In der 169. Sitzung des Deutschen Bundestages am 1. Juli 2020 war unter Punkt 2 eine Befragung der Bundesregierung vorgesehen. Die Bundeskanzlerin muss dem Bundestag dafür Rede und Antwort stehen. Die befragenden Abgeordneten haben jeweils eine Nachfragemöglichkeit. Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Fraktionen machen von der Befragung Gebrauch, ebenso von der Nachfragemöglichkeit.
Die Abgeordneten der SPD, der CDU, der FDP und der Grünen werden hier entsprechend ihrer – nennen wir es mal – fehlenden oppositionellen Energie weitestgehend zu Stichwortgebern der Kanzlerin. Den so genannten politischen Rändern, also der Partei Die Linke und der AfD obliegt es daher, kritisch zu fragen. Die SPD beispielsweise fällt in dieser Fragrunde mehr durch vielfachen Beifall für die Anworten der Kanzlerin auf, als dadurch, für den Bürger einmal kritisch oder gar ätzend die Arbeit der Bundesregierung zu hinterfragen.
Zusammengefasst ergibt sich folgendes Lagebild nach der Fragerunde:
Der Rückzug einer angekündigten Anzeige des Innenministers gegen die taz war Folge eines persönlichen Gesprächs der Bundeskanzlerin mit Horst Seehofer, indem sie ihn an die Pressefreiheit erinnert hat. Angela Merkel erneuert ihr Bekenntnis zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz unabhängig von einer wachsenden Corona-Arbeitslosigkeit. Angesprochen auf eine Million Ausländer in Hartz-IV, davon 100.000 länger als 15 Jahre, mag die Kanzlerin hier keine Problemstellung erkennen. Schon die Frage sei aber auf eine Spaltung der Gesellschaft angelegt. Wer darüber spräche, sei demnach per se verdächtig.
Der FDP verpricht Angela Merkel, sich nach der Sommerpause u.a. noch intensiver um die Digitalisierung zu kümmern.
Interessanter wird es in Sachen Seenotrettung, als die Kanzlerin von einer Grünen auf Kurs gehalten werden soll, sich aber sträubt und bestätigt, was in den letzten Jahren allerdings von Politik und Medien fast durchgängig als rechtspopulistisch ausgelegt wurde: Seenotrettung sei immer nur die zweitbeste Lösung. Es gelte zu verhindern, dass Menschen sich überhaupt so in Gefahr bringen.
Zuletzt kommt sie um eine Antwort auf die Frage nicht mehr herum, warum sie mit zweierlei Maß misst, als es darum gegangen wäre, in Mecklenburg-Vorpommern eine vom Verfassungsschutz beobachtete Linksextreme mit dem Stimmen der CDU zur Verfassungsrichterin zu ernennen, während Angela Merkel in Thüringen de facto eine Neuwahl anordnet, als dort ein FDP-Abgeordneter Ministerpräsident wird mit den Stimmen der CDU aber eben auch der AfD.
Aber lesen Sie selbst nach im transkribierten (teilweise verkürzten) O-Ton direkt aus dem deutschen Bundestag:
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am 01. Juli 2020 im Deutschen Bundestag:
„Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 2 auf: Befragung der Bundesregierung.
Die Bundesregierung hat mitgeteilt, dass heute die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel zur Verfügung steht.“
Dr. Gottfried Curio (AfD) fragt die Bundeskanzlerin:
„Ich frage Sie: Wie kommen Sie dazu, den Innenminister davon abzuhalten, diese Hetze gegen die Leute, die für unseren Staat den Kopf hinhalten, durch Rechtsprechung unterbinden zu lassen? Reichen Ihnen 19 verletzte Polizisten in Stuttgart nicht?“
„Der Bundesinnenminister hat die Unterstützung der gesamten Bundesregierung und natürlich auch der Bundeskanzlerin dafür, dass er sich hinter die Polizisten stellt, dass Polizisten unseren Schutz brauchen.
(…) Ich unterstütze den Innenminister darin, dass er den Artikel – wir haben Pressefreiheit; das wissen Sie sicherlich – zum Anlass genommen hat, um ein Gespräch mit dem Presserat und mit der taz zu führen, um genau über die Fragen der Grenzziehung zu sprechen.“
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Gottfried Curio:
„Frau Kanzlerin, Sie bringen den Innenminister von seiner Klageabsicht de facto ab: Er kommt mit seiner Meinung zu Ihrem Gespräch und kommt mit Ihrer Meinung wieder heraus.“
Bundeskanzlerin:
„Ich kann dazu nur Folgendes sagen: Ich weiß nicht, was Sie wissen. Ich habe jedenfalls eine Eigenschaft, und die heißt: Ich berichte nicht aus internen Gesprächen.“
Susanne Ferschl (DIE LINKE):
„Ich frage Sie ganz konkret: Was wollen Sie unternehmen, um für gute, sichere und gut entlohnte Arbeit zu sorgen, damit die Menschen und die Beschäftigten in diesem Land keine Zukunftsängste haben müssen?
