Tichys Einblick
INTERVIEW

„Das ukrainische Volk wird nicht vergessen, welche Länder uns im entscheidenden Moment im Stich ließen“

Die Menschenrechtsanwältin Oleksandra Matviichuk befindet sich zur Stunde in Kiew. Im Gespräch mit TE schildert sie die dramatische Lage vor Ort. Zur deutschen Haltung in der Frage hat sie eine klare Meinung.

Collage mit IMAGO / Ukrinform & Screenshot Twitter

Oleksandra Matviichuk ist eine ukrainische Menschenrechtsanwältin. Sie ist Vorsitzende des Center for Civil Liberties und gründete die Organisation Euromadian SOS, mit der sie sich für politische Gefangene auf der Krim, im besetzten Donbas und Russland einsetzt. Sie erhielt für ihre Arbeit zahlreiche Preise unter anderem den Democracy Defender Award der OSZE. Zur Stunde befindet sich im umkämpften Kiew, wo TE sie telefonisch erreichte. 

Wir erreichen Sie gerade in Kiew – wie ist die Lage vor Ort? Wir hoffen, Sie sind den Umständen entsprechend sicher!

Auf den Straßen wird gekämpft, wirklich sicher können Sie also nicht sein – aber den Umständen entsprechend geht es mir gut.
Einige russsiche Kommandos sind bereits auf den Straßen, im Norden. Sie versuchen gezielt vorzugehen, wahrscheinlich etwa um Politiker oder Offiziere zu töten und die ukrainische Organisation zu sabotieren. Aber die Stadt und die wichtigen strategischen Punkte sind weiter voll unter ukrainischer Kontrolle.
 Die Menschen verhalten sich sehr unterschiedlich. Es gibt zwei Gruppen: Eine Menge Leute, versuchen, ihr Bestes zu tun, um diesen Krieg zu gewinnen. Viele haben sich zusammengeschlossen, um etwas zur Verteidigung beizutragen. Einige Leute schließen sich den Initiativen an, die die Menschen medizinisch versorgen. Manche Leute kümmern sich um die Logistik, manche arbeiten daran, Informationen zu beschaffen. Jeder versucht herauszufinden, was er tun kann, um zu helfen. Die andere Gruppe sind Menschen, die vorallem Angst haben und versuchen sich selbst jetzt in Sicherheit zu bringen. Gerade natürlich Familien mit kleinen Kindern – sie versuchen die Stadt zu verlassen.

Wir sehen die Bilder von russischen Raketen, die in der Stadt explodieren. Wie groß ist die Gefahr hier? Müssen Sie sich permanent in Bunker begeben?

Das Leid der Zivilbevölkerung ist riesig. EIne Freundin vor mir lebt in dem Wohngebäude, das heute morgen von einer russischen Rakete getroffen wurde. Sie und ihre Familie waren in dem Haus, in diesem Moment. Es ist ein Wunder, dass sie da lebend rausgekommen sind. Es sind neun Leute, sie haben jetzt keine Wohnungen mehr, sie haben gar nichts mehr.

Ich kann mich derzeit nicht in mein Haus begeben, aus verschiedenen Gründen. Der erste Grund ist, dass ich im Zentrum lebe und es hier permanent Einschläge oder Schüsse gibt, dann müsste ich den ganzen Tag im Bunker verbringen. Dann könnte ich meine Arbeit nicht fortsetzen. Also bin ich ein anderen Teil von Kiew gegangen, wo es ein bisschen ruhiger ist. Außerdem arbeiten russische Sabotagegruppen in Kiew, ihr Hauptziel sind wohl Politiker, aber wir wissen nicht, wen sie noch alles jagen.

Wir haben eine Initiative gegründet nach den Maidan-Protesten, um den Gefangenen in Russland rechtliche und andere Hilfe zu leisten. Jetzt haben wir unsere Netzwerke reaktiviert. Wir arbeiten an Informationsbeschaffung und Koordination von Hilfe.

