Tichys Einblick
Interview Peter Gauweiler

„Die EU will die demokratischen Verfassungen ihrer Mitgliedsstaaten aushebeln“

Der Anwalt und frühere CSU-Politiker Peter Gauweiler über den Versuch der Institutionen in Brüssel, einen Zentralstaat zu schaffen – und warum der Versuch trotzdem scheitern wird.

picture alliance/dpa | Uli Deck

Mit seiner Klage gegen das Anleihenkauf-Programm der EZB vor dem Bundesverfassungsgericht löste Peter Gauweiler 2020 ein politisches und juristisches Beben aus: Das Gericht gab ihm Recht und forderte von der Zentralbank zumindest eine Erläuterung ihrer Geldpolitik. Für die EU-Kommission war das schon zu viel. Sie überzog die Bundesrepublik mit einem Vertragsverletzungsverfahren. Das Ziel der Strafaktion besteht darin, das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof zu unterwerfen und die Bundesrepublik faktisch zu einem EU-Bundesstaat zu machen. Ein ganz ähnlicher Konflikt brach letzte Woche zwischen Polen und der EU auf: Dort entschied das Verfassungsgericht, Teile des EU-Rechts seien nicht mit nationalem Recht vereinbar. Im Konflikt, so die Richter, stehe das Recht aus Brüssel nicht über dem polnischen. Obwohl Deutschland grundsätzlich im gleichen Konflikt wie Polen steht, schlugen sich fast alle deutschen Medien auf die Seite der EU-Kommission.

Gauweiler sieht in dem EU-Vorgehen das Fernziel, Brüssel zur „ultimativ letzten Instanz des Kontinents“ zu machen, „einer Art heiligem Stuhl im Weltlichen“. Und er erklärt im Gespräch mit TE auch, warum trotzdem jeder Versuch scheitern muss, Europa in die Form eines Zentralstaats zu pressen.

TE: Herr Gauweiler, als Sie im Sommer 2020 vor dem Bundeverfassungsgericht ein Urteil gegen den unbegrenzten Anleihen-Kauf der Europäischen Zentralbank erzwungen hatten – haben Sie es damals für möglich gehalten, dass daraus noch ein viel größerer Rechtsstreit entstehen könnte? Denn wegen dieses Urteils aus Karlsruhe setzte die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland in Gang mit dem Ziel, wie der frühere Verfassungsgerichtspräsident Andreas Vosskuhle glaubt, den europäischen Zentralstaat auf kaltem Weg zu erzwingen. Wie auch immer diese Auseinandersetzung ausgeht, Sie haben Rechtsgeschichte geschrieben.

Peter Gauweiler: Das Urteil selbst ist mittlerweile Rechtsgeschichte als erste Ultra-vires-Entscheidung. Also die Feststellung, dass ein bestimmtes Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Deutschland nicht angewendet werden darf, weil es gegen das Grundgesetz verstößt. Was das deshalb von der EU-Kommission eingeleitete sogenannte „Vertragsverletzungsverfahren“ angeht: Mich hat überrascht, dass sich die EU eine so klare Intervention von oben ohne vielfache Absicherung traute. Aber am Ende wird dieser Streit nicht politisch ausgetragen werden, sondern in der wechselseitigen Beteuerung von Missverständnissen versandeln.

Welche Position wollen die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof gegenüber Deutschland eigentlich durchsetzen?

Dass die EU die demokratischen Verfassungen ihrer Mitgliedsstaaten zur Gänze aushebeln kann, dass sie als Instanz über dem Volkswillen der Mitgliedsstaaten steht und dass sie die ultimativ letzte Instanz des Kontinents wird, eine Art heiliger Stuhl im Weltlichen, wie im Mittelalter vor der Reformation.
Das sieht man juristisch auch an einem leider überhaupt nicht beachteten ganz anderen Umstand. Im Jahr 2007 war im Lissabon-Vertrag noch vereinbart worden, dass die Europäische Union in ihrer Gesamtheit der Europäischen Menschenrechtskonvention beitritt und sich als Institution in ihrer Gesamtheit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte unterwirft. Dieser Beitritt wird bis heute EU-intern nicht ratifiziert. Warum? Weil ein EU-internes „Gutachten“ angeblich belegt, dass der Europäische Gerichtshof in Luxemburg seine Urteile nicht durch den dann übergeordneten Europäischen Menschenrechts-gerichtshof in Straßburg überprüfen lassen darf. Das aktuelle Vertragsverletzungsverfahren der Kommission ist ein Feldzeichen dieses Absolutheitsanspruchs.

