Tichys Einblick
INTERVIEW TERROREXPERTE NICOLAS STOCKHAMMER

Antisemitische „Demonstrationen“ von Islamisten – steigt die Terrorgefahr?

Die antisemitisch-islamistischen „Demonstrationen“ sind Propaganda für extremistisches Gedankengut und sollten verboten werden, findet Terrorexperte Dr. Nicolas Stockhammer. TE sprach mit ihm über die Gefahr von Antisemitismus, Radikalisierung und Terrorismus durch die neuen Proteste im Zuge des Nahost-Konflikts.

Wien, 12.05.2021

IMAGO / photonews.at

Anfang Mai begann die islamistisch-palästinensische Terrororganisation Hamas gegen den demokratischen Staat Israel einen Terrorkrieg zu führen, der alle bisherigen Gewalttaten seit dem Gaza-Krieg von 2014 übertraf. Der Nahost-Konflikt erlangte eine neue Dimension, die sich auch auf Europa auswirkt. Seitdem begannen in Deutschland und europaweit eine Welle von pro-palästinensischen Demonstrationen, die zu einem großen Teil von einem Antisemitismus und einer Gewaltbereitschaft zeugen, der aufschrecken lässt. Organisiert wurden einige dieser von Organisationen, die entweder islamistischen Organisationen nahestehen oder sogar selbst solche sind. Auf den Straßen wurden Parolen gerufen wie „Kindermörder Israel“, „Beschießt Tel Aviv“ oder „Intifada bis zum Sieg“. Zugleich wurden Polizisten und Journalisten angegriffen. Der Höhepunkt fand sich in einer von Islamisten organisierten Demonstration in Hamburg: Schwarz gekleidete Protestierer riefen „Eine Ummah (die Gemeinschaft aller Muslime), eine Flagge“ aus, womit das Kalifat gemeint war. Wie sehr fühlen sich durch solche “Demonstrationen“ islamistische Akteure und radikale Muslime bestärkt, zu Gewalttaten zu schreiten? Steigt die Terrorgefahr in Deutschland und Europa – und besonders für Juden? Ein Gespräch mit dem Terrorexperten Dr. Nicolas Stockhammer.

TE: Herr Dr. Stockhammer, in den letzten Wochen offenbarte sich im Zuge anti-israelischer Proteste ein großer muslimischer Antisemitismus auf den Straßen Europas. Auf einigen Demonstrationen waren Akteure, die dem politischen Islam zuzuordnen sind. So hielt auf einer Demo in Berlin der Imam Mohamed Matar ein Gebet, der als „Radikal-Imam“ bekannt ist und dem eine Nähe zur islamistischen Muslimbruderschaft nachgesagt wird. Wie stark ist dieser muslimische Antisemitismus hier auch eine Folge durch Akteure und Organisationen des politischen Islam?

Nicolas Stockhammer: Dieses Problem, also der Nexus des politischen Islam und des Antisemitismus ist allgemein bekannt. Strukturen des politischen Islam schaffen gewissermaßen fruchtbare Umfeldbedingungen, in denen antijüdische Ressentiments kultiviert und als gerechtfertigt dargestellt werden – somit ungehindert weiter propagiert werden können. Einzelne Akteure dieser Organisationen wie der angesprochene Radikalprediger gießen bei öffentlichen Kundgebungen Öl ins Feuer und befördern mit ihrer extremistischen Rhetorik eine feindselige Stimmung.

Und woher kommen Ihrer Ansicht nach diese radikalen Ansichten, die sich auf den Straßen zeigten?

Diese sind tief in der unitaristischen Herrschaftsideologie des Politischen Islam verwurzelt. Zum einen der Anspruch auf Exklusivität im Sinne einer Ausgrenzung, zum anderen ein pathologischer Judenhass, der im Sinne einer simplen Feindbildkonstruktion immer wieder instrumentalisiert wird.

In Deutschland sind große Strukturen des Politischen Islam existent, die all die Jahre nicht kleiner geworden sind, sondern wachsen. Es lässt sich beobachten, dass besonders der Legalistische Islamismus, der ohne Gewalt seine Ziele versucht durchzusetzen, sich eine Authentizität zugelegt hat. Wird durch die Hintertür, nämlich in Anzug und Krawatte, seit Jahren nahezu unbemerkt Muslimischer Antisemitismus verbreitet und eine Neigung zur Radikalisierung mitgegeben?

