweite identische Kanne unberührt bleibt, auf der ein Aufkleber „Schwarzer Tee“ befestigt ist, wohl damit die Kanzlerin es etwas einfacher hat und nicht erst die Nase in die geöffnete Kanne stecken muss, um Amanns und Gathmanns Wunschgetränk wunschgemäß zu servieren.
Erlauben Sie den Schlenker: Hätte es Siegmar Gabriel ins Kanzleramt geschafft, er hätte möglicherweise jenen Samowar mitgenommen, aus dem der Harzer daheim seinem Gast, dem türkischen Außenminister, so nett einen eingeschenkt hatte – so hätte er sich die Beschriftung mit dem Casio-KL-130 Beschriftungsgerät gespart oder was für solche Fälle eben rumliegt in der Büroschublade des Kanzleramts.
Melanie Amann stand gerade noch bei Plasberg am Tresen und musste schon am drauffolgenden Morgen den täglichen Morgengruß im Spiegel schreiben – einen Platz, den sie gleich nutzte, um den Leuten schon mal den Mund wässrig zu machen, was sie da Großartiges aus dem Kanzleramt mitgebracht hätte.
Wie wenig es allerdings mit journalistischer Distanz zu tun hat, wenn man schon grundsätzlich aus seiner Kanzlerinnenverehrung keinen Hehl macht und nun also im „Interview“ mit ihr quasi als Dankeschön für den dünnen Kanzleramtskaffee (siehe Fotografie bei Spiegel Online), die Stichworte auf eine Weise willfährig anreicht, dazu gleich mehr im Detail.
Kurz noch zu Florian Gathmann, der ein begleitendes Video quasi als dramaturgischen Neugierigmacher, also als Trailer zum Interview aufgenommen hat, und dem man die Aufregung auch Stunden nach dem Abgang aus der Sitzecke unterm Adenauerporträt und dem Schütteln der rechten Hälfte der Raute noch anmerkt, wenn er über sein so frisches Erlebnis aus der Willy-Brandt-Straße 1 erzählt:
„Sie wird viel emotionaler, wenn man mit ihr über bestimmte Dinge aus dieser Zeit (DDR) spricht. Sie fängt dann auch an, so ein bisschen ihre Sprache zu verändern. Da kommt dann sozusagen so das Brandenburgische durch. Also man merkt, man spricht dann wirklich mit dem Menschen Angela Merkel und nicht mehr unbedingt mit der Bundeskanzlerin.“
Himmel, was ist das? Nur herzzerreißend oder schon richtig hochnotpeinlich, wenn Gathmann hier in bester Küchenpsychologie eine ganz neue Nähe zwischen Merkel und den Spiegelleuten (emotional aufgemacht) erzählen will, die doch jedem längst klar ist. Die journalistisch beeindruckendere Gathmann-Nachricht wäre beispielsweise gewesen, dass die Bundeskanzlerin dicht gemacht hätte, dass sie schrecklich nervös wurde, weil die richtigen, die ätzenden, die Interview-machenden Fragen gestellt wurden – aber nein, so etwas hat natürlich nicht stattgefunden. Und diese Abwesenheit prägt dann auch einen neuen wie treffenden Begriff, den wir hier einführen wollen: Audienz-Journalismus.
Das Duo plus Kanzlerin rund um die beschrifteten Cromargankannen (Altersheim und Krankenhaus lassen grüßen) spricht zunächst über Merkels Vergangenheit in der DDR – zur Erinnerung: Angela Merkel ist 65 Jahre alt, sie lebte also die längste Zeit im deutschen Sozialismus. Und die Bundeskanzlerin weiß auch, was gewesen wäre, wenn es denn Mauerfall nicht gegeben hätte. Dann wäre sie als DDR-Rentnerin reisefähig gewesen und in die USA gereist, um die Rocky Mountains zu sehen und in einem Fahrzeug – „was Besseres als ein Trabant“ – durch die Staaten gefahren und hätte Bruce Springsteen gehört, plaudert sie mit dem Spiegel. Die Nostalgierunde geht da weiter, wo Merkel befindet, dass manches Alte (DDR) vom neuen Leben (BRD) überschrieben wurde, das jetzt 30 Jahre später als Erinnerung wieder hochkäme. Amann oder Gathmann dazu: „Und jeder erinnert sich anders – manche wirken dabei sogar richtig nostalgisch.“
Ja, so „präzise und kristallklar“ geht Journalismus heute. Noch schöner, wenn Amann oder Gathmann über die AfD als „eine fremdenfeindliche, in Teilen faschistische Partei“ sprechen und das für Merkel wohl zu plump war, weshalb sie in ihrer Antwort schnell darüber hinweghuscht, als könne man das Geplapper ihrer Helden des Journalismus dadurch eventuell ungeschehen machen wie eine besorgte Mutter, die was besser weiß.
