Falls Sie es noch nicht mitbekommen haben, liebe Leser, wir stehen kurz vor dem Untergang unserer Zivilisation. Der soziale Frieden ist nachhaltig zerstört. Zerstört hat ihn ein einziger Essay in einer deutschen Zeitung – und alle selbsternannten Moralhüter zusammen konnten die Ketzerschrift nicht verhindern. Tja. In den USA sind sie einen Schritt weiter: Texte, die sensible Gemüter zu sehr erregen, werden sofort vom Netz genommen.
Kurze Zusammenfassung für jene, die vergangene Woche im Urlaub weilten: Bei der ZEIT wurde debattiert, ob es gut ist, wenn private Hilfsorganisationen „Flüchtlinge“ auf dem Mittelmeer retten. Autorin Mariam Lau, die selbst einmal zwei Wochen mit einem privaten Rettungsschiff mitgefahren ist, findet: „Die Retter vergrößern das Problem.“ Sie schreibt von Helfern, die sich keine Gedanken darüber machen, wie etwa die italienische Regierung ihren Bürgern erklären soll, dass sie Tausende von Menschen einkleiden, beherbergen und ernähren sollen, „die gekommen sind, um zu bleiben – legal, illegal, ganz egal.“
Lau ist keine verwirrte Nazi-Braut. Seit 2010 schreibt sie für die linksliberale ZEIT. Ihr Text ist sachlich und differenziert formuliert. Dennoch ist er für viele Publizisten und Politiker aus dem eher linken Spektrum mehr als unzumutbar. Angesichts ihrer Reaktionen, die viel irritierender sind als Laus Essay, dürfte diese eine abweichende Ansicht von Migräne bis Magengeschwür alles bei ihnen ausgelöst haben. Eigentlich ist es ein Luxus, sich über den adäquaten Inhalt von Zeitungsartikeln derart erregen zu können.
Das linke Künstlerkollektiv „Zentrum für politische Schönheit“ sieht den „sozialen Frieden nachhaltig gestört“. Eine österreichische Journalistin macht bei Lau „menschenfeindliche Positionen“ aus, bei Sea-Watch klingts ähnlich: „Diskutieren wir in Deutschland gerade ernsthaft, ob man Menschen einfach sterben lässt oder nicht, @DIEZEIT?“ Tim Wolff, Chefredakteur des Titanic-Magazins, setzte noch einen obendrauf, er startete eine Umfrage: „Zeit“-Mitarbeiter auf offener Straße erschießen?“ Satire! Haha, lustig ist’s. Nur, für die Autorin dürften Tötungsspinnereien, Gewaltandrohungen im Netz, Anfeindungen und Unterstellungen von ‚menschenfeindlich‘ und ‚Übergriff‘ nicht ganz so amüsant sein.
Statt Kritik unterstellen und verdrehen
Den „Flüchtlings“-Aktivismus auf dem Mittelmeer zu hinterfragen, ist weder unmenschlich noch zivilisationsgefährdend. Die Ethikexperten aber äußern ihre Kritik rhetorisch so, als ging es der Autorin um die Frage, ob man Menschen ertrinken lassen soll. Sie bedienen sich damit des klassischen Strohmann-Arguments: Statt auf ihre These einzugehen – dass NGO’s den Schleppern in die Hände spielen – argumentieren sie gegen etwas, das sie nie gesagt hat. In Laus Beitrag steht nirgends, dass man Menschen nicht vor dem Ertrinken retten soll. Natürlich kann man jetzt sagen, hey, wer sich aus dem Fenster lehnt, muss Kritik einstecken können. Das stimmt. Und Kritik geht auch in Ordnung – nur ist Kritik heute zu einer kollektiven Aburteilung der Person als Ganzes verkommen, sie hat ein zerstörerisches und ungesundes Maß angenommen, wo die Diskussion keinen Spaß mehr macht. Meinungsvielfalt? Immer mehr Autoren zweifeln daran, ob sie sensible Themen überhaupt noch aufgreifen, ihre Ansichten dazu aufschreiben sollen.
Während sich die leicht Erregbaren in Deutschland wegen eines einzigen Artikels den Sommerfrieden ruinieren, scheint man in den USA seine eigene Lösung im Umgang mit Empörung gefunden zu haben: Meinungsstücke werden bei Gegenwind sofort vom Netz genommen.
Jüngst hat das Nachrichtenportal Business Insider einen Text, der nicht sein darf, innerhalb weniger Stunden nach seiner Veröffentlichung wieder von seiner Website entfernt – ein Zensur-Tempo, mit dem selbst China Mühe hätte mitzuhalten.
