Professor Rupert Scholz ist renommierter Staatsrechtler sowie Mitautor und -herausgeber des als Standardwerk geltenden Grundgesetzkommentars „Maunz/Dürig/Herzog/Scholz“. Er war Berliner Senator für Bundesangelegenheiten und danach Bundesminister der Verteidigung. Später war er Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages.
Tichys Einblick: Bei jeder Wahl gibt es Unregelmäßigkeiten, aber zumeist sehr vereinzelt und begrenzt. So ein flächendeckendes Versagen kennen wir aus der Geschichte der Bundesrepublik nicht. Man versteckt sich ja in Berlin hinter so einer schrecklichen Formulierung, die lautet „mandatsrelevant“. Ist diese Mandatsrelevanz die Schutzklausel, hinter der man jetzt letztlich das Versagen der Wahlorganisation verstecken kann?
Rupert Scholz: Nein, verstecken kann man nicht. Wahlen sind massentypische Prozesse – und es geht um Menschen. Dass das ein oder andere Versehen – und ich sage bewusst Versehen – dabei passiert, ist normal. Und sofern die Mängel keine Auswirkungen auf die Mandatsvergabe haben, darf es dabei bleiben. In diesem Fall sieht es aber anders aus. Hier sind die Mängel so massiv, und es ist vor allem manipuliert worden. Ich erinnere hier an die Äußerungen des damaligen Innensenators Geisel, der sofort erklärt hat, es handele sich lediglich um ein paar Versehensfälle, und es sei nichts wirklich Relevantes passiert. Das war schon eine sehr kühne Äußerung. Er konnte zu dem Zeitpunkt auch gar nicht wissen, was wirklich passiert ist. So hat man begonnen zu manipulieren und zu verstecken – das hat die ganze Geschichte noch schlimmer gemacht.
Das demokratische Wahlrecht des Bürgers ist das entscheidende Element einer Demokratie. Es ist das einzige Element, wo wir Bürger die Möglichkeit haben, das Schicksal unseres Staates, das Schicksal unserer Politik mitzubestimmen. Und da muss man nun mal besonders sorgfältig sein. Wenn die Mängel mandatsrelevant sind, also ein anderes Ergebnis hätte rauskommen können, dann muss neu gewählt werden. Der Bundeswahlleiter Thiel hat sich ja bereits deutlich dazu geäußert. Er sieht in sechs von zwölf Berliner Wahlkreisen so massive Mängel, dass dort neu gewählt werden muss. Das sind 50 Prozent der Wahlkreise, und demokratiestaatlich gesehen eine verheerende Aussage.
Man muss sich auch klar machen – ein Parlament, das mit solch erheblichen Mängeln gewählt worden ist, insbesondere das Berliner Abgeordnetenhaus, büßt ja auch massiv an Legitimität ein. Das ist eben nicht das, was der Souverän gewählt hat. Sobald ein berechtigter Zweifel besteht, dass eine korrekt durchgeführte Wahl ein anderes Ergebnis hervorgebracht hätte, findet keine adäquate Repräsentanz aller Bürger statt, wie es unsere Verfassung vorsieht. Der Berliner Senat ist nicht demokratisch legitimiert und darf allenfalls geschäftsführend bis zu einer Wahlwiederholung im Amt bleiben.
Neben der Versehenstheorie gibt es ja auch die Verschleppungstheorie, nämlich dass der Verfassungsgerichtshof von Berlin Verfahren verschleppt – um Monate oder Jahre. Wie ist das zu erklären?
Das ist eine Frage der unabhängigen Justiz. Unabhängige Justiz bedeutet auch eine autonome Gestaltung dessen, wie Prozesse terminiert werden. Es gibt das Prinzip des effektiven Rechtsschutzes, der effektiven Rechtsschutzgewähr – das ist ein Recht des Bürgers. Das ist verfassungsrechtlich in der grundrechtlichen Schutzposition des Bürgers angelegt. Wenn jemand klagt und seine Klage wird auf Halde gelegt, ist das ein weiterer Rechtsverstoß, ein Rechtsverstoß gegen seine Grundrechte. Auch gegen sein demokratisches Wahlrecht als Kandidat. Wenn dieser Vorwurf sich voll realisieren sollte, wäre das eine zweite Katastrophe für unseren demokratischen Rechtsstaat.
Unsere Demokratie hat schweren Schaden genommen, das ist eindeutig und bewiesen inzwischen, trotz der Manipulations- und Verschleierungsversuche, die von sogenannter offizieller Seite gemacht worden sind. Aber wenn wir jetzt einen entsprechenden Rechtsstaatsverstoß bei unseren höchsten Gerichten auch noch feststellen müssten, wäre das wirklich für diesen demokratischen Rechtsstaat verheerend. Auch der Verfassungsgerichtshof muss hier ordentlich, rechtsstaatlich arbeiten und operieren. Er hat diese hohe Verantwortung, und der muss er gerecht werden.
Wir reden jetzt sehr viel über Berlin. Aber was bedeutet es für den Bund, für den Deutschen Bundestag, was bedeutet es für die Abgeordneten der Linken? Ist es möglich, dass sich auch auf der Bundesebene etwas verschiebt, wenn diese Wahl insgesamt ungültig wird?
Die Linke ist ja nicht über die 5-Prozent-Hürde in den Deutschen Bundestag gekommen, sondern wegen der drei Direktmandate, die sie geholt hat. Wenn man drei Direktmandate erreicht, ist das Minus bei der 5-Prozent-Hürde ausgeglichen. Wenn die Linken eines ihrer Direktmandate in Berlin verlieren, fliegt ihre gesamte Fraktion aus dem Deutschen Bundestag – das ist elementar. Für die Linke geht es hier buchstäblich um die Existenz. Und es bedeutet natürlich auch, dass die Mandate der Linken auf die anderen Parteien im Bundestag verteilt werden würden.
Wenn wir uns das mal genau anschauen: Wir haben einen Innensenator Geisel, der hat versagt. Wir haben einen Senat, der nimmt das billigend in Kauf; wir haben ein Gericht, das verzögert und versucht, das Ganze nicht auffallen zu lassen; wir haben Parteien, die aus verschiedenen Gründen das Ganze lieber unter den Teppich kehren und sagen ‚besser wir haben ein paar Mandate als vielleicht gar keine‘. Wie kommt man denn aus dieser verfahrenen Situation wieder heraus?
Es gibt ja Kontrollinstanzen, aber es wird nicht immer kontrolliert, wer Kontrolleur ist. Nehmen wir mal das Beispiel des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages. Das sind Abgeordnete. Ich will keinem der Abgeordneten unterstellen, dass er sagt, wenn die Bundestagswahl nochmal überprüft wird, ist vielleicht auch mein Mandat gefährdet. Aber da ist natürlich diese Gefahr. Wenn wir aber eine stabile Demokratie erhalten wollen, müssen wir Institutionen haben, denen man vertrauen darf. Jede Demokratie bedingt Vertrauen des Bürgers.
Sie sehen Rupert Scholz zum Thema auch in der neuen Ausgabe von Tichys Ausblick: