Zum Krieg in Israel konnte Tichys Einblick Prof. Dr. Michael Wolffsohn interviewen. Wolffsohn ist einer der bedeutendsten Experten für den Nahen Osten und die deutsch-israelischen Beziehungen des Landes. Fast 30 Jahre lang unterrichtete er Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr, München.
Roland Tichy: Herr Professor Wolffsohn, wenn man sich Kriege anschaut, die hinter Israel liegen, dann hat man das Gefühl, palästinensische Organisationen sind auf eine Art Selbstmord-Trip. Täuscht einem das? Der Angriff der Hamas hat zu grauenhaften Opfern in Israel geführt. Aber letztendlich ist dadurch eine Situation entstanden, die für die Hamas als Organisation existenzbedrohend ist.
Michael Wolffsohn: Das ist richtig. Und Sie haben hier die Tragödie des palästinensischen Volkes in Ihre Frage gekleidet. Seit ungefähr 100 Jahren hat das palästinensische Volk eine Führung, mit unterschiedlichen Etiketten und Organisationen, die Gewalt in erster Linie als Selbstzweck angewandt hat und nicht als politischen Zweck. Man muss ja nicht seinen Clausewitz auswendig können und immer zitieren, aber am Ende ist Krieg ein Mittel der Politik, ein Instrument der Politik. Aber dieses Verständnis erkennt man bei den diversen palästinensischen Führungen leider nicht. Der Krieg, Terror, die Anwendung von Gewalt ist Selbstzweck für Rache und für Mord an den Israelis und den Juden. Es gab sehr viele Möglichkeiten für die Palästinenser, die jetzige Situation zu verhindern und zu vermeiden. Aber das ist, wie gesagt, die Tragödie.
Wie muss man den brutalen Angriff der Hamas verstehen. In der ersten Phase war Israel überrascht, es kam zu unzähligen Tragödien, die Mörder konnten fast ohne Gegenwehr agieren. Aber in der zweiten Phase musste doch zu erwarten sein, dass Israel zurückschlagen wird. Was kann man sich vorstellen als rationales Kalkül der Hamas Führung?
Es gibt wohl einige taktisch-politische Aspekte. Zum einen wollte man möglicherweise eine Mehrfronten-Konfrontation herbeiführen. Stichwort Hisbollah aus dem Libanon. Und zusätzlich sollte dann die zweite Marionette des Iran, Assads Syrien, und vielleicht sogar der Iran mit hineingezogen werden. Aber daran hat der Iran wohl eher kein Interesse. Ohne selbst einen Schuss abzugeben, hat man dort seine Ziele erreicht.
Und das wären also die politischen Aspekte, die Hamas zu diesem Angriff bewogen haben könnten. Der letzte Aspekt wäre, die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den meisten arabischen Staaten zu bremsen, vor allem die Normalisierung zwischen Israel und Saudi-Arabien. Aber das ist eine politische Fehlkalkulation. Denn Saudi-Arabien und Israel verbinden gemeinsame Interessen gegen den Iran, gegen die Iran-Puppe Hamas und andere Unruhestifter in Nahost. Insofern ist auch dieses mal kein überzeugendes politisches Kalkül bei der palästinensischen Führung zu sehen.
Die arabischen Staaten haben 1947 im Sechstagekrieg, aber auch im Yom Kippur Krieg die Seite der Palästinenser eingenommen. Jetzt ist die Reaktion kühler. Man hat das Gefühl, sie wollen diese destruktive Politik nicht mehr fortsetzen. Nur die Hamas wird immer aggressiver. Worauf ist diese Selbsttäuschung, die Sie ja auch konstatieren, zurückzuführen? Ist das eine Blase, in der sich die Hamas irgendwie selbst in Illusionen begibt?
Ich glaube nicht, dass es Sinnvoll ist an dieser Stelle politische Psychologie zu betreiben. Wir können nur feststellen, dass es eine Unfähigkeit zur politischen Politik gibt. Das scheint nur widersprüchlich. Die Frage greift das gut auf: Die meisten arabischen Staaten sind es leid, ihr eigenes Blut zu vergießen, für die Palästinenser, die alle ihnen gebotenen Chancen nicht genutzt haben.
Also noch einmal: Es ist offenbar eine blinde Rache, die man vielleicht emotional nachvollziehen kann, die die Hamas antreibt. Sie hat aber in allen Bereichen der Politik in keiner Weise zu Rationalität geführt.
