Als die ersten Trabbis kamen und dann immer mehr, standen wir staunend am Bürgersteig. Gemeinsam mit unseren türkischstämmigen Nachbarn, dem Gemüsehändler, dem Imbissbetreiber, dem Sozialhilfeempfänger und dem VW-Arbeiter. Selten noch war das Verbundenheitsgefühl so groß wie damals. Da kamen Fremde. Und es fühlte sich so an.
Privater Umgang zwischen Deutschen und Türken blieb aber dennoch selten. Er kam nur vor, wenn Kinder zusammen aufgewachsen waren, Tür an Tür. So eine Freundschaft hielt dann länger. Insgesamt kann man sagen: man hatte sich aneinander gewöhnt. Hier ein freundliches Wort auf der Straße, dort mal eine gegenseitige Hilfestellung, wenn’s irgendwo hakte. Das mag in Braunschweig noch einfacher gewesen sein als in größeren Städten. Ghettobildung ist in der Provinz schwieriger, es fehlen einfach die ganz großen billigen Wohnviertel.
Als Kinder fuhren wir mit meinen Eltern auf Rundreise durch die Türkei. Individualtourismus würde man heute sagen. Einen Tag Badeurlaub, den anderen irgendeine eine Ausgrabung besichtigen, der Vater war archäologisch interessiert. Troja, Aspendos, Ephesus. In Ephesus wird heute immer noch gebuddelt und Neues entdeckt. Gerade erst schickten die Türken wegen diplomatischer Spannungen ein paar österreichische Archäologen nach Hause, von dort, wo Archäologen aus Österreich seit fast einhundert Jahren graben.
Wir waren 1970 und 1974 dort. Und wir fuhren mit deutschem Kennzeichen. Eines ist mir besonders in Erinnerung: Eine umfassende und herzliche Freundlichkeit, eine Zuneigung, wie man sie wohl damals als Deutscher in keinem anderen Land erleben konnte. Der Grund ganz einfach: Deutschland war das Land der Träume für viele dieser Menschen. Die, die schon da waren, erzählten in gebrochenem Deutsch von ihren Erlebnissen. Und wenn einer ein paar Jahre in Hamburg war, dann war Braunschweig eben gleich nebenan.
Immer wieder mussten wir irgendwo halten, einen Tee trinken und noch einen. Als das Auto kaputt ging, wurden wir in die Werkstatt gezogen, privat untergebracht, Hotel wäre eine Beleidigung gewesen, und die türkischen Mechaniker wehrten sich anschließend mit Händen und Füßen gegen jede Bezahlung. Vater musste alle Schlauheit anwenden, um diese Schuld irgendwie doch zu begleichen. Dann war es eben kein Geld, sondern der transportable große Weltempfänger, der dort blieb. Ein Gegengeschenk.
Als die Trabbis kamen
Aber noch mal zurück zu den Trabbis. Da stand man also gemeinsam und staunte über die Karawane. Wir waren wir und die, die dort kamen, waren Fremde. Instinktiv wussten wir, etwas wird sich verändern und nie mehr so sein, wie zuvor. Die BRD-Blase war zwar nicht mit einem Knall, aber mit einem vernehmlichen Klopfen der Zweitaktmotoren geplatzt.
Ich glaube heute sogar, die Türkischstämmigen haben sich mehr gefürchtet. Sie hatten Sorge um ihren angestammten Platz an unserer Seite. Der eine oder andere sicher auch um seine staatliche Unterstützung, aber das ging den Deutschstämmigen nicht anders. Und die Sorge war berechtigt: Nicht nur die Zonenrandförderung für grenznahe Gemeinden wie Braunschweig brach weg, Schröders Agenda 2010 entsorgte den Rest dieser BRD-deutschen – heute anachronistischen – Behaglichkeit. Die Folge war auch eine schleichende Ernüchterung im Verhältnis zu den türkischstämmigen Mitbürgern und umgekehrt.