Nun geht ja die Bundesregierung davon aus, dass der Konflikt über den Anleihenkauf, um den es vor dem Bundesverfassungsgericht ging, mittlerweile durch Erklärungen der EZB beigelegt ist. Sehen Sie das auch so?

Das, was das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 5. Mai 2020 in Sachen Anleihenkauf verlangt hat, war ja nicht spektakulär. Spektakulär war, dass vom deutschen Verfassungsgericht ein bereits ergangenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs als nicht mehr nachvollziehbar und objektiv willkürlich bezeichnet wurde. Inhaltlich gefordert hatte das BVerfG lediglich, dass die Bundesregierung darauf drängen müsse angesichts der Riesensummen, die im Spiel sind, bestimmte Abwägungsprozesse vom Rat der Europäischen Zentralbank durchführen zu lassen, die mit den währungspolitischen Zielen in Beziehung zu setzen und zu dokumentieren wären.

Diese Abwägung soll die Auswirkungen des Ankaufprogramms auf Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise, das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen beinhalten. Das ist angesichts der Riesensummen, um die es geht, ja nicht gerade viel verlangt. „Abwägen“ gehörte für jede nicht willkürlich handelnde Körperschaft eigentlich zum Tagesgeschäft. Mittlerweile gibt es eine Erklärung des EZB-Rats an die Bundesregierung, dass diese Aufgabe nunmehr erledigt sei. Ich als Kläger halte diese EZB-Erklärung für provokativ-unpräzise und inhaltlich viel zu unklar und unverständlich, als dass man darin eine korrekte Erledigung der höchstrichterlichen Vorgabe aus Deutschland sehen könnte.

Die Bundesregierung scheint das anders zu sehen.

Die Bundesregierung verlässt sich auf das Wort der EZB und der Frau Lagarde und sagt: Jetzt lasst es aber genug sein. Große Teile der demokratischen Öffentlichkeit halten das für Leichtsinn, weil uns allen Lagardes programmatischer Satz als französische Finanzministerin in den Knochen steckt, sie habe alle juristischen Regeln, die es zu brechen gab, auch tatsächlich gebrochen, um den Euro zu retten. Was wiegt also die mündliche Versicherung dieser Frau?

Was will die EU-Kommission mit ihrem Vertragsverletzungsverfahren konkret erreichen?

Andere Länder einschüchtern und Stimmung machen, vor allem das deutsche Verfassungsrecht außer Kraft setzen, wonach über die Auslegung des Grundgesetzes in letzter Instanz das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Nicht mehr und nicht weniger: das demokratische System der Grundgesetze unter die EU-Prämisse zu stellen und als erstes die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die in Deutschland Gesetzeskraft haben, zu zerbröseln. Mit diesem Angriff auf die Kompetenz-Kompetenz werden die Geschäftsgrundlage des gesamten EU-Vertragswerks und seine Architektur auf den Kopf gestellt.

Und auch die Geschäftsgrundlage der Bundesrepublik Deutschland.

Der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat das Vorgehen der EU-Kommission in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen Zeitung als “Aufforderung zum Staatsstreich” bezeichnet. So kann man es nennen.

Keine Bundesregierung und keine Parlamentsmehrheit könnte die zentralen Bestandteile der Verfassung ändern. Das verhindert schon die Ewigkeitsklausel für den Artikel 20. Der Konflikt bleibt also bestehen.

Klar bleibt er bestehen.

Nun gibt es ja die Möglichkeit, dass sich zwar der Wortlaut einer Verfassung in den entscheidenden Punkten nicht ändert, der Charakter eines Staates aber schleichend doch.

So ist es! Die Bundesrepublik beispielsweise war einst als Bund deutscher Länder gegründet. Seit der Wiedervereinigung gibt sie sich selbst mehr und mehr als Zentralstaat. Aktuell – in der Corona-Pandemie – wurde verlangt, das föderalistische System vollständig auszuhebeln: die deutschen Länder nur noch als Verwaltungsstellen von Berlin.

