Tichys Einblick
Gespräch mit Schlomo Schafir

Putin und die Nato leiden am Spielersyndrom

Schlomo Schafirs Eltern gehörten zu den wenigen Juden der baltischen Stetl, die den Holocaust überlebt hatten, er konnte in den Siebzigern nach Israel auswandern. Dort nahm er am Jom-Kippur-Krieg teil und arbeitete später in der Elektrizitätsversorgung und später als Professor der Hochschule Stralsund. Tomas Spahn sprach mit ihm.

Bundeskanzler Olaf Scholz und der russische Präsident Wladimir Putin in Moskau, 15.2.2022

IMAGO / SNA

Schlomo Schafir: Ich bin gebürtiger Sowjetmensch – aus dem damals russisch verwalteten Litauen. Als Jude – meine Eltern gehörten zu den wenigen Juden der baltischen Stetl, die den Holocaust überlebt hatten – konnte ich in den Siebzigern nach Israel auswandern. Dort nahm ich aktiv am Jom-Kippur-Krieg teil und arbeitete später auf der Westbank mit den dortigen Arabern an der Elektrizitätsversorgung der dortigen Dörfer. Dann führte mich mein Weg nach Deutschland und in die Schweiz, wo ich bei AEG-Westinghouse und Schindler AG Managementpositionen bekleidete. Zuletzt war ich als Professor an der Hochschule Stralsund tätig. Heute lebe ich in Berlin.

Tomas Spahn: Sie haben dieser Tage ein Buch mit der Lebensgeschichte Ihrer Mutter veröffentlicht, die mit 14 Jahren in das KZ Stutthof deportiert wurde und den Krieg nur mit sehr viel Glück überlebte.

Ja, es ist die Geschichte meiner Mutter, die hochbetagt in Tel Aviv lebt und die ich gerade jetzt in Israel besucht habe. Es ist aber noch mehr. Es ist eigentlich die Geschichte des osteuropäischen Judentums im zwanzigsten Jahrhundert, es ist neben dem Ruf nach Menschlichkeit eine Geschichte von Krieg und Verblendung, von Zerstörung und Selbstzerstörung, von dem, was Menschen bereit sind, Menschen anzutun. Es ist ein Plädoyer gegen jede Form von Krieg und Hass.

Umso mehr muss Sie doch das, was jetzt in der Ukraine geschieht – wie soll ich sagen – zutiefst verstören?

Dieser Krieg ist furchtbar. Er ist so fürchterlich! Fürchterlich unsinnig. Fürchterlich zerstörend und fürchterlich verstörend. Wir alle hatten geglaubt, dass ein solcher Wahnsinn nach dem Abschlachten des Zweiten Weltkriegs endlich überwunden sei! Und dann geht es wieder los! Und das wegen irgendwelcher ideologischen, rückwärtsgewandten Verblendungen. Der Krieg in der Ukraine ist fürchterlich und wir, die Juden in Deutschland, fühlen uns davon sehr betroffen. Auch weil so viele Verbindungen dorthin bestehen, zu beiden Kriegsparteien. Meine Frau kommt aus St. Petersburg und ich aus der Stadt Kaunas in Litauen. In unserer Familie gibt es viele familiäre Verbindungen in die Ukraine und nach Russland – so viele Freunde und Bekannte in beiden Ländern!

Haben Sie noch Kontakt?