In einem Faltblatt der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung aus dem Jahr 1963 stand zu lesen: „Sie haben sich entschlossen, in der Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten. Fleißige Leute sind in der Bundesrepublik Deutschland gut angesehen. Die Bundesrepublik Deutschland entbietet Ihnen, die Sie fleißige Leute sind, ein herzliches Willkommen und versichert Ihnen, dass Sie sich auf unsere Gastfreundschaft verlassen können.“ Allerdings darf man auch nicht vergessen: Die Initiative zum Anwerbeabkommen türkischer Arbeitskräfte zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei von 1961 ging von der Türkei aus.
Der ehemalige Innenminister Otto Schily sagte 2007: „… weil Integration, davon bin ich fest überzeugt, nur gelingen kann, wenn den Bürgerinnen und Bürgern ausländischer Herkunft über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ermöglicht wird.“ Die Kurden hatten damals schon eine Sonderrolle gegenüber den Türken ohne kurdische Wurzeln: Sie konnten in Deutschland einen Asylantrag stellen.
Erdogan nutzt die Türkischstämmigen aus
Das also ein Streiflicht auf die Vorgeschichte des Verhältnisses zwischen den Deutschen und ihren türkischstämmigen Mitbürgern. Nun lesen sich die Zahlen von heute tatsächlich wenig hoffnungsvoll. Erdogan schreit zwar nicht „Heim ins Reich“, aber seine Zwangsumarmung der türkischen Community trifft Menschen, die auch 60 Jahre nach Beginn der Anwerbung noch weit unterhalb des deutschen Durchschnitts leben, was Wohlstand und vor allem Bildung angeht. Solche Fakten erschrecken auch deshalb, weil man sie im Alltag ja nur individuell wahrnimmt: „Unter den heute 17- bis 45-Jährigen mit türkischen Wurzeln haben 40 Prozent höchstens die Hauptschule abgeschlossen; 51 Prozent haben nach der Schulzeit keinen Berufsabschluss erreicht.“ Noch erschreckender: Die negativen Ergebnisse des umstrittenen aktuellen Armutsberichtes basieren auch auf genau diesem Missstand.
Dietrich Creutzburg schrieb im Juni 2016 für die FAZ: „Beim näheren Blick zeigt sich, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur ein Gegensatz zwischen unten und oben ist, sondern auch einer zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.“ Und der Autor fragte: „Türkische Migranten in Deutschland. Arm, aber zufrieden?“ Die Antwort fällt heute leider ganz anders aus, als noch in den 1970er Jahren: „Die Türken in Deutschland sind öfter arm, krank und unzufrieden“. Mehr als ein Drittel lebt unter der Armutsgrenze. Auch fühlen sie sich so stark diskriminiert wie keine andere große Migrantengruppe.
Klar ist auch, was sich hier gedreht hat: Die erste Einwanderungsgeneration verglich ihre Lebensumstände nicht zuerst mit denen in Deutschland, sondern mit denen in ihrem Herkunftsland. Die nachfolgenden Generationen kennen die Heimat nur aus dem Urlaub. Dennoch besitzen nicht wenige von Ihnen weiter die türkische Staatsbürgerschaft. Noch verhängnisvoller: Zwar haben sich mittlerweile 80 Prozent aller Migranten hierzulande auf ein dauerhaftes Leben in Deutschland eingestellt. Unter Menschen türkischer Herkunft, der größten Gruppe mit langer Geschichte in Deutschland, sind es immer noch deutlich weniger. Der Präsident der Türkei weiß das alles. Und er weiß es für sich zu nutzen: Er zeigt diesen Menschen die Wurzeln ihrer Vorfahren, freilich ohne dass diese in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehren sollten: „Da wo ihr arbeitet und lebt, ist nun eure Heimat. (…) Macht fünf Kinder, nicht drei, denn ihr seid Europas Zukunft“.
In den 1990er Jahren gab es einen schleichenden, nicht reparierten Bruch in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Türken. Eine langsame zwar, aber doch kontinuierliche Annäherung stoppte. Damals hatten wir wohl Wichtigeres zu tun. Die Wiedervereinigung musste vollzogen werden. Der bedrohliche Unterton Erdogans schlägt genau in diese Kerbe.