Nun scheint es so zu sein, dass auch Israel nach den Bildern der Morde, der Vergewaltigung, der Zerstörung dazu übergegangen ist, Rache zu schwören. Hunderttausende Reservisten wurden aus aller Welt einberufen, wurden in Marsch gesetzt, bewaffnet. Und wie seltsam wartet man seither auf ein Eingreifen der israelischen Verteidigungsgruppen im Gaza? Hat da Israel kurzfristig auch gelähmt, entsetzt von den Verbrechen der Hamas überreagiert? Oder warten sie auf das baldige Losschlagen der israelischen Armee?
Also von einem Rachefeldzug kann keine Rede sein. Die Reaktion Israels und es ist eine Reaktion, hat ein klares rationales politisches Ziel, nämlich die Hamas militärisch und politisch auszuschalten. Das muss zunächst einmal militärisch passieren und wird durch das Militärische eben auch die politischen Fähigkeiten der Hamas beenden. Das ist keine Rache. Die israelische Führung hat nun wiederholt die Palästinenser aufgerufen den Norden des Gebiets zu verlassen. Dafür haben sie auch viel Zeit gelassen.
Das heißt, die Israelis haben hier vorab angekündigt, wo sie intervenieren werden. Ich kenne Vergleichbares aus der Militärgeschichte eigentlich nicht. Eine solche humanitäre Vorankündigung gibt es praktisch in der gesamten Kriegsgeschichte der Menschheit gar nicht. Israel hält sich ganz klar an die humanitären Regeln. Die arabischen Nachbarstaaten blockieren die Fluchtmöglichkeiten für Palästinenser, die in die arabischen Staaten wollen, allen voran Ägypten, auch Jordanien. Reiche arabische Staaten könnten es sich leisten, die palästinensische Zivilbevölkerung ausfliegen zu lassen. Aber das geschieht nicht. Die Hamas verhindert, dass die Zivilisten in den Süden fliehen können, mit Straßensperren und Aufrufen in der Wohnung zu bleiben. Ob die Bodenoffensive militärisch geboten ist zum jetzigen Zeitpunkt, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein.
Ich halte die Bodenoffensive für zu früh, weil man mit Mitteln der Absperrung, sprich keine Wasserzufuhr, keine Lebensmittel, keine Medizin in den Norden des Gazastreifens, wo man also die Zivilbevölkerung aufgerufen hat, wegzugehen, viel erreichen kann. Aber das sind militärische Details, die wir hier im fernen Deutschland besser nicht erörtern. Das ist im Grunde genommen Beckmesserei.
Okay, lassen Sie uns noch einmal auf das strategische Planspiel schauen. Sie sprachen ja davon, dass die Hamas hofft, dass es einen Mehrfrontenkrieg gibt. Wie beurteilen Sie die Gefahr der Hisbollah, also im Süden des Libanons? Da gibt es immer wieder Meldungen über einzelne Angriffe. Aber eine richtige, harte militärische Auseinandersetzung scheint nach den uns vorliegenden Informationen nicht gegeben zu sein.
Es gab eine vorherige enge Koordination zwischen Hamas und Hisbollah und dem Iran, die Hisbollah Aktionen sind als zweiter Schritt ganz offenbar vorgesehen. Aber die Hisbollah hat auch in der Vergangenheit deutliche rationaler agiert als die Hamas. Aus den verschiedensten Gründen. Selbstverständlich ist die Hisbollah stärker, was das Material betrifft, was auch die Personalstruktur betrifft, als die Hamas. Aber auch die Hisbollah ist wegen ihrer Rationalität zumindest gegenwärtig nicht darauf versessen, eine militärische Konfrontation größeren Ausmaßes gegen Israel durchzuführen. Hinzu kommt, dass die Amerikaner bekanntlich zwei Flugzeugträger in die Region geschickt haben. Das heißt, wenn es eine Hisbollah Beteiligung geben sollte, dann muss auch Hisbollah mit nicht nur israelischen Gegenaktionen rechnen, sondern auch mit amerikanischen. Der dritte Faktor ist Syrien. Der Diktator Assad hat mit seinem immer noch andauernden Bürgerkrieg mehr als genug zu tun, scheidet also als wirksamer Kämpfer gegen Israel aus. Und der Iran, so abenteuerlich seine Politik scheint, ist ein höchst rationaler Stratege. Das kann man gerade auch in den letzten Tagen beobachten. Der Iran hat durch die erkennbare Schwäche des israelischen Militärs auch zumindest Zeit gewonnen, seinen politischen Einfluss in der Region zu festigen. Sollte Israel einen Schlag gegen den Iran geplant haben, sind diese Pläne erst einmal hinfällig.