Das ist unterschiedlich. Nach Russland gibt es im Moment noch keine Probleme. Doch mehrere Freunde aus Russland haben uns nun gebeten, ihnen keine WhatsApp-Videos oder Briefe zu schicken, die sich auf den Krieg in der Ukraine beziehen. In Russland sind allein dafür jetzt hohe Strafen vorgesehen. Anders ist das zu den Freunden und Bekannten in der Ukraine. In manche Gebiete haben wir noch Verbindungen. Aber in den Donbass ist der Kontakt tot. Wir, meine Frau und ich, haben seit acht Jahren, als die sogenannten Separatisten die Region übernahmen, regelmäßig einer Familie im besetzten Donezk mit Nahrungsmitteln, Hygieneartikeln und anderen wichtigen Dingen geholfen. Es handelt sich dabei um die Mutter und den Bruder einer Ärztin in Australien, mit der meine Frau, selbst Ärztin, seit Langem befreundet ist. In Australien ist das Verschicken von Paketen mit Lebensmitteln teilweise verboten und zudem unwahrscheinlich teuer. Auch kann der Versand bis zu einem halben Jahr dauern – wenn die Pakete in diesem Kriegsgebiet überhaupt ankommen. Deshalb hatten wir das übernommen.

In Berlin gab es all die Jahre einen Transportdienst, der die Waren innerhalb von drei bis vier Tagen nach Donezk brachte. Über Umwege haben wir gehört, dass die Familie die ganze Zeit im Keller sitzt und hofft, dass das alles schnell vorbeigeht. Glücklicherweise hatten wir noch kurz vor dem Überfall ein Paket mit 20 Kilogramm Lebensmitteln verschickt. Das ist für die Familie gerade jetzt sehr wichtig. Aber künftig wird das nicht mehr funktionieren. Wir machen uns große Sorgen, wie die Situation dort ist, wie es sich entwickelt, wie es den Familien geht

Was hören Sie denn bei Ihren Kontakten mit den Menschen in der Ukraine?

Wir hören, dass die Menschen in den Bussen nur das mitnehmen können, was sie am Körper tragen. Dadurch können mehr Leute gerettet werden. In den überfüllten Bussen gibt es meistens keine Möglichkeit, die Toilette zu benutzen. Das Gleiche gilt auch für U-Bahn-Stationen, die als Schutz vor den Bomben benutzt werden. Die sind für den dauerhaften Aufenthalt von Menschen nicht vorgesehen. Und schon gar nicht für das Gebären von Kindern! All das erschüttert uns hier, im friedlichen Berlin, zutiefst.

Gibt es etwas, das Sie persönlich tun können?

Mein Sohn und seine Frau haben hier bei sich in ihrer Berliner Wohnung zwei ukrainische Familien aufgenommen. Oder besser: zwei Frauen mit vier kleinen Kindern. Die Männer sind ja in ihrer Heimat geblieben, um gegen die Angreifer zu kämpfen. Wir werden in den nächsten Tagen Freunde aufnehmen, die über Sankt Petersburg und Finnland kommen wollen. Es ist völlig offen, wie lange all diese Menschen bei uns bleiben werden. Die Tochter eines Freundes hat gemeinsam mit ihrem Mann einen Antrag zur Adoption eines jüdischen Waisenkindes aus Odessa gestellt. Doch all das ist nichts angesichts des Leids, das über die Ukraine gebracht wurde. Zudem gibt es auch Leidtragende, die nicht unmittelbar und dennoch direkt betroffen sind.

Was meinen Sie damit konkret?

Sehr viele unserer Bekannten in Deutschland und in Berlin hatten bis jetzt in Russland geschäftliche Verbindungen, ihr Geld bei russischen Banken angelegt und ihre früheren Wohnungen aus der Zeit, bevor sie nach Berlin kamen, vermietet. Die Mieteinnahmen sind für sie wichtig, aber jetzt ist das alles wegen der Unmöglichkeit des Geldtransfers unmöglich geworden.

Ganz besonders trifft es auch Rentner aus Russland, die heute in Berlin und in Israel leben. Sie haben ihre wenn auch bescheidene Rente aus Russland bekommen. Nun schlagartig ist das nicht mehr möglich. Zudem sind manche wie beispielsweise Studenten darauf angewiesen, von ihren Familien in Russland unterstützt zu werden. Das funktionierte häufig durch unmittelbaren Geldtransfer von Verwandten, die dort erfolgreich ihre Geschäfte betrieben. Auch das ist jetzt vorbei. Die auf familiäre Hilfe angewiesenen Menschen wissen jetzt nicht, wie sie ihre Miete bezahlen sollen. Es ist nur ein Beispiel, aber ganz schlimm ist es für eine befreundete Studentin in Tel Aviv, die darauf angewiesen war, von ihrem Vater monatlich Geld zu bekommen. Sie weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll.

