„Bei Melanie ist der Mörtel ab.“ Die Bild-Zeitung titelte die Schlagzeile vergangene Woche nach dem Wiener Opernball. Dabei handelte es sich um US-Schauspielerin Melanie Griffith, die von Richard „Mörtel“ Lugner als Opernball-Stargast eingeladen war – und um die Nase herum irgendwie, sagen wir, gequetscht aussah. Die Gästewahl von Lugner, der sein Vermögen als Bauunternehmer erwirtschaftet hatte, offenbart ja immer wieder seine Vorliebe für Damen mit besonderer Nähe zu Schönheitschirurgen – Nadja Abd el Farrag, Pamela Anderson, Kim Kardashian, sie alle haben sich schon an seinem Arm durch das Gedränge in der Wiener Staatsoper geschoben. Jetzt war 80iger Jahre-Star Melanie Griffith („Working Girl“) an der Reihe, und Bild formulierte weiter: „DAS kann selbst Mörtel nicht mehr richten!“ Sieben Worte, die alle denkbaren Nuancen von bitterböse bis beleidigend boten.
Das Problem ist, Melanies Nase sah so aus, wie sie aussah, weil sie eine Hautkrebs-OP hinter sich hatte, wie die Bild selbst schrieb. So originell die Schlagzeile also war, so deplatziert war sie. Denn obwohl prominente Damen, die sich jenseits der sechzig in versteinerte Zwanzigjährige verwandeln, bissige Kommentare bis zu einem gewissen Grad aushalten müssen – zu einem hämischen Titel angesichts einer Krankheit sollte sich auch ein Boulevardblatt nicht herablassen.
Das Kreieren von Schlagzeilen, die zum Weiterlesen jenseits der Überschrift verführen, ist bekanntermaßen eine hohe Kunst. Untersuchungen besagen, dass doppelt so viele Leser den Titel eines Artikels lesen wie den Artikel selbst. Es wird noch kurioser: Gemäß Washington Post teilen 6 von 10 Personen den Link eines Artikels, ohne den Inhalt überhaupt je gelesen zu haben, also nur aufgrund der Überschrift. Die US-Zeitung zitiert dabei eine Studie der Columbia Universität und des French National Institute, die herausgefunden hat, dass 59 Prozent der in den sozialen Medien geteilten Links blind geteilt werden. Das sei die typische Art des modernen Informationskonsums, sagt Studienautor Arnaud Legout. „Leute sind heute eher geneigt, einen Artikel zu teilen, statt zu lesen. Sie machen sich ihre Meinung, basierend auf einer Zusammenfassung, oder der Zusammenfassung einer Zusammenfassung, ohne sich zu bemühen, tiefer zu gehen.“
Ein bizarres Beispiel dieser Teilen-statt-Lesen-Mentalität präsentierte die satirische Newsseite „The Science Post“. 2016 veröffentlichte sie einen Dummy-Text in unverständlichem Pseudo-Latein mit dem Titel „Studie: 70% der Facebook-Nutzer lesen vor dem Kommentieren nur die Überschrift bei wissenschaftlichen Texten“. Der Artikel wurde 46.000 Mal geteilt, von vielen in aller Ernsthaftigkeit. Kein Wunder also, vermehren sich Fake-News so rasant und können nur schwer wieder korrigiert werden.
Im Falle von Melanies Riechorgan hat Bild-Chefredakteur Julian Reichelt die Schlagzeile im Nachhinein als eine geschmacklose Formulierung bezeichnet, die so nicht hätte erscheinen sollen. „Wir ändern das und bitten Melanie Griffith um Entschuldigung“, schrieb er bei Twitter. Na ja, etwas zu ändern, nachdem es einige Millionen bereits gelesen und knapp 60 Prozent davon aufgrund der „Mörtel“-Nase womöglich geteilt haben, ist ja auch doof. Dann besser dazu stehen und Melanie das nächste Mal schmeichelhaft präsentieren – am besten verlinkt mit einem Ausschnitt ihrer wunderbaren Filme aus den 80igern.