Könnte das auch die Entwicklung in der EU sein: auf dem Weg zum Erdteilsstaat „Europa“, auf Schleichwegen, an den viel freiheitlicheren Verfassungen der Mitgliedsländer vorbei?

Es gehört zur physikalisch-politischen DNA zentralistischer Systeme, sich auszudehnen, um ihre Kompetenz ständig erweitern zu können. Und warum sollte das in Brüssel anders sein als in der Bundesrepublik Deutschland? Schauen Sie nur auf die weitere Machtanmaßung Berlins im Verhältnis zu den deutschen Ländern, die früher undenkbar war. In der Kulturpolitik hätte der Bund nach dem Grundgesetz überhaupt keine Zuständigkeiten. Ich habe mich gefreut, dass gerade der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann sagte, das sogenannte Bundesbildungsministerium könnte man eigentlich abschaffen, es steht für nichts da in der Landschaft. Er hat völlig recht damit.

Er sagte in diesem Zusammenhang, Baden-Württemberg habe ja auch kein Außenministerium.

Ja, völlig richtig. Andererseits wäre es um die deutsche Außenpolitik besser bestellt, läge sie in den Händen der deutschen Länder.

Und wie sehen Sie nun die Gefahr, dass ein EU-Zentralstaat auf leisen Sohlen kommt?

Letztendlich wird er nicht kommen!

Was lässt Sie da halbwegs optimistisch sein? Immerhin sind die Verantwortlichen der EU auf diesem Weg schon weit gekommen – obwohl es nirgends in den EU-Staaten eine Sympathie der Bevölkerung für einen Zentralstaat gibt.

Wie gesagt, die zentralistische Tendenz gibt es überall und immer. Aber gerade in Europa gibt es doch auch starke gegenläufige Tendenzen aus allen politischen Himmelsrichtungen, die Dezentralität als Wert sieht. Nach der Wende war es der bayerische Ministerpräsident Max Streibl, der als erster von einem Europa der Regionen sprach. Heute fordert selbst die Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament in ihrem Programm “progressiven Regionalismus”. In dieser grünen Fraktion im Europäischen Parlament repräsentieren die Scottish National Party ebenso wie die baskischen Unabhängigkeits-Vertreter regionales Bewusstsein. Das muss also nicht immer „rechts“ sein. In beiden Fällen handelt es sich um linke Bewegungen. Andererseits werden Ungarn oder Polen demonstrativ rechts „verortet“, wenn sie dem Zentralismus die Stirn bieten. Ich halte dieses regionalistische Gegengewicht auf beiden Seiten des demokratischen Spektrums für erfreulich: Es ist egal, ob die Katze schwarz ist oder grau. Hauptsache, sie frisst Mäuse.

Auf der anderen Seite gibt es eine sehr starke andere politische Richtung, die Europa immer mehr vereinheitlichen will – von der Wirtschaftslenkung, Stichwort “Green Deal” bis zur Geldumverteilung mit einem “Europäischen Währungsfonds”. Und wenn man sich auch die Vorgehen gegen Polen und Ungarn anschaut, scheint es so, als wäre es diesen Leuten recht, wenn sie aus der EU ausscheiden. Dann gäbe es noch mehr Homogenität.

Ja, auch die Engländer haben wir aus der EU faktisch hinausgeekelt. Es gab da eine unangenehmeTendenz zu immer mehr Intoleranz in Brüssel, zwanghaft alles und alle EU-Mitglieder gleich zu bürsten. Erlaubnis zum politischen Denken nur von der Zentrale aus. So wurde das europäische System politisch halbseitig gelähmt. Nur an die EU-Wahrheiten gebunden. Das ist ein Unglück. Wir alle sehen doch in unserem politischen Leben in der Rückschau das Leben als Versuch eines Lernprozesses, Einseitigkeiten zu überwinden. Ich auch. So wurde mein „europäisches“ Modell ein Europa mit der Struktur eines Confoederatio Helvetica: Europa als die Schweiz der Welt – wo die Macht bei den Gemeinden und Kantonen liegt. Das passt im Vergleich schon von der Größe her viel besser zu Europa. 500 Millionen EU-Europäer fielen für ein Parlament der Weltbevölkerung von demnächst 10 Milliarden bald unter die Fünf-Prozent-Klausel. „Größe“ ist für Europa also nicht der entscheidende Trumpf, sondern Qualität. Und die Qualität setzt etwas voraus, was man neudeutsch „Diversität“ nennt. Eine solche Vielfalt in Kultur und Ansichten gedeiht auf diesem Kontinent nicht unter einem stahlharten Gehäuse über dem ganzen Erdteil, das wusste schon Max Weber. Zum Glück finden sich immer mehr Leute, denen es wie Schuppen von den Augen fällt, dass es so, mit immer mehr EU nicht geht.