Aber der Ausflug in die düstere DDR-Vergangenheit hat in dieser Gesprächsrunde wohl auch eine Aufgabe. Es geht wohl darum, zukünftige Einschränkungen der Freiheiten des Einzelnen entlang dieses nostalgisch-schönen DDR-Kollektivs in die Gegenwart und Zukunft zu überführen, wenn Merkel weiter sagt:
„Grundsätzlich gibt es beim Blick auf die DDR eines, was viele Westdeutsche so schwer verstehen: dass es auch in einer Diktatur gelungenes Leben geben konnte. Dass wir also Freunde und Familien hatten, mit denen wir trotz des Staates Geburtstage und Weihnachten feierten oder Traurigkeit teilten, natürlich immer in einer gewissen Wachsamkeit vor dem Staat.“
Rätselhaft bleibt Angela Merkels gestörtes Verhältnis gegenüber ihren ehemaligen Mitbürgern aus der untergegangenen DDR, wenn sie zwar Anerkennung über hat für die „friedliche Revolution“, aber kaum Verständnis für die sensiblen Antennen ihrer ehemaligen Landsleute und deren Nachfahren – wohl, weil diese Antennen seit Jahren im Wesentlichen auf die Massenzuwanderungspolitik und also gegen die Kanzlerin ausgerichtet sind – nein, nicht, weil es in Mitteldeutschland so viele zugewanderte Migranten gäbe, sondern weil die Menschen die Verhältnisse in ganz Deutschland im Auge haben. Und hier insbesondere auf die Zustände im Westen schauen, wo eine jahrzehntelange muslimische Migrationsgeschichte auch viele Verwerfungen sichtbar gemacht hat.
Merkels Blick auf diese ostdeutschen Querulanten ist zynisch, wenn sie ihnen eine Kritik an ihrer Politik nicht zubilligt und erklärt:
„Auch wenn man mit dem öffentlichen Nahverkehr, der ärztlichen Versorgung, dem staatlichen Handeln insgesamt oder dem eigenen Leben nicht zufrieden ist, folgt daraus kein Recht auf Hass und Verachtung für andere Menschen oder gar Gewalt. Gegenüber solchem Verhalten kann es keine Toleranz geben.“
Der Ostdeutsche hasst Menschen, weil es bei ihm mit dem öffentlichen Nachverkehr nicht klappt? So viel Verachtung muss man erst einmal hinbekommen für die eigenen Leute.
Amann/Gathmann finden, dass viele Ostdeutsche enttäuscht sind von der Kanzlerin und deshalb AfD wählen. Aber was für Kategorien sind das? Enttäuscht ist man vielleicht von einem Lebenspartner, mit dem es nicht mehr klappen will oder von einem Arbeitgeber, so man einen hat. Von der Politik einer Kanzlerin kann man nur enttäuscht sein, wenn man jemals Hoffnung in sie gesetzt hätte. Wer würde in Abrede stellen wollen, dass einfach ein Teil der Deutschen die Politik der Kanzlerin als Katastrophe für das Land empfindet, in dem sie und ihre Vorfahren schon länger leben?
Diese klare Haltung ist absichtsvoll emotionalisiert worden, als diese Gegenposition gemeinsam von der Politik, den Medien und weiteren Playern zu etwas Unerwünschtem erklärt wurde, als zuletzt AfD-Wähler sogar mitverantwortlich gemacht wurden am Amoklauf mit rechtsradikalem Hintergrund in Halle. Was sagt die Kanzlerin dazu? Und was wird von Amann/Gathmann erwartbar nicht hinterfragt?