Deswegen halte ich einen ein Eingreifen des Iran zum jetzigen Zeitpunkt für aus iranischer Sicht ausgesprochen kontraproduktiv.
Das heißt also, das palästinensische Volk ist nicht nur Geisel der Hamas, sondern auch Marionette letztlich im Spiel des Iran.
Das ist richtig. Und dann kommt die nächste Frage Warum lässt sich das palästinensische Volk das alles bieten und eben nicht zum ersten Mal? Die iranische Bevölkerung, die ja auch seit 40 Jahren unter einem schrecklichen Terrorregime leidet, hat sich mehrfach zumindest erhoben. Bedauerlicherweise bislang erfolglos, aber in einer Weise, die erkennbar werden lässt, dass die iranische Führung gefährdet ist. Vergleichbares gab es aus der palästinensischen Bevölkerung nicht. Und dafür gibt es verschiedene Gründe. Vielleicht ist der Sicherheitsapparat im Sinne der unterdrückenden politischen Eliten der Palästinenser stärker. Aber Tatsache ist, die palästinensische Bevölkerung hat sich bislang nicht aufgelehnt gegen den Missbrauch und die Geiselnahme ihrer selbst durch ihre Führung.
Wie ist die Rolle der Europäischen Union in diesem Konflikt? Zuerst hatte die Union verkündet, man wolle die Hilfen an die Palästinenser einstellen. Jetzt werden die Mittel verdreifacht. Welches Spiel spielt da Europa oder die Europäische Union zu?
Es ist ein Märchen, dass keine deutschen Gelder die Hamas erreicht hätten, dass ist entweder Selbstbetrug der jeweiligen regierungsamtlichen Stellen oder Unkenntnis oder, oder oder.
Bei der Europäischen Union ist es vielschichtiger. In der Europäischen Union gibt es Staaten wie Spanien, die traditionell einen eher pro palästinensischen Kurs fahren. Unter den Sozialisten in Irland gibt es eine Tradition, die quasi ungebrochen antiisraelisch ist. Und diese Staaten, wie auch die Südstaaten der Europäischen Union haben sich gegen das ist die Einstellung der Gelder gestellt.
Das ist die Wirklichkeit in der EU. Unsere Präsidentin der EU Kommission, Ursula von der Leyen, wurde kritisiert, weil sie unmittelbar nach den Angriffen als eine der ersten Spitzenpolitikerinnen Israel jetzt besucht hat. Also insofern nichts Neues unter der Sonne.
Wie erfolgt diese Umwidmung humanitärer Hilfen in Waffen und andere Terrormaßnahmen?
Die humanitäre Hilfe ermöglicht es, dass vorhandene Geld für Militär einzusetzen, für den Einkauf von Waffen oder von einzelnen Bestandteilen, aus denen man Waffen herstellen kann. Es behauptet ja niemand, dass etwa die Europäische Union und auch die Bundesrepublik Deutschland der Hamas Waffen geliefert hätte. Aber die Gelder, die aus Europa und Deutschland an die Hamas wie auch immer geflossen sind und das kann man nachweisen, die haben es ermöglicht, dass Hamas Massen von Waffen einkaufen konnte. Und das Israelische Militär staunt, wie viele Waffen man kaufen oder selbst bauen konnte in Gaza.
Nun ist der Gazastreifen an sich abgeschirmt. Wir erinnern uns, dass in früheren Jahren ewige Tunnel gebaut wurden, um da Waffen einzuschmuggeln aus Ägypten. Wie kann es sein, dass man das nicht bemerkt?
Die Abschirmung war also nicht so gut, wie es immer hieß. Insofern haben hier nicht nur die israelischen Kontrolleure versagt, sondern auch die internationale Presse, die wie Papageien nachgespielt hat, dass der Gazastreifen vollkommen abgeriegelt wäre. Und man vergesse nicht, dass es eben die Tunnel gibt. Man vergesse nicht, dass es einen breiten Küstenstreifen gibt. Und dieser Küstenstreifen war ganz offensichtlich nicht gut genug kontrolliert. In Bezug auf die technologische, die organisatorische Entwicklung sind die Palästinenser, vor allem der Hamas, auf der Höhe der Zeit und sehr geschickt. Nur politisch agieren sie kontraproduktiv und letztlich mörderisch ihrer eigenen Bevölkerung gegenüber – der israelischen Bevölkerung gegenüber ohnehin – und letztlich auch selbstmörderisch.