Bundeskanzlerin:
„(…) Sie haben aber recht: Zum Beispiel bestimmte Beschäftigungsverhältnisse – 450-Euro-Beschäftigungsverhältnisse – sind davon nicht erfasst. Wir bauen hier andere Brücken. Das wissen Sie auch. Es liegen sehr ernste Zeiten vor uns; das muss ich ganz deutlich sagen. Wir reagieren dort, wo es notwendig ist (…) Und trotzdem bleibt es eine sehr ernste Zeit, in der wir leben. Das wird sich auch in den nächsten Monaten noch zeigen.“
René Springer (AfD):
„Für uns als AfD-Fraktion stehen die heimischen Beschäftigen und die, die jetzt ihren Job verloren haben, an erster Stelle. Meine Frage an Sie ist: Stehen diese Beschäftigte auch für Sie und die Bundesregierung an erster Stelle? Sind Sie bereit, von hier ein Signal auszusenden und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz auszusetzen, zumindest aber die Vorrangprüfung wieder einzuführen?“
Bundeskanzlerin:
„Ich bin nicht dazu bereit, dass Fachkräfteeinwanderungsgesetz auszusetzen.“
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
René Springer (AfD):
„Wir haben heute 2 Millionen Ausländer im Hartz-IV-Bezug, wir haben 100.000 Ausländer, die ununterbrochen seit 15 Jahren Hartz IV beziehen. 100.000 Ausländer! Auf der anderen Seite haben wir Beschäftigte, die um 4 Uhr aufstehen und nach 35 Jahren Berufserfahrung zum Mindestlohn arbeiten und die dann noch Steuern zahlen, um diesen Irrsinn zu finanzieren. Was sagen Sie diesen Menschen heute? Wie wird es weitergehen?“
Bundeskanzlerin:
„Ich finde, man sollte nicht schon in einer Frage eine Spaltung der Gesellschaft anlegen, die so überhaupt nicht existiert.“
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der Abgeordnete Gerald Ullrich (FDP) möchte zwischendurch von der Bundeskanzlerin etwas zu digitalen Plattformen und Onlinehandel in der Coronakrise wissen. Die Bundeskanzlern verspricht: „Wir werden über die Sommerpause intensiv daran arbeiten.“
Nicole Gohlke (DIE LINKE):
„Hunderttausende Studierende haben ihre Nebenjobs verloren und können von den Eltern jetzt auch nicht mehr so wie früher unterstützt werden. Bei vielen steht sogar die Frage im Raum, ob ein Studienabbruch droht. (…) Dann frage ich Sie: Welche zusätzlichen Maßnahmen planen Sie zur Unterstützung von Studierenden?“
Bundeskanzlerin:
„Es darf ja nicht der Eindruck entstehen, dass es jetzt kein BAföG mehr gibt. Die Frage war ja nur: Öffnen wir BAföG sozusagen für alle, die betroffen sein könnten? Das wollten wir nicht – auch aus Gründen der Ordnungspolitik, sage ich jetzt mal. (…) Seitdem ich Bundeskanzlerin bin, ist die Zahl der Studierenden an deutschen Hochschulen rasant gestiegen. Das kann also keine so schlechte Politik gewesen sein; da stimmen Sie mir sicherlich zu.“
Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
„Im Rahmen des 20. Flüchtlingsschutzsymposiums hat der Parlamentarische Staatssekretär Stephan Mayer – er ist auch heute anwesend – gesagt, dass er es für falsch hält, dass die evangelische Kirche mit einem eigenen Schiff in das Seegebiet aufbricht, um Menschen zu retten. Er sagte auch, dass es keine europäisch koordinierte Seenotrettung braucht.“ Amtsberg möchte von der Bundeskanzlerin wissen, „ob Sie eine europäisch koordinierte Seenotrettung für richtig halten, ob Sie sich auch im Rahmen der Ratspräsidentschaft dafür einsetzen werden.“
„Alle diese Seenotrettungen, egal ob sie über die Europäische Union durchgeführt werden oder ob sie als private Seenotrettungen durchgeführt werden, sind immer nur die zweitbeste Lösung; denn wir müssen eigentlich verhindern, dass Menschen sich überhaupt so in Gefahr bringen. (…) Deshalb hat das Bundesinnenministerium auch das Thema „europäische Asylpolitik“ als ein wichtiges Thema für die Ratspräsidentschaft benannt. Wir wissen aber alle, dass wir das nicht so schnell lösen können. Bis dahin müssen wir natürlich humanitär handeln; das ist richtig. Aber wir dürfen auch nicht den Eindruck erwecken, dass sich Menschen sozusagen in eine gefährliche Situation bringen sollen; denn wir sehen tragischerweise, dass viele Menschen ihr Leben auf diesem Weg verlieren.“
Luise Amtsberg spricht anschließend noch einmal an, was sie „illegale Rückweisungen“ nennt. Also das Aufnehmen von sich in Seenot bringenden Menschen und deren Rückfahrt an die nordafrikanische Küste.
