Zwangshandlungen und auch Zwangsgedanken sind in der Psychiatrie ein ernstzunehmendes Krankheitsbild, bei dem die Angst der Motor ist. Dabei werden die Inhalte immer wieder (sinnlos) wiederholt und der Patient gerät in immer größere Unfreiheit. Kurzfristige Erleichterung und scheinbare Sicherheit schafft das Zwangsritual (etwa der Waschzwang), aber genau dadurch wird auf lange Sicht die Angst – und damit der Zwang – verstärkt. In so einer Angstspirale befinden sich viele Zeitgenossen.
TE: Herr Bonelli, macht uns der Kampf gegen Corona als Gesellschaft stärker?
Raphael Bonelli: Schon das Wort Kampf halte ich aus psychiatrischer Sicht für gefährlich. Es geschieht nämlich allzu schnell, dass die berechtigten Anstrengungen zur Eindämmung einer Krankheit in einen Kampf gegen Menschen münden. Wir erleben das bereits. Das wiederum führt zu der inzwischen nicht mehr unbegründeten Angst, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Ungeimpfte Menschen gelten als Gefährder, als Schuldige, der gedankliche Schritt zum ‚Die müssen weggesperrt werden‘ ist dann nicht mehr sehr groß. Dahinter verbirgt sich ein Sicherheitsdenken, vor dem ich als Psychiater warnen muss.
Die Menschen haben Angst, schwer zu erkranken. Halten sie dieses Sicherheitsbedürfnis nicht für begründet?
Sicherheitsbedürfnis ist etwas ganz Normales, aber aus der Praxis kann ich berichten, dass mit der Angst auch die Zwangsneurosen sehr stark zunehmen. Zudem haben in der Zwischenzeit viele Menschen nicht nur Angst vor dem Virus, sondern auch vor den Maßnahmen, die sie ausgrenzen. Andere wiederum entwickeln große Ängste vor den Impfstoffen oder verstricken sich in Wahnvorstellungen über unsichtbare Mächte. Auch haben immer mehr Menschen Angst vor einer Wirtschaftskrise oder sogar vor einem Bürgerkrieg. Als Psychiater haben wir über Waschzwänge liebevoll gelächelt und den Patienten geholfen, die Gefahren richtig einzuschätzen, aber Corona hat eine kollektive Zwangsneurose ausgelöst, der nicht viel entgegengesetzt werden kann. Viele Menschen fühlen sich in die Ecke gedrängt und können die Angst nicht mehr reflektieren. Im Ergebnis werden Menschen aggressiv, da sie ja vor Corona schlecht fliehen können.
Woran machen Sie das fest?
Die Corona-Maßnahmen werden zum Teil mit großer Aggressivität durchgesetzt. Denken Sie an Menschen, die von ihrem Arzt von der Maskenpflicht aus medizinischen Gründen befreit wurden. Diesen kranken Menschen werden plötzlich Vorhaltungen gemacht, das Attest sei gefälscht oder ihr Arzt sei ein Verbrecher. Das geht soweit, dass Maskenbefreite nicht mehr in Kirchen dürfen. Seit wann diskriminiert die Kirche Menschen mit Behinderungen? Die Diskussion um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ist aus Angst, die vermeintlich falsche Position zu vertreten, zum Tabu geworden! Das befördert die Spaltung, statt sie zu heilen.
Halten Sie die Maßnahmen also für unverhältnismäßig?
Uns Menschen ist etwas entglitten, wir haben die Kontrolle verloren. Das Leben an sich ist ja immer schon lebensgefährlich. Es ist gefährlich, sich ungesund zu ernähren, es ist gefährlich am Straßenverkehr teilzunehmen. Aber viele Corona-Angstpatienten können die Verhältnismäßigkeit ihrer Ängste nicht mehr reflektieren. Wenn man einfach auf „Nummer sicher gehen“ möchte, macht man immer zu viel. Wir sind im Leben nie ganz sicher. Der wesentliche Punkt ist, dass durch die Zwangshandlungen die Freiheit nicht mehr vorhanden ist. Die Hoffnungen auf die Impfungen beruhen nicht darauf, dass jemand ihre exakte Wirksamkeit einschätzen kann, sondern weil eine Lösung suggeriert wird, die Angst nehmen soll. Großeltern, die aus Angst ihre Enkel nicht mehr sehen wollten, treffen sich nun wieder ganz normal.
Die Maßnahmen wurden uns aber doch von der Politik als notwendig auferlegt?
Politiker sind auch nur Menschen. Epidemiologisch sehen sie auch nicht weiter in die Zukunft als jeder von uns. Aber bei Politikern kommt die Angst vor den nächsten Wahlen dazu. Die Angst, einen Fehler zu machen, den unsere unbarmherzige Gesellschaft nicht verzeiht. „Sicher ist sicher“ und „Lieber zu viel als zu wenig“ sind oftmals die Maximen. So erklärt sich auch, dass Politiker sicherer auftreten, wenn sie aggressiv Maßnahmen fordern und für Sicherheit stehen wollen. Da haben wir den berühmten „starken Mann“, der auch in Umfragen meist vorn liegt. Aber das hilft dem Bedürfnis des Menschen nach Freiheit nicht wirklich.
Selbst Kleinkindern wird jetzt ein Coronatest in den Kindergärten abverlangt, in den Schulen herrscht meist Maskenpflicht. Was macht das aus psychiatrischer Sicht mit den Kindern, wenn sie in ihrer Umgebung eine „kollektive Psychose“ erleben?
Kindern tut es nicht gut, wenn sie Opfer von angsterfüllten Zwangsritualen von Erwachsenen werden.
Ist dann aber nicht eine Impfpflicht die Lösung? Oder verstätigt sich damit nur das Angstnarrativ?
Die Impfpflicht ist die logische Folge von der zwanghaften Sehnsucht nach (Schein)-Sicherheit. Menschen zu einem Medikament mit ausgesprochen unsicherem und teilweise unbekanntem Nebenwirkungsprofil zu zwingen (da sind wir wieder beim Zwang), halte ich für eine ausgesprochen schlechte Idee. Noch dazu, weil jedes Zwangsritual sich immer – und mit steigender Frequenz – wiederholen muss. Genau das können wir ja jetzt schon beobachten.
Was schlagen Sie vor, wenn man keine absolute Sicherheit erlangen kann?
Es muss darum gehen, trotz der Restriktionen, wie sie nun einmal sind, ein möglichst normales Leben zu führen. Wenn man sich die ganze Zeit mit Corona beschäftigt, darf man sich nicht wundern, wenn das aufs Gemüt schlägt. Ich erlebe Patienten, die vier bis fünf Stunden täglich alle Nachrichten über Corona aufsaugen oder sich auf Internetseiten rumtreiben, die alle denkbaren alternativen Theorien verbreiten. Denen sage ich: Informiert euch einmal am Tag, aber dann geht raus und lebt, verbringt Zeit mit der Familie und mit Freunden! Und vor allem: Geht raus in die Natur, in den Wald zum Beispiel, das ist ein besonders geeignter Ort, um sich wieder zu erden. Geht euren Hobbys nach, lest gute Bücher und beschäftigt euch nicht ständig mit Bedrohungen, gegen die ihr nichts Konkretes unternehmen könnt! Was unsere Resilienz fördert, ist das Große, das Wahre, Gute und Schöne! Wir sollten uns auch mehr mit unserem eigenen Leben beschäftigen als mit Corona.
Raphael Bonelli leitet den online Kongress „Die Nadel ruft. Game-Changer Corona-Impfung?“
Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.