„Wir leben in Freiheit, die Menschen können sich entsprechend äußern und wählen. Ich war ja zu Beginn meiner politischen Karriere gleich vierfach Minderheit in der CDU: jung, weiblich, protestantisch und ostdeutsch.“
Angela Merkel stand also schon mal auf der düsteren Seite der politischen Erdhalbkugel dieses Landes? Aber was soll das dann bedeuten? Dass sich die AfD und ihre Wähler keine Sorgen machen sollen, weil jeder doch einmal Kanzler werden könne auch aus dem größtmöglichen Abseits heraus?
Diese Verknüpfung ist eindeutiges Ergebnis des Bestrebens von Angela Merkel, wenn sich die Situation im Land soweit zuspitzt, dass sogar eine Fundamentalkritik an der Kanzlerin selbst den Kritiker bereits ins Abseits stellt. Wenn letztlich Merkelkritik dazu führen kann, dass man Kirchentage nicht mehr besuchen darf (so man das überhaupt mag), dort als „gottlos“ benannt, im Betrieb von der Gewerkschaft behelligt, im Kindergarten als Eltern politisch ausspioniert wird oder wie erwähnt, anstatt Dinge über den Gartenzaun hinweg zu besprechen, man nun vom Nachbarn beim Verfassungsschutz gemeldet werden soll.
Der Feind hört mit – aber Angela Merkel erklärt Melanie Amann unwidersprochen unverdrossen:
„Nachfragen muss man dann aber auch aushalten. Und gegebenenfalls sogar einen sogenannten Shitstorm. Ich habe das ja auch schon erlebt. Das gehört zur Demokratie dazu.“
Nein, es gehört viel mehr zur Bundeskanzlerin und weniger zur Opposition bzw. zum verhassten Oppositionsführer, deren erste Aufgabe es in einer funktionierenden Demokratie sogar sein muss, eine anhaltend scharfe Kritik an der Regierungsarbeit zu üben. So wie auch die Presse als vierte Gewalt eine Aufgabe hätte.
Abschließend empfiehlt die Kanzlerin ihren Landsleuten mit denen sie in der DDR gelebt hat:
„Man muss halt schon klar und deutlich und manchmal ein bisschen laut sein, um Karriere zu machen – da kann ich uns Ostdeutsche nur ermuntern.“
Ein bisschen laut sein, um Karriere zu machen? Nun sind die Ostdeutschen allerdings mehr als nur ein bisschen laut geworden, aber nicht um Karriere zu machen in diesem seit 30 Jahren wiedervereinigten Deutschland, sondern um zu warnen: Vor der Politik einer Bundeskanzlerin, die die längste Zeit ihres Lebens in einer Diktatur verbracht hat und von der „ihre“ Ostdeutschen nun fürchten, sie würde meinen, was sie sagt, wenn sie ein bisschen Diktatur und geteilte Traurigkeit doch auch ganz romantisch findet, wenn sich die Ostdeutschen mal bloß nicht so haben sollen.
Merkel sagt im Interview mit dem Spiegel, die Ostdeutschen würden in einer Art Trotzreaktion auf die Ignoranz des Westens heute wieder sagen: „Unser Leben in der DDR kann uns niemand nehmen.“ Möglich, aber viel bedeutender und für die Politik der Kanzlerin bedrohlicher ist doch eine ganz andere Reaktion, die sich aus den kollektiven Lebenserfahrungen unter einer Diktatur speist und die noch viel genauer schaut, was die Politik dieser Kanzlerin aus dem erfolgreichen und beinahe schon glücklichen Land von 2006 gemacht hat. Damals, als die ganze Welt zu Gast in Deutschland war. Nein, nicht um hier zu bleiben und dann bald die Familie nachziehen zu lassen, sondern um mit diesen aufgeschlossenen Deutschen gemeinsam zu feiern, so lange, wie die Ferien, wie der Urlaub eben dauert und wie lange das Geld ausreicht, das zur Finanzierung dieser schönen Tage in Deutschland aus dem Heimatland mitgebracht wurde.