Sie sprachen gerade von den Beweisen, dass eben dieser Substitutionseffekt dazu führt, dass die Gelder, die zur Versorgung der Bevölkerung gedacht sind, für Waffenkäufe benutzt werden können. Welche Art von Beweise sind das?
Also da müsste ich jetzt ausführen und das würde ich auch schriftlich machen, das ist in diesem Rahmen nicht möglich. Es gibt Beweise, die sind bislang systematisch ignoriert wurden. Es ist auch ignoriert worden, dass es vor allem von den UN Behörden, allen voran Seitens des UNRWA, massive Kollaboration gegeben hat. Und diese Kollaboration hat sicherlich auch den Einkauf von Waffen enthalten. Jedenfalls wurden UNWRA-Einrichtungen zur Verfügung gestellt um Waffen zu lagern und von diesen Gebäuden aus militärische Aktionen gegen Israel einzuleiten. Und so weiter und so fort. Es ist ein Netzwerk der Kollaboration, das diese Aktionen erlaubt hat.
Lassen Sie uns doch mal in die Zukunft blicken. Mit einem Blick zurück zunächst. Israel hatte den Gazastreifen vorübergehend besetzt, dann geräumt und der Preis dieser Räumung war Frieden. Wenn es jetzt Israel gelingt die Hamas politisch wie militärisch zu beseitigen, was kommt danach für diese Gesellschaft von zwei Millionen Menschen. Es muss ja einen politischen Plan geben, der ansetzt, wenn die Militärs ihre Aufgabe erledigt haben.
Völlig richtig. Man muss aber hinzufügen, dass die Palästinenser im Gazastreifen im Jahre 2005 eine goldene Gelegenheit bekommen haben, eigentlich schon 1991, aber auch durch Terroraktionen verspielt haben. In beiden Fällen waren Pläne fix und fertig, national, israelisch und international aus dem Gazastreifen so etwas wie ein Singapur des Nahen Ostens zu machen. Oder, wenn Sie wollen, ein Hongkong des Nahen Ostens. Der Gazastreifen hat wunderbare Strände, diese könnten eine touristische Attraktion sein. Das Gebiet hätte eine Freihandelszone werden können. Und dann hatte die Hamas nichts anderes zu tun, als erstens die Fatah-Partei, also Landsleute, in einem Bürgerkrieg zu vertreiben und dann im Zweiten Schritt den Raketenkrieg und den Terror gegen Israel eskalieren zu lassen. Also politisch glatter Wahnsinn.
Was soll sein, wenn die Hamas nicht mehr da ist? Es wird überlegt, die palästinensische Autonomiebehörde einzusetzen. Das ist vielleicht bequem, aber nicht vielversprechend. Wir sehen ja, wie effizient Präsident Abbas und die Fatah das Westjordanland zugrunde richten. Das wäre also keine Empfehlung. Es bleibt also, wenn man rational die Sache sich ansieht, eigentlich nur eine Art von Internationalisierung des Gazastreifens. Denkbar entmilitarisiert, international durch Fachleute verwaltet, administriert, organisatorisch in welcher Weise auch immer, verbunden mit Ägypten. Denn die Geografie spricht eine eindeutige Sprache Der Gazastreifen grenzt an die Sinaihalbinsel, welche bekanntlich zu Ägypten gehört.
Es wäre also denkbar, dass es so etwas wie einen Staatenbund Ägypten und Gazastreifen gäbe. Dann hätte man eine quasi Staatlichkeit in der Übergangsphase einer internationalen Verwaltung und es gibt ja hoch begabte, hochqualifizierte Palästinenser aus der Diaspora, aber auch innerhalb des Gazastreifens, auch im Westjordanland, die bislang nicht zum Zuge gekommen sind. Die palästinensische Bourgeoisie ist hochgebildet und auch fähig, also mit internationalen Partnern, dem Gazastreifen ein Paradies zu machen. Und wie gesagt, eine föderative Möglichkeit, Ägypten mit Gazastreifen als Teilstaat Palästina in einem Staatenbund und oder Bundesstaat.
Aber, dass es weitergehen kann wie bisher, ist völlig ausgeschlossen; Und zwar im Sinne und für die palästinensische Bevölkerung, die dort lebt und die eine Zukunft verdient, die menschenwürdig ist.