Können Sie uns einen Überblick über die humanitäre Situation in Kiew geben? Wie sieht die Versorgung mit Lebensmitteln, Strom etc. aus?

In Kiew ist die Versorgungslage zur Stunde relativ stabil, die Menschen helfen sich gegenseitig. Schwierig ist es natürlich vor allem für Familien mit kleinen Kindern.
Große Probleme gibt es vor allem durch Flüchtlinge aus dem Osten des Landes, die im Zuge des Krieges ihre Häuser verloren haben oder sie verlassen. Da gibt es riesige Trecks, aber ihnen geht der Treibstoff aus und die Tankstellen sind leer und teilweise haben sie auch Probleme mit dem Essen. Sie sind teils auch in sehr schlechter körperlicher Verfassung.
 Da gibt es große Verzweiflung. Sie sehen Familien, die auf den Feldern große Feuer anzünden, um sich warm zu halten.

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung: Geht man davon aus, dass Kiew bald fallen wird?

Ich habe von Regierungen aus dem Ausland gehört, die davon reden, Kiew würde binnen der nächsten Stunden fallen. Manche erwarten von uns oder hoffen offenbar heimlich, dass wir aufgeben und die Waffen strecken oder sie drängen darauf, dass unsere Regierung evakuiert wird. Bitte: Drängen Sie uns nicht, uns zu ergeben. Helfen Sie uns, unsere Nation zu verteidigen! Wir werden unser Bestes tun, um diese Schlacht zu gewinnen.
Wir kämpfen nicht nur für unser Land und für unsere Freiheit, sondern für alle freien Nationen des Westens, wir kämpfen für die Werte der freien Welt. Stehen Sie zu uns!

Wie sehr war Kiew auf diesen Angriff vorbereitet? Wurden Sie genauso überrascht, wie der Westen es offensichtlich wurde?

Für mich war es eine Überraschung, aber ich gehe davon aus, dass unsere Regierung einige Anstrengungen unternommen und sich vorbereitet hat. Die Versorgung funktioniert jedenfalls und das System ist intakt.
Man konnte ahnen, dass Russland früher oder später wieder zuschlägt, die Frage war nur, wie stark dieser Angriff ausfallen würde. Vor acht Jahren erkämpfte die Ukraine sich die Möglichkeit, eine Demokratie zu werden. Und um uns daran zu hindern, besetzte Russland die Krim, um die Tür zu schließen. Die Freiheit hier strahlt auch nach Russland ab. Wenn ich Kollegen von russischen Menschenrechtsorganisationen getroffen habe, sagten sie mir immer: Wenn Sie uns helfen wollen, seien Sie bitte erfolgreich!

In Deutschland finden Politiker, wir sollten jetzt keine Waffen liefern, da diese am Ende sowieso an Russland fallen würden. Sie denken, der Kampf ist längst verloren. Deutschland schickt jetzt 5.000 Helme, die Stadt Wien liefert FFP2-Masken. Wie wird das in der Ukraine gesehen?

Ich denke, dass wir jetzt alle im selben Boot sitzen. Das ist kein Kampf zwischen Russland und der Ukraine, das ist ein zivilisatorischer Kampf, es geht um die Frage ob die Demokratie in Osteuropa Bestand haben kann, oder ob sie Autokraten wieder rauben können. Länder wie Deutschland müssen ihre Komfortzone verlassen und endlich wirklich handeln.

Aber ich möchte ehrlich zu Ihnen sein: Wir werden niemals vergessen, wer uns in dieser schweren Zeit wirklich hilft. Aber: Das ukrainische Volk wird auch nicht vergessen, welche Länder uns im entscheidenden Moment im Stich ließen.

Was könnte Deutschland denn tun?

Wir wollen, dass Russland schnell vom SWIFT-Zahlungssystem ausgeschlossen wird, wir wollen Flugverbotszonen, das würde Russland wirklich treffen. Und wir brauchen Ausrüstung.

An die Menschen in Deutschland möchte ich noch eines sagen: Einfache Menschen können mehr bewegen, als sie glauben. Jeder Stimme zählt jetzt.

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