Ein anderer Fall ist der Inhaber eines Restaurants mit russischer Küche, das einer jüdischen Familie gehört. Sie haben nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine kaum noch Gäste. Aber was haben sie mit Putin zu tun? Nichts! Ich kenne einige Geschäftsleute in Russland und Deutschland, deren Geschäfte nun kurz vor dem Bankrott stehen. Sie sind durch das, was man Politik nennt, ins Nichts gestoßen worden. So hatte ein guter Freund von uns ein russisches Patent mit allen Technologien gekauft, mit dem weltweit die Abfallentsorgung ohne jegliche schädlichen Überreste möglich werden sollte. Für ihn bricht im Moment alles zusammen, weil er nicht mehr an das Erworbene kommt und ihm die Mittel ausgehen.

Und wie wird der Krieg von jenen gesehen, die mit russischen Wurzeln in Deutschland leben?

Auch da reißen Gräben auf. In unserem engsten Freundeskreis gibt es hier in Berlin einige, die vorbehaltlos hinter Putin stehen. Ärzte, Geschäftsleute, Schriftsteller – Personen, von denen man dachte, dass sie sich einen klaren Blick auf die Welt bewahrt haben. Doch sie beziehen ihre Informationen nur aus den russischen Medien, sind von der Propaganda und deren Erklärung des Krieges geblendet. Unter diesen Umständen ist für einige Zeit eine vertrauensvolle Beziehung mit ihnen nicht mehr möglich. Wir haben mit ihnen vereinbart, für einige Zeit nicht mehr über den Krieg zu sprechen. Aber es wäre naiv zu glauben, dass das funktioniert. Allerdings scheint es manchen von ihnen langsam bewusst zu werden, dass sie einem riesigen Propagandaapparat aufgesessen sind.

Wie sieht es in Ihnen persönlich aus?

Irgendwie weigert sich der Verstand, das alles für real zu nehmen. Eineinhalb Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine während der ersten zehn Tage! Eineinhalb, bald zwei Millionen Frauen mit Kindern und ein paar ältere Menschen, die der Kriegswalze entrinnen wollen. Das sind zwei und bald noch mehr Millionen zerbrochene Familien, Frauen und Kinder, die ihre Männer und Väter zurückließen und vielleicht niemals wiedersehen werden. Die wehrpflichtigen Männer müssen in der Ukraine bleiben und ihr Land verteidigen. Alle zwischen 18 und 60 – die Lebenserwartung der Männer in Russland und der Ukraine lag schon vor dem Krieg nur bei 65 Jahren. Wenn der Krieg andauert, rechnet die UN mit zwölf Millionen Flüchtlingen. Das sind dann über 20 Millionen zerbrochene Leben. Das ist die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung. Und all das wofür?

Was denken Sie über Selenskyi?

Selenskyj stammt aus einer jüdischen Familie in der Ukraine, die vor dem großen Krieg vier Söhne hatte. Drei von ihnen sind im Zweiten Weltkrieg von den Nazis ermordet worden. Selenskyj ist der Enkelsohn des vierten Bruders – der Einzige, der den Holocaust überlebt hatte. Selenskyj wurde mit großer Mehrheit der Bevölkerung gewählt. Und ja: Bei den Wahlen haben ultrarechte Nationalisten vor allem in der Westukraine große Unterstützung erhalten. Aber in einem demokratischen Nationalstaat gibt es immer rechte und linke Flügel. Das gehört dazu, und damit muss und kann eine freie Gesellschaft leben. Das Land und die ganz große Mehrheit seiner Menschen sind demokratisch, auf keinen Fall sind sie faschistisch. Und nun soll ausgerechnet der Jude Selenskyj, dessen Familie kaum den Holocaust überlebt hatte, der Chef von Faschisten sein. Deswegen also hat Putin das Ziel ausgegeben, die Ukraine zu entnazifizieren? Das ist doch einfach nur noch absurd!

