Der Stern titelte 2009 anlässlich der Verleihung des Henri Nannen Preis für Pressefreiheit: „Nervensäge im Dienst der Demokratie“. Die Nervensäge war Robert Ménard, einer der Gründer und jahrzehntelanger Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen (Reporters sans frontières). Arte sendete jetzt eine dreißigminütige Dokumentation über den heute 64jährigen Franzosen. Anlass war aber nicht sein vielfältiges Engagement für Pressefreiheit. Denn 2008 verließ Ménard die NGO. Nein, der Journalist mit der linksaktivistischen Vita ist heute Bürgermeister von Béziers, einer fünfundsiebzigtausend Einwohner großen Stadt im Departement Hérault, 14 Kilometer entfernt vom Mittelmeer. Touristen kommen hierher, um sich die hoch über der Stadt auf einem Felsen gelegene Kathedrale von Béziers und die wuchtige Pont Vieux über dem Orb anzuschauen.
Auch in Deutschland sind solche biografischen Rechtsdrehungen bekannt. Besonders gut illustriert das eine Aufnahme des ehemaligen RAF-Anwalts Otto Schily, als der sich als Bundesinnenminister mit Polizeihelm und Polizeiknüppel fotografieren ließ. Vielfach extremer noch der Wandel eines Kollegen von Schily, dem seit Jahren wegen Volksverhetzung inhaftierten Anwalt und RAF-Mitbegründer Horst Mahler. Nun hatte Schily eher mit der konservativen Idee kokettiert, und Mahler ist ein rechtsextremer Antisemit. Aber dazwischen gibt es eine Bandbreite weiterer ehemaliger Linker, die auch in Deutschland den Weg Robert Ménards gegangen sind. Irritierend? Nein, denn wer sollte die Verwerfungen linker Politik besser reflektieren, als jene, die sie maßgeblich mitbestimmt haben – vorausgesetzt, es sind Zweifel vorhanden. Und diese Zweifel sind bei Robert Ménard offensichtlich schwergewichtig geworden.
Der Bürgermeister weiß als gelernter Journalist und ehemaliger führender NGO-Stratege, wie man jene Klaviatur bedient, die Medienaufmerksamkeit erzeugt. Regelmäßig schockiere er, so arte, die Öffentlichkeit mit provokanten Aktionen und polemischen Äußerungen. „Seinen Wählern versprach er eine kleine Revolution – und er ließ Taten folgen: Er renovierte das Stadtzentrum, gestaltete ganze Viertel neu, verhinderte die Eröffnung von Community Cafés per Gesetz, ließ allen Widerständen zum Trotz eine Weihnachtskrippe aufstellen und verdoppelte das städtische Polizeiaufgebot.“
Arte zeigt das alles durchaus mit anerkennenswerter Ambivalenz. Hier sind Journalisten am Werk, die einfach ihre Arbeit machen. Ja, so etwas ist heute erwähnenswert. Und sie machen es möglicherweise auch deshalb, weil das Objekt ihrer Begierde zu den Besten ihres Fachs gehört und als ehemaliger erfolgreicher linker NGO-Führer für nicht wenige aufstrebende Journalisten Vorbild und Leitbild gewesen ist.
Nun kommen bei arte auch seine Gegner zu Wort. Wenn der erste allerdings gleich vor einer roten Hammer-und-Sichel-Flagge und einem Porträt Che Guevaras interviewt wird, dann sind dessen Angriffe gegen den Bürgermeister bereits aus der neutralen Ecke in die ideologische befördert und weniger wert. All das zahlt ein für Robert Ménard. Ebenso, wie Gespräche mit einem innerstädtischen Oppositionspolitiker, der das Filmteam hoch über die Stadt zur Kathedrale führt und dort ausgerechnet eine für zehntausend Euro golden angemalte Statue als Beleg für „falsche Investitionen“ anbieten. Hier weiß jeder Zuschauer: das sind Peanuts.
Der Che-Gevara-Freund führt das Team in so etwas, wie die Bézierser Miniaturausgabe der Pariser Banlieues, dieser rechtsfreien von muslimischer Kultur geprägten und von der Hauptstadt-Polizei aufgegebenen Viertel. In Béziers sehen die Armenviertel ebenfalls verfallen, verschmutzt und heruntergekommen aus, aber viel weniger bedrohlich. Hier sollte die Stadt investieren, fordert der Kommunist vom Bürgermeister. Der wiederum diskutiert das aber gar nicht lange, sondern führt das Team in eine frisch renovierte wiedereröffnete innerstädtische Schule: Viele kleine überschaubare Lerneinheiten versus großer Schulverwahranstalten am Stadtrand. Das alles überzeugt. Noch mehr, wenn sich der Bürgermeister – nicht im Anzug, wie andere Politiker, sondern in seiner Barbour-Jacke – mit dem Hausmeister der Schule über eine Schwachstelle der Renovierungsarbeiten beugt und sogleich die Handwerker herzitiert. Der Nimbus des Anpackers. Das Prinzip ist klar: Die Stadt soll von ihrem Kern aus saniert werden. Von dort her, wo die Touristen ankommen, wo sie sich umschauen und wo sie, wenn es schön ist, länger verweilen, also Geld ausgeben wollen. Hier sollen Mehreinnahmen generiert werden, die dann auch Investitionen in den Außenbezirken nutzen.
Robert Ménard kennt also Armut und Elend. Aber er schaut heute anders auf diese Zeit, erwähnt, dass die verfallenen Elendsquartiere einst durchaus begehrte Wohnstätten waren. Wer hier einziehen durfte, empfand das durchaus als Privileg so wie Familie Ménard.
Wie sehr Robert Ménard von seiner Kleinstadt aus die politische Szene aufwühlt, belegt auch die deutsche Berichterstattung, wenn die WELT Ménard noch 2015 den „rechtsextreme(n) Bürgermeister“ nannte, wo 2018 auf arte ein durchaus differenziertes Bild gemalt wird. Von „rechtsextrem“ keine Rede mehr. Was die Welt damals empörte, war die Behauptung Robert Ménards, dass 64,6 Prozent der Schüler seiner Stadt Muslime seien. Da nun aber in Frankreich Religion reine Privatsache ist, werden hierzu normalerweise auch keine Daten erhoben. Also fragte man ihn, woher er die Daten hätte: Schulklasse für Schulklasse würden die Vornamen der Kinder erhoben. „Ich weiß, dass ich dazu kein Recht habe. Aber – Pardon, dass ich das sage – die Vornamen geben Aufschluss über die Religion. Wer das Gegenteil behauptet, ignoriert das Offenkundige.“
Die Staatsanwaltschaft ermittelte damals wegen illegalen Sammelns von Daten nach ethnischen Kriterien. Robert Ménard ist immer noch Bürgermeister. Und seine Widersacher tun sich sichtbar schwer, die Arbeit des heute Konservativen zu diskreditieren.
Bemerkenswert übrigens auch der unterschiedliche Blickwinkel für die beiden arte-Zuschauergruppen schon im Titel der Dokumentation. Heißt es für die französischen arte-Freunde noch: „Regards Robert Ménard – Populiste dékomplexé“, soll es für den deutschen Betrachter bitte eindeutiger sein: „Die Wende des Robert Ménard – von der linken Ikone zum Rechtspopoulisten“.
Übrigens: Sogar Macron höchst selbst, so erzählt es jedenfalls der Film, soll Parteimitgliedern abgeraten haben, mit Robert Ménard öffentlich aufzutreten, geschweige denn, mit ihm zu diskutieren. Macron weiß um die Wirkung von Auftritten in den Medien. Und er erkennt den Profi.