Ja und ja. Hierzu muss man etwas ausholen: Die Muslimbruderschaft ist derzeit der einflussreichste Akteur des Politischen Islam in unseren Breitengraden, aber keinesfalls alleine, wenn es darum geht, islamistische Ziele durch die Hintertür auf das Tapet der öffentlichen Debatte zu bringen und ihnen damit eine Plattform zu bieten. Ein weitreichendes Netzwerk ermöglicht das Fortbestehen dieser Organisationen jenseits staatlicher Kontrolle und außerhalb des demokratiepolitischen Rahmens – beispielsweise abgesichert etwa durch das Vereinsrecht. Das Ziel des Politischen Islam ganz generell gesprochen, ist die Durchsetzung von islamischen Normen unter den Muslimen auf legalem Wege und die damit verbundene Schaffung entsprechender staatlicher Strukturen. Ihr Fokus und instrumentell ihre Propaganda richten sich insbesondere auf junge Zuwanderer der zweiten oder dritten Generation, indem sich zahlreiche Initiativen und Handlungen auf sportliche, religiöse oder soziale Vereinigungen, Aktivitäten und Vereine konzentrieren. Entsprechend seiner zugrundeliegenden Philosophie und Ideologie will der Politische Islam keine gewaltsame Revolution hervorrufen, sondern einen subversiven – evolutionären – Entwicklungsprozess durch- bzw. in Gang setzen, der dann im Idealfall zu einer islamischen Gesellschaft nach ihren manichäischen, vom Superioritätsgedanken des vermeintlich einzig wahren Islam getragenen Vorstellungen führt. Hiermit korrespondiert das permanente Agitieren und Aufhetzen gegen Juden und jüdische Institutionen beziehungsweise gegen Israel.

Ebenso leistet man der Radikalisierung von „anfälligen“ Individuen Vorschub. Aber stets unter dem Vorwand, man sei prinzipiell gewaltavers. Das stimmt nur insoweit, als Gewalt zwar als unmittelbare Protestform ausgeschlossen wird, aber inhärent – zum Beispiel als Aufrufe zur Gewalt – toleriert wird. Das ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu jihadistischen Gruppierungen, die gewaltsam Attacken und Anschläge verüben. Akteure des Politischen Islam zielen auf Subversion und trachten danach, den Staat mit formalrechtlich akzeptierten Methoden zu untergraben. Hierunter ist die Strategie zu subsumieren, sympathisierende Personen im eigenen politischen und rechtlichen System des Zielstaates für ihre Zwecke zu benutzen und somit Schwachstellen für eine fortschreitende Islamisierung zu identifizieren, beziehungsweise zu instrumentalisieren. Weiter wird dementsprechend ein Augenmerk daraufgelegt, das Entstehen von Parallelgesellschaften zu fördern und reale oder vermeintliche Spannungen innerhalb der Gesellschaft zu betonen. Vorderhand fordert man von Seiten der Akteure des Politischen Islam Muslime dazu auf, sich am westlichen Gesellschaftsleben zu beteiligen, zielt aber insgeheim darauf ab, die Gesellschaft langsam aber sicher auszuhöhlen und von innen subversiv zu islamisieren – der „Marsch durch die Institutionen“. Soweit die abstrakte, systemische Lagebeschreibung. Mit Blick auf aktuelle Ereignisse ist stets zu ermitteln, welche Gruppierung konkret mit welcher Intention hinter derartigen Vorgängen und Aktionen steckt.

Als Journalistin bin ich die letzten Jahre auf unzählige Social Media Accounts gestoßen, die von Islamisten betrieben werden und Hass gegen Israel und Juden schüren sowie islamistische Ideologie verbreiten – eine wie große Rolle spielen also die sozialen Medien in dieser Radikalisierung?

