Mit 89 Jahren, könnte man denken, hat man andere Probleme, als sich mit der deutschen Tagespolitik auseinanderzusetzen. Und so ein Gespräch mit einer 89-Jährigen beginnt auch meistens mit einer Art Ritual: Man fragt, wie es geht und hofft für die alte Lady, dass die Liste der Gebrechen nicht wieder so umfangreich sein möge wie beim letzten Mal. Nun ist so ein langes Leben aber viel mehr, als nur ein Anhäufen von Krankheiten. Im besten Falle trifft man auf ein erstaunliches Reservoir an Wissen und Weisheit.
„Nun lassen Sie doch mal die Merkel in Ruhe. Ich kann das nicht mehr hören!“, erklärte mir die Gesprächsfreudige auf dem Weg von Edeka zurück zu ihrer bescheidenen Erdgeschoss-Wohnung in einem zweistöckigen Haus, das auf den Abriss wartet, also auf das Ableben der alten Dame. Das Geschoss über ihr ist schon seit Jahren unbewohnt und wird nicht mehr vermietet. Ich half ihr einmal einen ollen Kohleofen wieder in Gang zu bringen. Dabei erzählte sie von ihrer Jugend irgendwo im Niederschlesischen. Sie war eine ganz junge BDM- oder Jungmädel-Führerin. Jedenfalls präsentierte sie zwischen Kaffee und einem schmalen Streifen trockenen Streuselkuchen irgendeinen ledernen Knoten samt Tuch und Hemd, Uniformteile, die sie irgendwie durch Krieg und Vertreibung gerettet hatte. Noch heute pflegt sie Kontakte zu ebenfalls schon steinalten BDM-Führerinnen, erzählte sie stolz. Aber wohl weniger, um der Ideologie dahinter nachzutrauern, als um den Wert sportlicher Ertüchtigung und disziplinierter Lebensweise und Ernährung zu unterstreichen, der ihr so ein langes Leben beschert hätte.
Sie tut doch alles Mögliche
Ist das eine gute Erklärung für den hohen Zuspruch, den Partei und Kanzlerin nach wie vor im Wahlvolk genießen? Dass Angela Merkel ihr Bestes gibt als Kanzlerin eines europäischen Mittelstaates in diesem unübersichtlichen Orchester internationaler Verpflichtungen und Herausforderungen, noch dazu inmitten einer entfesselten Globalisierung, die ebenfalls politische Entscheidungen diktiert? DIe Lebenserfahrung der alten Dame besagte also offenbar, dass souveräne Entscheidungen kaum möglich seien. Oder wie es ihr Vater erklärt hatte: Politik ist ein schmutziges Geschäft. Fast hundert Jahre leben in Deutschland hinterlässt hier also die Gewissheit, dass es nicht so weit her ist mit souveränen Entscheidungen. Dass Merkel es nur so gut macht, wie sie eben kann oder darf. Was ist das? Irgendeine hartnäckige NS-Verschwörungstheorie aus den Tiefen der deutschen DNA? Staatliche Souveränität also nur eine leere Worthülse?
Die Süddeutsche fragte noch 2013 „Wie souverän ist Deutschland?“ Und konstatierte tatsächlich: „Auf deutschem Boden existieren offenkundig zwei Staatsgewalten – die deutsche und die amerikanische. Wenn die Deutschen das Schalten und Walten der US-Geheimdienste tolerieren, akzeptieren, respektieren, wirft das die Frage nach ihrer Souveränität auf.“ Ist es mit der Souveränität womöglich so wie mit der Wirtschaft, hat sie sich globalisiert?
Prantls zwei Staatsgewalten
Der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler sieht in der grenzenlosen Digitalisierung eine Ursache für die Korrosion staatlicher Souveränität. So führe Digitalisierung üblicherweise dazu, dass – territoriale und andere – Grenzen eine immer geringere Rolle spielen. Die Rolle des Staates würde so immer weiter relativiert. Logischerweise müsste nun, was Boehme-Neßler beobachtet hat, auch am Amt der Regierungschefin nicht spurlos vorbei gehen. „Der Staat wird eine neue Rolle finden (müssen).“, meint der Rechtswissenschaftler. So klang dann auch Prantls Abschiedslied: „Die Exzesse eines fast mystisch aufgeladenen Staatlichkeit hatten sich im alten, klassischen Konzept von Souveränität niedergeschlagen. Heute sind Deutschland und Co weit entfernt von der absoluten Befehls- und Selbstbestimmungsmacht, von der ‚summa soluta potestas’.“
Und da ist Prantl dann wieder ganz nah bei einer 89-Jährigen ehemaligen BDM-Führerin, die der Bundeskanzlerin schon deshalb ihre Sympathien ausspricht, weil diese gar nicht anders könne, wenn doch andere Mächte in diesem Maße souveräne Entscheidungen beschneiden könnten und würden. Für Prantl ist das dann alles nur eine Ablösung der althergebrachten nebeneinander existierenden Machtsysteme wie Kaiser und Papst, Staat und Kirche.
Kann es also sein, dass dieses erstaunlich hohe Maß an Zustimmung für die Bundeskanzlerin und ihre Partei trotz all der Verwerfungen der letzten beiden Regierungsjahre auch darauf fußt, dass der Bürger sehr wohl realisiert, dass Angela Merkel immer noch das Beste herauszuholen im Stande ist – im Rahmen der arg begrenzten Möglichkeiten einer deutschen Bundeskanzlerin? Arbeitet hier möglicherweise eine tief verankerte Generationen-Erfahrung mit an der vierten Amtszeit Angela Merkels?