Beginnen wir mal mit einer bitteren Frage: Wie lange wird es dauern, bis die Nichtregierungsorganisationen (NGO) nach der Armada vor der libyschen Küste eine zweite an „Seenotrettern“ organisiert und vor die griechische Insel Lesbos fährt, wenn dort immer mehr Migranten – nun wohl vornehmlich aus Afghanistan – in überfüllten Lagern auf ihre Weiterfahrt nach Deutschland warten?
Lager, denen man zwar nicht nachsagen kann, dass dort gefoltert wird, die aber wohl nach Lesart der NGOs irgendwie folterähnliche Zustände vorweisen, wenn es Mangel an allem gibt, an Hygiene, Sicherheit, Unterbringung und möglicherweise auch an Essen.
Seit Monaten wabern Gerüchte durchs Netz, die Türkei hätte den EU-Türkei-Deal längst aufgekündigt – laut türkischem Außenminister allerdings nur ein Missverständnis. Wenn dem aber doch so wäre, dann wäre das allenfalls eine rechtliche Frage, eine des Vertragsbruchs, wenn, was aktuell mit den Anlandungen passiert, nicht von der türkischen Grenzsicherung engagiert verhindert wurde.
Wenn also türkische Grenzschützer auf dem Lesbos gegenüberliegenden türkischen Festland nicht eingegriffen haben, als sich über ein dutzend Boote mit Migranten auf den Weg nach Lesbos machten und dort auch angekommen sind.
Wird die Türkei die Migranten zurücknehmen und welchen quantitativen Unterschied würde das machen, wenn laut EU-Türkei-Deal vom März 2016 dafür sowieso die selbe Anzahl auf sicherem Wege nach Deutschland/Europa kommen darf? Wir erinnern uns, Punkt zwei der damaligen Abmachung lautete: „Für jeden Syrer, der von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgebracht wird, soll ein anderer syrischer Flüchtling aus der Türkei in die EU umgesiedelt werden (1:1 – Neuansiedlungsregelung).“
Die Türkei muss der EU jetzt dringend die Frage beantworten, in welchem Zusammenhang diese offensichtliche Lockerung der Grenzkontrollen vor Lesbos mit der Stimmungslage in der Türkei selbst zusammenhängt, wenn die Türken mittlerweile ihre Willkommenskultur revidiert zu haben scheinen und beispielsweise syrische Migranten in der Türkei deutlich härter angefasst werden bis hin zur strikten Einhaltung von Residenzpflichten usw.
Nun haben also am Donnerstag mehr als ein dutzend Boote vom türkischen Festland aus Lesbos erreicht. Rund 650 Migranten sollen sich an Bord befunden haben, die die Überfahrt von etwa zehn Kilometern wagten. So jedenfalls berichtet die örtliche Polizei und auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die ebenfalls an Ort und Stelle sind.
Die griechische Regierung bestellte unverzüglich den türkischen Botschafter ein, der sich zur neuerlichen Massenankunft erklären sollte. Der Botschafter seinerseits soll im Gespräch die Gültigkeit des Türkei-Deals betont haben, berichtet beispielsweise der SPIEGEL.
Interessant an diesem Fall ist sicher auch der hohe Anteil von Migranten aus Afghanistan. UNHCR-Sprecher Boris Cheshirkov soll geäußert haben: „Wir waren überrascht. Wir haben diese Art abgestimmter Ankünfte in dieser Zahl seit 2016 nicht mehr erlebt.“ Hier lohnt es sicher, einmal die Wege dieser afghanischen Migranten genauer zu durchleuchten. Und sicher werden die UN-Organisationen entsprechende Interviews auch führen – wünschenswert wäre es hier, die Ergebnisse auch einmal zeitnah der Presse mitzuteilen.
Alleine im August 2019 steig die Zahl der Migranten, die auf diesem Wege auf die griechischen Inseln, also nach Europa kommen, auf 7.000 registrierte Personen – diejenigen, die unter dem Radar laufen, dürften hier noch einmal eine zusätzliche und nicht unerhebliche Größe sein.
Was passiert nun mit diesen Neuankömmlingen? Zunächst geht es ins Lager Moria, welches mittlerweile mit annährend 10.000 Wartenden belegt sein soll. Warten auf was? Auf den Transfer nach Deutschland?
Warten? Nein, denn es kommt jetzt viel schneller Bewegung in die Sache, als von den Betroffenen erhofft wurde, wenn die griechische Regierung jetzt ihre Marine einsetzt, um die ersten eintausend Migranten von der Insel aufs Festland zu bringen. Kann man hier sagen, die nächste Etappe Richtung Deutschland ist damit getan? „Wie in Athen mitgeteilt wurde, bringt die Marine rund 1.000 Migranten mit zwei Kriegsschiffen aufs Festland nahe Thessaloniki.“
Beispielsweise für die deutschen Kirchen sind diese Ereignisse wieder willkommener Anlass, emotionale Bilder zu lancieren, wenn beispielsweise das Kirchenportal evangelisch.de einmal mehr den so genannten „Friedhof der Rettungswesten“ auf Lesbos abbildet und zum Lager Moira aktuell dramatisch aufschreibt:
„Die bedrückende Enge, mangelnde Hygiene, latente Gewalt und die zermürbende Perspektivlosigkeit sorgen dafür, dass ein großer Teil der Bewohner spätestens hier traumatisiert wird.“
Wer würde bestreiten wollen, dass es bei rapide ansteigendem Andrang und also einer Überbelegung in kürzester Zeit zu Engpässen und Frustration kommt? Noch mehr, wenn befreundete Landsleute bereits Bilder und Berichte aus Deutschland via Smartphone in die Lager senden?
Aber gerade die Kirchen müssen sich doch dringend einmal fragen lassen, welchen Anteil sie daran haben, diese Leute mit ihrem Tun zur Migration zu ermuntern, die oftmals daheim zwar in prekären Situationen leben, die aber durchaus vor Ort bestimmte Perspektiven in Sicherheit haben bzw. schnell bekommen müssen.
Zur Wahrheit gehört eben auch die Erkenntnis, dass nicht jeder Migrant auf Lesbos um sein Leben läuft, sondern einem besseren Leben entgegen eilt, was ein großer Unterschied ist. So unterschiedlich, wie die Lebensumstände auf dem blauen Planeten. Diese Unterschiede auszuräumen, mag die Weltaufgabe der Gegenwart und Zukunft sein, sie ist aber ganz sicher nicht alleinige Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland.