Es war im Hauseingang, als er mich beim Abschied gegen die Wand drückte und mir jäh und unbeholfen seine Zunge in den Mund stieß. Ich war knapp 20, lebte seit kurzem als Schauspielschülerin in Hollywood, er Filmproduzent um die 50, ein bisschen bekannt, nicht unsympathisch. Nach einer Party fuhr er mich nach Hause und vergaß dabei auch nicht, die noch unbesetzte Rolle in seinem nächsten Projekt zu erwähnen. „Karriere gelauncht!“ war mein naiver, erster Gedanke. Wir stehen dann aber vor der Tür, ich winde mich aus seiner Klammerumarmung, stammle etwas von einem Freund und husche in meine Wohnung. Falls die Rolle je existierte, ging sie an eine andere. Ich empfand etwas zwischen Scham und Schaudern, hakte den Vorfall unter „unwilkommene Avancen“ ab, das Leben ging weiter.
Manche Schauspielerinnen (auch Schauspieler) schlafen mit Produzenten, um eine Rolle zu bekommen. Ganz freiwillig. Und jetzt bitte keine Moralpredigt. Ich weiß es, ich habe fünf Jahre lang in Hollywood gelebt und in Filmkreisen verkehrt. Gefallen für Gefallen? Man kann es ablehnen oder annehmen – ein Urteil über Letzteres sollte sich niemand anmaßen. Es ist wie ein einvernehmliches Tauschgeschäft. So naiv, verletzlich und hilflos, wie Frauen ständig von Feministinnen dargestellt werden, sind sie nicht.
Zum Fall Harvey Weinstein. Er hat, wie die New York Times aufdeckte, Frauen über Jahrzehnte sexuell belästigt und genötigt. Die Anschuldigungen reichen von dem wiederholten Bitten und Drängen nach Massagen, ungewollten Berührungen, bis hin zu drei Vergewaltigungsvorwürfen.
Bei Weinstein war es kein Tauschgeschäft. Er verlangte etwas von den Frauen, das sie ihm nicht geben wollten, und das haben sie ihm signalisiert. Weinstein, der so manchen aufstrebenden Schauspieler zum Star machte, darunter Matt Damon und Gwyneth Paltrow, wird wohl ständig attraktive und aufregende Frauen um sich herumgehabt haben. Er war nicht nur mächtig, Weinstein war der Inbegriff einer gigantischen Chance. Er wird gewöhnt gewesen sein, dass Frauen seine Einladungen zum Abendessen, zum Schlummertrunk oder zu mehr annahmen. In einer perfekten Hollywood-Welt sind selbstverständlich sind alle tugendhaft, arbeiten hart, und die Person mit dem größten Talent bekommt die Rolle. In Realität gehst an 100 Castings, konkurrierst dort mit 500 Frauen, alle schöner, schlanker, besser vernetzt, merkst, dass du dich an dem Ort der unheilvollen Allianz aus Ehrgeiz und Lebenstraum kaum durchzusetzen vermagst und entscheidest dich vielleicht für eine Abkürzung – lässt dich freiwillig mit einem wie Weinstein ein.
Und bevor jetzt alle aufschreien: Ich will hier nicht die Vergehen von Weinstein kleinreden oder verteidigen. Im Gegenteil: Seine Verfehlungen können durch nichts entschuldigt werden. Männer wie er sind Schweine. Was er getan hat, hat mit Tauschhandel nichts zu tun. Seine Machtposition ausnützen, Frauen zu sexuellen Handlungen nötigen, sie einschüchtern, ihnen drohen, ist verwerflich, abscheulich, gehört bestraft – die Vergewaltigungen, sollten sie sich als wahr herausstellen, gehören hart bestraft. Heute, wo unsere Gesellschaft weiterentwickelt ist, sensibilisierter und aufgeklärter, ist es für Opfer von sexuellen Belästigungen und Übergriffen zum Glück einfacher als vor 30 Jahren, ein offenes Ohr oder Hilfe zu finden.
Gemäß der New York Times war Weinsteins Ruf als Sexjäger „das am schlechtesten gehütete Geheimnis in Hollywood und New York“. Auch Schauspielerin Jessica Chastain schreibt in einem Tweet, sie sei von Anfang an gewarnt worden: „Die Geschichten waren überall. Das zu leugnen erzeugt ein Umfeld, wo es wieder passiert.“ Dass Schauspieler und Superstars, Regisseure und Produzenten, wie sie jetzt in ihren Statements beteuern, allesamt während 30 Jahren nichts davon gewusst haben wollen, mutet schon etwas fragwürdig an.
Geradezu heuchlerisch aber ist es, wie Hollywoods selbsternannte Gralshüter der Moral in ihren Statements jetzt pingelig genau darauf bedacht sind, den Anschein von kategorischer Ehrenhaftigkeit zu vermitteln, als habe noch dort nie jemand seine persönliche Würde ein Stück weit für den beruflichen Erfolg zurückgestellt.
Hollywood, die Stadt der Träume, Hoffnungen, aber auch des komprimierten Opportunismus, hat zwei Seiten. Hätte ich mich damals mit dem Typen eingelassen, wäre ich heute Schauspielerin? Ehrlich gesagt, die Frage habe ich mir schon in aller Sachlichkeit gestellt.
Der Beitrag erschien in kurzer Version zuerst in der Basler Zeitung.