Apropos Putin: Wie gefährlich ist dieser Mann?

Er droht mit dem Einsatz von taktischen Atomwaffen. Das ist jedenfalls außerordentlich gefährlich. Dabei galt er, als er zur Macht kam, als liberaler KGB-Offizier. Doch die absolute Macht scheint ihn verändert zu haben.

Putin nutzt kein Internet und bekommt wie einst zu Sowjetzeiten zu allen Fragen nur die ausgesuchten Berichte seiner Mitarbeiter. In der jetzigen Situation deutet vieles darauf hin, dass er in gewisser Weise Opfer seiner selbst produzierten Verstrickungen geworden ist. Die Geheimdienste, die niemals damit gerechnet hatten, dass Russland tatsächlich die Ukraine überfallen würde, hatten ihm Informationen geliefert, die die Situation so beschrieben, wie Putin sie sich vorstellen wollte. Dazu gehörte es auch, den Widerstand und Selbstbehauptungswillen der Ukrainer und das geeinte Vorgehen der westlichen Welt völlig unterschätzt zu haben. Er rechnete mit einem Blitzkrieg und einem Blitzsieg und ist nun in eine Sackgasse geraten.

Macht ihn das nicht noch gefährlicher?

Heute muss man vor Putin Angst haben. Er ist in einer Situation wie einst Hitler in seinem Bunker vor dem Untergang. Vielleicht findet Putin wie Roms Nero in der brennenden Ukraine Genugtuung. Vielleicht will er, dass die Geschichte des Russischen Imperiums auf ewig mit seinem Namen verbunden bleibt. Das hat alles nichts mehr mit einer realistischen Weltbetrachtung zu tun. Bei all dem bin ich überzeugt: Hätte die Nato in Georgien und in der Krim die Härte und Konsequenz von heute gezeigt, dann hätte dieser Krieg gegen die Ukraine nicht stattgefunden.

Also eine westliche Mitschuld?

Ich bin weder Politiker noch Historiker – nur ein in Deutschland lebender Jude mit sowjetischen Wurzeln. Als Laie versuche ich die Situation, soweit es mich betrifft, mit meiner Lebenserfahrung zu verstehen. Ich sehe Putin und die Nato als zwei Spieler mit einem Spielersyndrom, das so schwer heilbar ist wie eine Heroinsucht. Je größer die Verluste sind, umso mehr steigen die Einsätze. Weder Putin noch die Nato sind bereit, in diesem Spiel aufzugeben. Bei den Hauptspielern geht es, so sehe ich das, weder um die Ukraine noch um die Menschen, die sie opfern. Ihnen geht es um die geopolitische Neuaufteilung der Welt.

Ich verstehe die gegenwärtige Lage so, dass auch ein gegenseitiger Einsatz von atomaren Waffen nun wieder möglich wurde. Während meiner Ausbildung zum Ingenieur in der UdSSR der Sechzigerjahre wurde uns auch die damalige Strategie eines atomaren Krieges der Sowjetunion in Europa erklärt. Da galt es, als erstes Deutschland dem Erdboden gleichzumachen und dann die russischen Panzer weiter nach Westen rollen zu lassen. Aber auch das waren nur Kriegsspiele – Machtphantasien. Die Ukraine scheint einmal mehr zu zeigen, dass nichts so funktioniert, wie das in den Hinterzimmern der Macht erdacht wird. Besser allerdings wird es dadurch nicht.

Können Sie bei solchen Vorstellungen noch ruhig schlafen?

Was mich persönlich betrifft, bleibe ich bei all dem ganz ruhig. Verändern kann ich als einfacher Mensch sowieso nichts.

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