Interessen als Gender-Kritik verkleiden
Kolumnistin Daniella Greenbaum hatte es gewagt, Scarlett Johansson zu verteidigen, die eine landesweite Debatte um ihren neuen Film ausgelöst hat, in dem sie einen Transgender-Mann spielen sollte. Der von Transgender-Schauspielern initiierte Aufstand gegen die Johansson-Besetzung erstreckte sich von einem wütenden Internetmob, der sich auf den Hollywoodstar stürzte, bis hin zu Leitmedien, die ihr eine ‚unsensible Rollenwahl‘ vorwarfen. Eine Transgender-Schauspielerin schrieb bei Twitter: „Du bist nicht nur gegen uns und stiehlst unsere Geschichte und unsere Chancen, du klopfst dir dafür auch noch auf die Schulter, dass du unser Leben nachahmst … so verdorben. Ich habe so genug.“
Natürlich könnte man einwenden, dass jemand, der Worte wie „Diebstahl“ und „Nachahmen“ im Zusammenhang mit Schauspielern benützt, deren Job es ist, in andere Rollen zu schlüpfen – schwach ausgedrückt – eine Vollmeise hat. Und dass gemäss der Logik ja auch nur kranke Menschen Kranke, Frauen mit Kids Mütter oder ausgebildete Lebensretter Superman spielen dürften. Nur käme man hier mit Rationalität etwa so weit, wie wenn man einem Kind mit verbundenen Augen das Lesen beibringen möchte. Johansson ist unter dem Druck aus dem Projekt ausgestiegen. Greenbaum, die in ihrem zurückgezogenen Artikel nüchtern und sachlich argumentiert hatte, dass Schauspielerinnen Männer und Trans-Männer spielen können, hat ihren Job bei BI gekündigt. Die Hysterie obsiegt.
Vorbeugender Gehorsam vor dem Shitstorm
Dass der Trend in den Medien dahin geht, sein Publikum vor sensiblen oder kontroversen Themen und andersgearteten Ansichten bestmöglich zu schützen (und sich selbst von deren Zorn), zeigt auch das Beispiel der deutschen Schriftstellerin Tina Uebel. In einem ZEIT-Artikel (13.7.2018) berichtet sie, wie die politische Korrektheit – auch bei eben dieser Zeitung – ihre Arbeit einschränke. „Wir haben ein Problem, dürfen wir nicht mehr über die Welt, die wir erleben, berichten, sondern nur über eine, wie sie sein sollte.“ In einem Reisebericht für die Zeit habe sie über einen Hahnenkampf in Kolumbien geschrieben, der zur dortigen Kultur gehöre. Man habe ihr gesagt, sie soll die Passage streichen: „Zu problematisch, sagt die Redaktion, im erwartbaren Leser-Shitstorm drohe jegliche positive Wahrnehmung der Haupterzählung unterzugehen.“
Hätte man Mariam Laus Essay einem ‚kulturellen Sensitivitäts‘-Test unterzogen, er wäre mit großer Wahrscheinlichkeit durchgefallen. Ihr Text steht zwar noch online, die Chefredaktion sah sich aber unterdessen in einer Stellungnahme genötigt, ihn öffentlich zu rechtfertigen, und dass dort je wieder ein derart umstrittener Artikel erscheinen wird, ist eher unwahrscheinlich. Auf jeden Fall lassen Ereignisse wie dieses keine allzu hoffnungsvolle Prognose für die Medien- und Meinungsvielfalt zu: Die Empfindlichkeit gewisser Gruppen scheint stetig größer zu werden, die Anfeindungen heftiger und die Chefredaktoren für Forderungen einer aufgebrachten Menge empfänglicher.
Meinungs-Erpressung
Wenn Menschen sachlich und vernünftig formulierte Meinungen nicht ertragen und deswegen in einen Zustand glühenden Moralisierens verfallen, liegt es nicht am Absender, sondern am Empfänger: Diese Leute sind zu reizbar, zu sensibel, zu anmaßend, zu wenig tolerant. Sie nehmen für sich in Anspruch, die einzig richtige Meinung zu besitzen und ihre Wahrheit allen anderen aufdrängen zu müssen. WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt formuliert es so: „Der Thron, von dem herab sie über Andersdenkende urteilen, wächst in den Himmel.“
Möglicherweise sollten die Thron-Besetzer sich mal ein paar Gedanken dazu machen. Denn es ist keine rechte oder linke Angelegenheit, es betrifft uns alle. Hysterie und moralische Überheblichkeit dürfen Stimmen nicht zum Verstummen bringen.