Aber gerade unter den politischen Eliten in Deutschland gilt der EU-Zentralstaat ausdrücklich als Wunschbild. Die deutschen Grünen wollen möglichst viel nach Brüssel delegieren. Im Wahlkampf 2017 verkündete der damalige SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sogar den europäischen Staat als Ziel.

Von Martin Schulz – damals noch in seiner Funktion als Europapolitiker – stammt andererseits der schöne Satz, der eigentlich schon ein Geständnis ist: “Die EU hätte angesichts ihrer undemokratischen Struktur niemals die Chance, der EU beizutreten.“ Das beste Beispiel für diese These war sein eigenes Europa-Parlament, dem alle essentiellen Eigenschaften eines demokratischen Parlaments fehlen: keine gleichen Stimmengewichte, kein Haushaltsrecht, keine Entscheidungsmacht über eine Regierung.

Ihre Argumente teilen nicht wenige von rechts bis links, darauf haben Sie schon hingewiesen. Trotzdem befinden sich diejenigen, die das Modell Schweiz für Europa sympathisch finden, in der Defensive gegen die Verfechter des EU-Staats mit technokratischer Lenkung. Was macht Sie so optimistisch, dass Letztere sich nicht durchsetzen?

Es kommt immer anders, als man denkt. Denken Sie nur an den Zusammenbruch des Kommunismus in Europa. Alle glaubten Erich Honecker, dass die Mauer noch in 100 Jahren stehen würde. Gerade im bürgerlichen Lager. Und was die Zukunft Brüssels und seiner EU-Paläste angeht: Alle Versuche, Europa von oben eine Zwangsjacke anzulegen, waren geschichtlich zum Scheitern verurteilt.

Ein Argument gegen die Idee von Europa als Schweiz der Welt lautet: Nur als möglichst zentral gesteuerte Einheit, als Imperium kann sich die EU im 21. Jahrhundert gegen Großmächte wie China und Russland behaupten, wirtschaftlich wie militärisch. Dieser Rhetorik folgen nicht wenige, gerade in den bürgerlichen Parteien.

Das halte ich für eine größere Gefahr als die totalitären Aspekte der Klimabewegung, wenn wir jetzt in einen neuen Groß-Konflikt hineingeredet werden: mit China, mit Russland, mit zahllosen anderen Ländern. Die Nato-Kriege weltweit für unsere Werte – da steht ein neues „der Zweck heiligt alle Mittel“ wieder auf. Bombe für den Frieden. Da sehe ich die eigentliche Gefahr, mit der wir es aktuell wirklich zu tun haben, 107 Jahre nach Sarajevo. Mich regt nicht mehr so viel auf. Aber wenn mich noch etwas aufregt, dann ist es die Schlafmützigkeit, mit der die Mitglieder des Bundestags den Verfassungsbruch hingenommen haben, die Bundeswehr außerhalb ihrer im Grundgesetz definierten Verteidigungsaufgabe immer mehr in militärische Auseinandersetzungen entsenden zu dürfen. Das Debakel in Afghanistan ist ja im Bundestag nur unter dem Gesichtspunkt der Fluchthilfe aufgearbeitet worden. Parteien und meinungsbildende Medien halten sich wechselseitig die Binde vor die Augen, egal, ob sie mehr konservativ, mehr links oder linksliberal sind.

Wie sollte sich Deutschland in dieser Debatte verhalten? Beispielsweise, wenn die USA auf einen Konflikt mit China zusteuert? Die Bundesmarine hat kürzlich ein Schiff in den Pazifik geschickt.

Warum wohl haben die Bundesrepublik Deutschland und das Kaiserreich Japan nach dem Krieg in ihre Verfassungen geschrieben: Außer der unmittelbaren Selbstverteidigung beteiligen wir uns nicht auch an noch so gerechtfertigten militärischen Vorgängen? Diejenigen in beiden Ländern, die diese Selbstbeschränkung aufgeben wollen, sind historische Dummköpfe.

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