Tichys Einblick

Hunderttausende Wohnungslose und der Platz für mehr Flüchtlinge in Deutschland

Auf der einen Seite wird – auch im Zusammenhang mit dem Camp Moria auf Lesbos – gefordert, mehr Flüchtlinge/Migranten in Deutschland aufzunehmen. Und dann ist von Hunderttausenden Wohnungslosen die Rede. Aber wer sind die eigentlich?

imago images / photothek

Es gibt menschliche Grundbedürfnisse wie Kleidung, Nahrung und Behausung. Wer ohne Wohnung ist, gilt als obdachlos. Ein Schicksal, das nicht nur für die allermeisten Menschen in Wohlstand außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegt. Obdachlose, das seien ja nur Trinker, Gescheiterte, psychisch schwer labile Menschen usw. Auch das mag mitunter sogar stimmen, macht aber das Einzelschicksal nicht weniger tragisch bzw. dramatisch, so es an einen Handlungsbedarf für die Gesellschaft gekoppelt bleiben muss.

Das Thema liegt hier deshalb auf der Tagesordnung, weil es aktuell in den sozialen Medien eine Gegenüberstellung von zwei Aussagen gibt: Auf der einen Seite wird – auch im Zusammenhang mit dem Camp Moria auf Lesbos – die Forderung abgebildet, mehr Flüchtlinge/Migranten in Deutschland aufzunehmen. Aufnehmen, weil wir Platz hätten, wie beispielsweise die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (Die Linke) behauptet und damit vom ZDF zitiert wird. Sie sagt: „Wir haben Platz, die Zahlen zeigen es.“

Und auf der anderen Seite dann eine Meldung, ebenfalls vom ZDF (im TV-Formates 37°), wo von 680.000 Menschen deutschlandweit die Rede ist, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind.

Auf einem Nebengleis wundert sich der gelesene Twitter-Teilnehmer über eine Diskrepanz in der Ankündigung der besagten 37°-Sendung über Wohnungslose. Denn im ZDF-Teaser (Programm Hörzu via Twitter) zur Sendung war zunächst von 1,2 Millionen Wohnungslosen die Rede und von einer Steigerung um 150 Prozent und später im Teaser für 3Sat war diese Zahl hin zu besagten 680.000 korrigiert worden bei einer Steigerung von 90 Prozent.

Die Erklärung ist einfach und eigentlich unspektakulär: Die Prognose eines Vereins für Wohnungslose (hierzu gleich mehr) wurde von diesem selbst korrigiert.

Nun haben auch Wohnungslose eine Lobby. Und zwar eine, die nicht so lautstark in Erscheinung tritt, wie vergleichbare Nichtregierungsorganisationen. Die BAG Wohnungslosenhilfe e.V. ist ein Verein, der sich den Sorgen und Nöten von Wohnungslosen angenommen hat. Aber nicht nur das: Hier werden seit Jahren auch Statistiken erhoben, welche auch die (korrigierte) Zahl von 680.000 Betroffenen geliefert haben. Jedenfalls spricht die BAG von 678.000, das ZDF wird hier aufgerundet haben.

Aber noch interessanter ist, was man dort über die Zusammensetzung dieser 680.000 Menschen (laut BAG: „Jahresgesamtzahl“ für 2018) erfährt.

Zunächst einmal wird klarer, was den Allermeisten wohl so nicht bewusst ist: Es gibt einen Unterschied zwischen Wohnungslosen und Obdachlosen. Und der ist auch entscheidend für die genannte Zahl. Der Name sagt es schon: Obdachlose haben kein Dach über dem Kopf, Wohnungslose haben zwar keine Wohnung, sind aber regelmäßig, wechselnd oder sporadisch in Notunterkünften wie beispielsweise der „Kältehilfe“ untergebracht. Wohnungslose sind teilweise auch ordnungsrechtlich untergebracht durch die Kommunen oder durch die freien Träger der Wohlfahrtspflege. Das sind aber nicht zwangsläufig 6-Bett-Zimmer, sonden können auch kleine Wohnungen sein, aber ohne Mietvertrag, weshalb auch diese Personen dann als Wohnungslose gelten.

Tatsächlich sind der überwiegende Teil dieser Wohnungslosen laut BAG für 2018 „wohnungslose anerkannte Geflüchtete“. Nämlich 441.000 Personen, was gegenüber 2017 eine Steigerung von fast 6 Prozent bedeutete.

Die passende Statistik des BAG dazu von 2006 – 2018 erzählt hier ziemlich genau die Entwicklung der Wohnungslosigkeit in Deutschland. So gab es von 2008 – 2015 eine jährliche ansteigende regelmäßige Steigerung der Wohnungslosigkeit, die aber in keinem Jahr die Zehnprozentmarke überschritt. Erhoben wurden hier Wohnungslose ohne Verifizierung ihrer Nationalität. 2008 waren das 227.000, 2012 sind das 284.000 gewesen und 2014 waren es 335.000 Betroffene.

Die Statistik explodiert mit dem Beginn der Massenzwanderung deutlich erkennbar in einer nun zusätzlichen Größe der „wohnungslosen anerkannten Geflüchteten“. Tatsächlich hat sich die Zahl der Wohnungslosen von 2015 auf 2016 mehr als verdoppelt auf 858.000 Personen. Davon 436.000 zugewanderte Migranten/Geflüchtete. Also Menschen, die in Sammelunterkünften usw. untergebracht waren und dementsprechend zwar nicht als obdachlos, aber als wohnungslos gezählt werden.

Wie die Einführung eines neuen Schätzmodells bei der BAG ab 2017 zeigte, waren es sogar noch mehr wohnungslose Migranten als zuvor angenommen, die von da an nicht mehr zu den Einheimischen (und EU-Bürgern) gerechnet werden. So sinkt dann die Zahl der einheimischen Wohnungslosen (inkl. EU-Bürger) in der Statistik von 2016 auf 2017 fast um die Hälfte.

Hier merkt die BAG allerdings an, dass das neue Berechnungsmodell ab 2017 eine Stringenz zu den Vorjahren leider nicht mehr hergibt, da man das Schätzmodell verbessert hätte. So kann also der irrige Eindruck entstehen, die Zahlen wären geringer geworden, was nicht der Fall ist.

Zwar hat Deutschland es geschafft, eine große Zahl an Menschen in relativ kurzer Zeit in Wohnungen unterzubringen, aber bei weitem nicht alle, wenn über 400.000 noch in Einrichtungen untergebracht sind.

Und da nichts darüber bekannt ist, dass es eine plötzliche gesamtgesellschaftliche Anstrengung gab, deutschen Wohnungslosen eigene vier Wände zu beschaffen, darf davon ausgegangen werden, dass es sich hier überwiegend um Personen handelt, die mit Beginn der Massenzuwanderung ab 2015 nun eine eigene dezentrale Unterbringung, also eine Wohnung bezogen haben.

Wahr ist übrigens auch, dass die zugewanderten Migranten, wenn sie nach Deutschland kommen, keinen Schufa-Eintrag haben und damit gegenüber Vermietern im Vorteil sind, wo es erst einmal um eine gewichtige Grundvoraussetzung geht, sich überhaupt auf dem freien Markt um eine Wohnung bewerben zu können. Es ist also tatsächlich nicht immer der ausländisch klingende Name, der als Nachteil in nur eine Richtung zeigt.

Eine weitere Statistik ist interessant: So ermittelte die BAG Wohnungslosenhilfe e.V., dass das Wohnraumdefizit (1-2-Raum-Wohungen) 2018 bei -12 Prozent lag, sich diese Zahl aber seit 2011 (-11,6) nie wesentlich verändert hätte.

Für 2018 kann gesagt werden: Die Zahl der Wohnungslosen unter den Migranten/Geflüchteten ist fast doppelt so hoch, wie die Zahl einheimischer Wohungsloser. Was die Unterbringung angeht, sind deutlich mehr wohnungslose Migranten/Geflüchtete in Einrichtungen untergebracht als Einheimische bzw. EU-Bürger.

Nachzutragen wäre noch die Zahl der Obdachlosen, also Menschen, die ohne jedes Dach über dem Kopf auf der Straße leben und schlafen müssen: Laut Verein sind das im Laufe eines Jahres 41.000 Menschen. Das sind nicht wenige, aber doch deutlich weniger als Menschen, die zwar keine eigene Wohnung haben aber immerhin ein Dach über den Kopf und einen Schlafplatz, wenn auch in einer Unterbringung. Hier muss laut BAG aber auch darauf geachtet werden die Stichtagszahl nicht mit der Jahresgesamtzahl zu verwechseln bzw. zu vermengen.
Die Geschäftsführerin der BAG kommentiert die Gesamtlage auf der Website des Vereins: „Hauptgründe für die steigende Zahl der Wohnungslosen sind für die BAG W das unzureichende Angebot an bezahlbarem Wohnraum, die Schrumpfung des Sozialwohnungsbestandes und die Verfestigung der Armut.“ Es würde insbesondere bezahlbarer Wohnraum fehlen für Menschen im Niedrigeinkommensbereich, für Transferleistungsempfänger und für anerkannte Geflüchtete. Letzteres sind hier allerdings seit 2015 zunehmend die zahlenmäßig größte Gruppe.

Der BAG mahnt an, dass pro Jahr 80.000-100.000 neue Sozialwohnungen und weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen geschaffen werden müssten. Und laut Koalitionsvertrag der Bundesregierung hätte sich selbige auch zum Ziel gesetzt, 375.000 neue Wohnungen pro Jahr zu schaffen/fördern. Neu gebaut worden seine aber 285.000 Wohnungen und darunter „lediglich 27.000 Sozialwohnungen“.

Eine weitere interessante Information der BAG bezieht sich auf die Unterbringung der Wohnungslosen: so sollen knapp 60 Prozent von ihnen gar nicht in Einrichtungen untergebracht sein, sondern bei Familienangehörigen leben oder bei Partnern und Bekannten. Und auch diese Personen zählen dann ebenfalls als wohnungslos.

Aber was kann jetzt die Erkenntnis sein aus diesem Licht im Zahlendschungel? Zunächst einmal jene, dass Wohnungslosigkeit für über eine Million Asylbewerber zunächst der Normalfall ist, wenn sie nach Deutschland kommen. Sie ist sogar gesetzlich vorgeschrieben, so können Asylsuchende im Asylverfahren bis zu 24 Monaten verpflichtet werden, in einer Erstaufnahmeeinrichtung oder in einer anderen ihnen zugewiesenen Einrichtung zu leben. Die Wohnungslosigkeit ist also hier im Prinzip gebunden an die Dauer des Asylverfahrens beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Und u.a. der BAG liefert hier interessante Faken, die zu berücksichtigen Not tut in einer Debatte, die von Unterstellungen und einer mitunter arg schiefen Faktenlage gekennzeichnet ist. Unterm Strich könnte die Forderung aber gelten, das man bestimmte Missstände nicht der einen oder anderen betroffene Gruppe zuweisen sollte, sondern dass die Stoßrichtung in Richtung der politischen Entscheider gehen sollte – dahin, wo Probleme verursacht und dann nicht gelöst werden.

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