Das Internet ist neben dem Gefängnis der Hort der Radikalisierung. Islamistische Propaganda geistert weiterhin ungefiltert sowohl im arabischen Original als auch in diversen deutschen, englischen, französischen und russischen, stets akkuraten Übersetzungen durchs Netz. Propagandistische Hochglanzmagazine mit einem Layout, wie man es aus Lifestyle-Publikationen kennt und Videos von hoher technischer Qualität im NS-Wochenschaustil, downloadbar über dubiose Netzwerke oder obskure Webseiten, in denen eine professionell arbeitende Medienabteilung des IS das grausame Morden im Namen Allahs inszenierte, als sei der Jihad ein Actionfilm in Hollywood-Manier, konnte man von Seiten der Internetprovider oder der Webspezialisten der Sicherheitsbehörden erst sukzessive löschen. Sie sind wie der Kopf der Hydra, der stetig nachwächst. Social Media Accounts und vor allem Telegram-Kanäle sind der bevorzugte Dispersionsort für Propaganda und Hassbotschaften. In letzter Zeit, durch den hergestellten Zusammenhang mit den Bombardements in Israel, natürlich ebenso vermehrt antisemitische. Warum soziale Medien? Man erreicht sein Zielpublikum direkt, kann sich die Schnelllebigkeit der neuen Medien zunutze machen und (manchmal lange) unentdeckt Propaganda verbreiten. Gegebenenfalls, sollten Behörden intervenieren, ist es möglich, auch plötzlich umzuschalten und den Account zu löschen bzw. Inhalte zu verlagern.

Unter vielen Demonstranten mischten sich oft Anhänger der Hamas, der Muslimbruderschaft und der türkisch-rechtsextremen Grauen Wölfe. Unter dem Schwenken der Palästina-, Türkei-, Hisbollah- oder Hamas- Flagge wurden gewaltverherrlichende Parolen wie „Allahu Akbar“ (Gott ist groß) und „Intifada bis zum Sieg“ gerufen. Wie hoch schätzen Sie ein Radikalisierungspotenzial durch solche Demonstrationen – einerseits bei Teilnehmern, andererseits bei Zuschauern?

Unterschiedlich. Dies ist in hohem Maße von den spezifischen Gruppen abhängig, sowohl seitens der Organisatoren als auch der Besucher. Es geht darum: wer die Message verbreitet, wie glaubwürdig die Proponenten dieser Ideen sind und wie groß die Bereitschaft der Besucher ist, diesem Gedankengut Glaubwürdigkeit zu attestieren. Ein klassisches Sender-Empfänger-Phänomen.

In Hamburg fand eine Demonstration statt, die von einer Nachfolgeorganisation der verbotenen Hizb ut-Tahrir (HuT) organisiert wurde. HuT-Flaggen fanden sich in einem großen Ausmaß auch auf anderen Demonstrationen in Deutschland. Wer genau ist die Hizb ut-Tahrir?

Dies ist eine dem Politischen Islam zuzurechnende Organisation, die der salafistischen Kalifats-Utopie und der Scharia als vermeintlich einzig Islam-kompatible Rechtsprechung anhängt, jedoch zur Verwirklichung ihrer Ziele Gewalt als Mittel ausschließt. Dabei ist sie stark antisemitisch und anti-westlich grundiert. Es ist im Kern eine stark pro-palästinensische Ausrichtung zu registrieren, die auch propagandistisch im Zuge von Kundgebungen als Anti-Israel Narrativ ihren Ausschlag findet.

An diesem Tag „demonstrierten“ in Hamburg offen Islamisten auf der Straße, sie waren durch ihre einheitliche Kleidung uniformiert, standen wie Krieger in einer Reihe, hielten eine islamistische Flagge in der Hand, brüllten antisemitische Parolen, Vernichtungsphantasien und riefen zur „Ummah“ auf, womit sie das Kalifat meinten. Das könnte man als eine öffentliche Werbung für Islamismus auf unseren Straßen werten. Wie gefährlich sind solche Demonstrationen von Islamisten, die ihre radikalen Fantasien und Ansichten demonstrieren?