Bundeskanzlerin:
„Was wir bei dem Schutz der Außengrenzen zum Beispiel an der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland erlebt haben, das war im Grunde Politik auch auf dem Rücken von Flüchtlingen, und das darf sich nicht wiederholen. Dafür werde ich mich vor allen Dingen einsetzen. (…) es ist kein Mechanismus, sich sozusagen immer in Gefahr bringen zu müssen, um eine EU- Außengrenze zu überwinden, sondern wir brauchen geregelte Abkommen mit den Nachbarstaaten. Dazu gehört eben auch die Türkei, und dafür werde ich mich weiter einsetzen. Dafür bin ich bedauerlicherweise oft sehr kritisiert worden. Ich sehe aber keine andere Möglichkeit, die humanitärer wäre, als dass wir auch mit finanzieller Unterstützung dafür sorgen, dass die Flüchtlinge dort, wo sie leben, gut leben können.“
Leif-Erik Holm (AfD):
„Am 15. Mai ist in Mecklenburg-Vorpommern eine Frau zur Landesverfassungsrichterin gewählt worden, die einer als linksextremistisch eingestuften Vereinigung angehört, der Antikapitalistischen Linken. Sie hat sie sogar mitgegründet, und sie hat sich bisher nicht davon distanziert. Im Gegenteil: Bis heute verharmlost sie den Mauerbau. Sie verhöhnt die Mauertoten, ist bei einer Gedenkminute im Landtag sogar demonstrativ sitzen geblieben. Sie hat wohl auch in DDR-Zeiten als Bürgermeisterin Republikflüchtlingen das Haus abgepresst. Eine solche Frau zur Verfassungsrichterin zu wählen, ist aus meiner Sicht unerträglich. „Unerträglich“, das war auch die Wortwahl des Verfassungsschutzchefs Haldenwang in der Sache. Der CSU-Generalsekretär Blume hat getwittert: „Wer Verfassungsfeind ist, kann kein Hüter der Verfassung sein“. Das ist absolut richtig. Was er leider vergessen hat: dass seine Schwesterpartei, Ihre Partei, in Gestalt der CDU-Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern dieser Wahl zugestimmt hat. Teilen Sie also die Auffassungen von Herrn Haldenwang und von Herrn Blume, und was folgt aus dieser Position?“
„Ich teile die Positionen dieser Verfassungsrichterin absolut nicht. Das brauche ich, glaube ich, nicht weiter zu begründen. Es hat im Landtag ein sehr komplexes Verfahren mit vielen Implikationen gegeben. Ich weiß, wovon ich spreche. Dass Ihnen das nicht gefällt und dass Sie es lieber gehabt hätten, die CDU hätte mit Ihnen zusammen dagegen gestimmt, kann ich verstehen. Das hat sie aber nicht gemacht. So ist ein sicherlich unbefriedigendes Ergebnis herausgekommen. Ich respektiere aber die Entscheidungsabwägung der Kolleginnen und Kollegen im Landtag Mecklenburg-Vorpommern.“
(Stephan Brandner [AfD]: „Muss das nicht rückgängig gemacht werden?“)
„Es ist manchmal Politik, dass man auch zu Resultaten kommt, die nicht umfassend gut sind.“
Leif-Erik Holm (AfD):
„Diese Antwort überrascht mich jetzt schon ein bisschen, weil wir wissen, dass Sie da auch sehr laut und deutlich reagieren können. Zum Beispiel wiesen Sie bei einem Staatsbesuch in Südafrika darauf hin, dass ein FDP-Mann nicht Ministerpräsident in Thüringen werden könne und dass das rückgängig gemacht werden müsse. Daher hätte ich mir von Ihnen auch jetzt in der Sache mal eine klare Antwort gewünscht.“
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
„Ich habe das gesagt, was ich dazu gesagt habe. Dass das nun nicht umfassend befriedigend ist, kann ich gut verstehen.“