Zur Klarstellung: Die Grenzen der freien Meinungsäußerung – das ist für mich ein enorm wichtiges Verfassungsprinzip – sind dort, wo verfassungsmäßige Grundrechte bzw. die freiheitliche Demokratie, die diese Rechte gewährleistet in Frage gestellt werden. Mit Popper könnte man folgern: Intoleranz den Intoleranten. Aus meiner Sicht sollte dies verboten sein. Konkret zu Ihrer Frage: Ja, dies ist als Propaganda und öffentliche Werbung für extremistisches Gedankengut unter dem Deckmantel einer spezifischen Auslegung politischer Interpretationen von religiösen Grundsätzen zu qualifizieren. Wie zuvor erwähnt, dies ist zu unterbinden, weil staatsgefährdend und hetzerisch. Dadurch soll die Gesellschaft gespalten werden.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr für islamistischen Terror derzeit in Deutschland und Europa ein, vor dem Hintergrund dieser vergangenen Demonstrationen? Fühlt sich eine islamistische Bewegung durch diese Demonstrationen gestärkt und wächst sie dadurch?

Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus in Europa keineswegs gebannt ist. Die Pandemie hat das Geschehen, mit Ausnahme der „Charlie Hebdo“ Terrorwelle im Herbst 2020 (Paris-Dresden-Nizza-Wien), eher verlangsamt. Dennoch gibt es zwei Treiber für eine zunehmende Bedrohung durch den Jihadismus in Europa:
Erstens das nachhaltige Einsickern von Kriegsheimkehrern (FTF – Foreign Terrorist Fighters ) aus Syrien und dem Irak in den Schengen-Raum. Zweitens die sogenannte „Homegrown Radikalisierung“ von bereits ansässigen Jihad-Sympathisanten durch das Internet oder in extremistischen Moscheen und auf freien Fuß gesetzten Strafgefangenen, die Haftstrafen wegen einschlägiger Delikte verbüßt hatten. Natürlich haben Demonstrationen, wo entsprechend Radikalisierte und Anwerber ungehindert islamistische Parolen zum Besten geben eine katalysatorische Wirkung. Das Potenzial der Radikalisierbarkeit wird vollends ausgeschöpft und erreicht breitere Adressatengruppen auch aus einem moderaten Milieu.

Wir haben in Deutschland auch während der Pandemie eine grundsätzliche Terrorgefahr. Vor kurzem wurde bekannt, dass eine Terrorzelle des Islamischen Staates (IS) in Nordrhein-Westfalen Anschläge in Deutschland geplant hat. Bekommen Terrorgruppen wie der IS in Deutschland stärkeren Zulauf durch eine gewisse radikale Grundstimmung, die aufgrund solcher antisemitischer Demonstrationen entsteht? Wie schätzen Sie die Terrorgefahr derzeit ein?

Analog zur vorherigen Antwort: Die Terrorgefahr ist gleichbleibend hoch, aber doch eher abstrakt. Erkenntnisse über konkrete Planungen und Verdachtsmomente ergeben sich immer wieder als Kollateraleffekt von ausgeweiteten Ermittlungen. Im Falle der NRW-Zelle war der Verfassungsschutz offenbar schon länger einer verdächtigen Gruppe auf der Spur.

Fast 200 Menschen demonstrierten vor einer Synagoge in Gelsenkirchen. Ein antisemitischer Mob skandierte Parolen und verbrannte Israel-Flaggen. Auch in Frankfurt gingen Protestierer zielgerichtet auf eine Synagoge zu; ein Anmelder war das palästinensische Netzwerk „Samidoun“, das in Israel als Terrororganisation gilt und der terroristischen „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP) nahesteht. Samidoun war auch Organisator am Berliner Hermann-Platz, wo sich Anhänger von islamistischen Terrororganisationen versammelten und extreme antisemitische Vernichtungsphantasien bekundeten. Besteht derzeit eine größere Gefahr, dass islamistisch-palästinensische Terroranschläge gezielt auf jüdische Einrichtungen und Juden in Deutschland und Europa stattfinden könnten?

Das ist nicht auszuschließen. Aber ich denke, dass gerade in diesem Bereich die Sicherheitsbehörden besonders alert sind und auf verdächtige Signale achten.

Vielen Dank für das Gespräch!

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